Heimkehr

Ich hatte die Nase voll. Inzwischen hielt der Computer höchstens noch ein paar Tage durch, bevor er streikte und ich mich wieder um ihn kümmern musste. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Jedes Mal, wenn der Rechner verrückt spielte, wirkte sich das auf die Temperaturkontrolle der Umwälzanlage aus. Diesmal war es besonders schlimm – die Temperatur hatte fast 30° C erreicht.
Mürrisch startete ich den Computer neu und betrachtete desinteressiert die Anzeigen auf dem Bildschirm. Es war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Wie es schien, würde ein einfacher Neustart überraschenderweise die Probleme lösen. Sonst kostete es mich oft Stunden, dieses Ding wieder in die Spur zu bringen.
Sowie die Systeme nach und nach wieder online waren, erhielt ich auch Zugriff auf die Steuerung der Umweltparameter. Ich regelte die Temperatur zurück auf angenehme 20° C und blieb in meinem Sessel sitzen, bis es spürbar kühler wurde. Ich hatte schließlich auch nichts Besseres zu tun.
Einige Zeit später blickte ich mich um. Die Zentrale glich einer Müllhalde. Und ehrlich? Ich verspürte auch kein Verlangen, daran etwas zu ändern. Was spielte es noch für eine Rolle?
Wenn ich an den Enthusiasmus dachte, mit dem wir vor ein paar Jahren gestartet waren. Ich brachte meinen Kontursessel in eine bequeme Liegeposition und begann zu dösen. Das machte ich in letzter Zeit immer häufiger und dabei tauchten meine Gedanken oft in die Vergangenheit, als diese ganze Misere begann.
Mir waren die endlosen Diskussionen noch gut in Erinnerung, ob es intelligentes Leben in den Weiten des Alls geben würde. Jeder hatte dazu seine besondere, eigene Meinung. Das alles war vorbei, als die großen Radioteleskope in den Anden und auch das Very large Array in New Mexico plötzlich Signale aufgefangen hatten, die nur als Antwort auf die zahllosen Sendungen zu interpretieren waren, die man von der Erde ins All abgestrahlt hatte.


Die Wissenschaft der ganzen Welt war aus dem Häuschen und Gelder für die Weiterentwicklung von Radioteleskopen waren mit einem Mal kein Thema mehr.
Trotz intensivster Bemühungen gelang es zwar nicht, den Inhalt der Sendungen zu entschlüsseln, doch stand fest, dass sie nur von intelligentem Leben erzeugt worden sein konnten. Ein internationales Konsortium setzte schließlich durch, eine Expedition auszustatten, um nachzuschauen, wer der Menschheit eine Antwort auf ihre Sendungen geschickt hatte. Als Quelle der Sendungen, die ich selbst jetzt noch empfangen konnte, hatte man den Stern Proxima Centauri identifiziert, den uns am nächsten gelegenen Stern.
Das war zwar unvorstellbar weit weg, aber hey ... galaktisch gesehen war das die unmittelbare Nachbarschaft.
Irgendjemand war dort draußen und wollte Kontakt zu uns aufnehmen. Trotzdem war es eine schwierige Mission, denn zwischen der Erde und dem Ziel lagen über vier Lichtjahre. Wer war schon bereit, Jahre seines Lebens zu opfern, nur um außerirdische Lebensformen zu treffen, deren Beschaffenheit nicht einmal bekannt war?
Es kam dem Konsortium entgegen, dass die Wissenschaft einen weiteren Schritt in der Entwicklung gemacht und einen atomaren Antrieb entwickelt hatte, der Aussicht versprach, ein Raumschiff bis nahe an die Lichtgeschwindigkeit beschleunigen zu können. Das Problem war die Brennstoffversorgung, denn ein Raumschiff, das bis an die Geschwindigkeit des Lichts beschleunigt werden sollte, unterlag damit in verstärktem Maße relativistischen Problemen. Einstein hatte mathematisch bewiesen, dass ein Schiff zum Erreichen der Lichtgeschwindigkeit seine gesamte Masse aufwenden müsse – immer unter der Annahme, die Materie würde vollständig in Energie umgesetzt. Genau das kam natürlich überhaupt nicht infrage – schließlich wollten Raumfahrer nicht ihr Schiff und sich selbst in Energie umwandeln. Es schien erst, dass sich dieses Problem nicht lösen lassen würde, doch dann hatte der Physiker und Astronom Rudyard Allan Falkner seine Theorie veröffentlicht, wonach das Weltall möglicherweise nicht so leer war, wie man immer angenommen hatte. Er stellte ein Modell vor, wonach die Dichte des Raumes außerhalb des solaren Kuiper-Gürtels erheblich höher sein könnte, als vermutet.
Der Kuiper-Gürtel umgibt das gesamte Sonnensystem jenseits der Bahnen seiner äußeren Planeten wie ein weiträumiger Ring. Dieser Ring enthält Materiefragmente, bis hin zur Größe von Kleinplaneten. Würde man sich diese Materie zunutze machen und sie dem Konverter zuführen, der den Antrieb versorgt, wäre das vergleichbar mit einer Luftbetankung bei einem irdischen Flugzeug. Ein Teil des Problems wäre gelöst. Doch leider nur ein Teil, denn der Kuiper-Gürtel ist nicht breit genug, um bis zum Ende seiner äußeren Bereiche die Lichtgeschwindigkeit zu erreichen. Es brauchte weitere Materie für eine längere Zeit.
An dieser Stelle kam Falkner mit seiner Theorie ins Spiel. Nach Auswertung von schwachen Signalen der frühen Voyager-Sonden existierte in der so genannten Oortschen Wolke – einer Sphäre, die das Sonnensystem wie eine Kugelschale umgibt, und die bis zu zwei Lichtjahre ins All hinausreicht, ebenfalls feine Materie in geringer Dichte. Falkner postulierte das Vorhandensein solcher Wolken als Merkmal jedes Sternensystems. Das hätte zur Folge, dass ein Raumschiff im Grunde während der gesamten Reise mit zusätzlicher Materie für den Antrieb versorgt werden könnte. Das Erreichen der Lichtgeschwindigkeit wäre möglich, wie auch ein Abbremsen vor dem Ziel.
Er meinte, dass es bei steigender Geschwindigkeit eines Raumschiffes dieses »Einsammeln« von Materie immer besser funktionieren müsse. Falkner wurde zunächst von der Fachwelt verlacht, doch ein paar Jahre später entwickelten die führenden Raumfahrtstaaten einen Antrieb, der exakt die geforderten Eigenschaften besaß. Eine Reise nach proximal Centauri wurde damit vorstellbar.
Fünfzehn Jahre später war es soweit: Das erste interstellare Raumschiff der Erde – die MILESTONE – war fertiggestellt. Eine Crew von zwanzig freiwilligen Männern und Frauen ging an Bord und machte sich auf den langen Weg nach Proxima Centauri. Einer von ihnen war ich.
Ein kurzes Signal schreckte mich aus meinen Gedanken. Diesmal war es die Energieversorgung der hydroponischen Anlage. Allmählich gab ein System nach dem Anderen seinen Geist auf. Die MILESTONE war am Ende, das wusste ich genau, aber solange ich noch in der Lage war, meinen Job zu machen, würde ich versuchen, jeden Schaden zu beheben. Ich wollte nicht ausgerechnet jetzt noch aufgeben – so kurz vor dem Ziel. Wenn meine Berechnungen stimmten, würde die MILESTONE in höchstens einem Monat den Rand des heimatlichen Sonnensystems erreichen. Sicher, ich wäre dann lange noch nicht zu Hause, doch theoretisch wäre ich nicht mehr im Leerraum zwischen den Sternen. Es wäre zumindest ein Hauch von Heimat.
Die hydroponischen Anlagen waren eines der wichtigsten Systeme der MILESTONE, denn sie sorgten für die Aufbereitung der Atemluft und bescherten mir das eine oder andere frische Gemüse. Die Aussicht darauf, dass ein Ausfall der Quarzlampen den empfindlichen Pflanzen schaden könnte, trieb mich zur Eile an. Ich rannte durch scheinbar endlose leere Gänge, in denen meine Füße Abdrücke im Schmutz hinterließen, der überall zu finden war. Das ist nicht immer so gewesen. Beim Start der MILESTONE, damals vor elf Jahren, war alles blitzblank und sauber. Es hatte kleine automatische Reinigungsmaschinen gegeben, die ständig herumwuselten und dem Schmutz keine Chance gaben. Zudem hatte sich die Crew während der langen und langweiligen Reise zum Proxima Centauri darum gekümmert, alles in Ordnung zu halten. Schließlich war die MILESTONE unser Zuhause für die folgenden Jahre und wir hatten eine Beschäftigung gebraucht.
In der ersten Zeit ist es noch interessant gewesen. Wir hatten Kontakt zur Erde, wenn auch das Antwortzeitverhalten mit zunehmender Entfernung immer schlechter wurde. Dann war die Verbindung zur Erde endgültig abgebrochen. Wir hatten damit gerechnet und uns darauf eingestellt. Mit Feuereifer hatten wir uns auf die Forschung gestürzt, denn noch nie hatte ein bemanntes Raumschiff das heimatliche Sonnensystem verlassen. Alles, was wir über die Struktur des Raumes weit draußen, jenseits des Kuiper-Gürtels wussten, stammte von uralten Sonden, die längst ihre Arbeit hätten einstellen müssen. Bald hatten wir alles erfasst, was es zu erforschen gab. Die Dichte des sogenannten Leerraumes hatte allmählich zugenommen und so testeten wir die größte Neuerung unseres Schiffes: den Materieschirm. Er war kein Schirm im wörtlichen Sinne, denn er tat das exakte Gegenteil von einem Regenschirm auf der Erde. Es handelte sich um einen spezielle Konstruktion, die vor der MILESTONE wie ein riesiger, umgekehrter Schirm entfaltet wurde. Voll ausgefahren sah es so aus, als würde ein umgekehrter Regenschirm ohne Bespannung durchs All fliegen. Die Schirmkonstruktion wurde elektrisch aufgeladen, um ein dichtes Magnetfeld zu erzeugen. Mit zunehmender Geschwindigkeit der MILESTONE fing dieser Schirm immer mehr von der frei im All umherfliegenden Materie ein und führte sie dem Reaktor zu, der sie in seinem Konverter zu Energie verarbeitete. Bei der Materie handelte es sich um kleinste Teilchen, oft nur im molekularen, oder sogar atomaren Bereich, die durch das Magnetfeld so abgelenkt werden konnten, dass sie im Reaktor genutzt werden konnten.
Die Pflege dieses Systems ist meine Aufgabe gewesen, doch im Laufe der Zeit hat es sich ergeben, dass ich zu einem Mädchen für alles geworden bin. Ich möchte behaupten, dass niemand die MILESTONE so gut kannte – und noch kennt - wie ich.
Nahe der hydroponischen Abteilung war die Luft definitiv besser als im Rest des Schiffes. Ich vermutete, dass auch die Luftverteilung wieder eine Überholung nötig hatte. Den Einstieg in die Anlage bildete ein großes, rundes Schott, das mit einem großen Handrad entriegelt werden musste. Ich drehte an dem Rad und zog die schwere Tür auf. Im Innern des Raumes war es stockfinster, was ich allerdings erwartet hatte. Also ließ ich die Tür wieder zufallen und griff nach meiner Taschenlampe, die ich stets an meinem Gürtel trug. Ein Versorgungsschacht mündete wenige Meter vom Einstieg entfernt. In ihn führten einige dicke Kabelstränge hinein und verschwanden im Dunkeln. Ich leuchtete in den Schacht hinein und war überrascht, dass mittlerweile selbst hier Moos an den Wänden und auf dem Boden zu finden war. Es gab hier kaum jemals Licht. Ich wusste, dass am Ende dieses Schachts ein Schaltschrank zu finden war, der die Sicherungen für die gesamte Hydroponik enthielt. Ich biss die Zähne zusammen und kletterte hinein. Die Stufen der Leiter waren feucht und schlüpfrig. Ich mochte diesen Ort nicht, seit ich einmal von der Leiter gestürzt war und mir den Unterarm gebrochen hatte. Man mag es eigenartig finden, in einem Raumschiff eine Leiter hinunterzustürzen, denn man denkt unwillkürlich an Schwerelosigkeit. Doch die MILESTONE beschleunigte oder verzögerte fast ständig - andernfalls hätte die Reise ewig gedauert. Dadurch hatten wir jedenfalls immer eine gewisse Schwerkraft im Schiff.
Damals war Indira noch da gewesen und hatte mir den Arm geschient. Ich seufzte. Indira war die Ärztin an Bord der MILESTONE gewesen.
Ich hangelte mich bis zu dem, inzwischen von Flechten überzogenen, Schaltschrank und entfernte die Flechten an der Klappe vor den Sicherungen. Ich vergewisserte mich, dass es wirklich die Sicherungen waren, die wieder einmal durchgebrannt waren, und schaute in den kleinen Kasten mit den Ersatzsicherungen, der neben mir auf dem Boden stand. Während ich die neuen Sicherungen einsetzte, zählte ich den Bestand und stellte fest, dass ich mir solche Defekte nicht mehr oft leisten durfte. Meine Vorräte an Ersatz waren fast aufgebraucht. Ich aktivierte die Schaltkreise der Reihe nach und erkannte an den aufleuchtenden Kontrolllämpchen, dass die Hydroponik wieder funktionierte. Ich schloss die Klappe und machte mich auf den Rückweg. Als ich wieder im Hauptgang war, stieß ich zischend meinen Atem aus. Ich mochte diesen Ort eben nicht.
Zur Kontrolle betrat ich die hydroponische Abteilung dann doch noch und starrte zur Decke, wo die hellen Quarzlampen wieder brannten. Ich zählte fünf Strahler, die den Stromausfall nicht überstanden hatten. Für sie würde ich keinen Ersatz mehr in den Lagern finden – das wusste ich genau. Ich hoffte, dass die restlichen Lampen für das Gedeihen der Pflanzen ausreichen würden. Ich blickte mich um. Viele der Pflanzen hatten eine Größe erreicht, die sie niemals haben sollten. Die Anlage sah regelrecht verwildert aus.
Marian, schoss es mir durch den Kopf. Marian. Es schmerzte mich noch immer, wenn ich an sie dachte. Marian war die Biologin des Teams gewesen. Sie war stets so ausgeglichen und fröhlich gewesen. Wir hatten uns gleich von Anfang an gut verstanden. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, wie ich anfangs nach Ausreden gesucht hatte, um mich in der hydroponischen Anlage aufzuhalten, wo Marian fast immer zu finden war. Anfangs hatte sie manchmal genervt gewirkt, wenn ich immer wieder dort erschienen war, doch nach einiger Zeit hatte es sie amüsiert und dann kam der Zeitpunkt, als wir ein Paar wurden. Es war die schönste Zeit in meinem Leben gewesen. Ich seufzte wieder. Es war schon so lange her.
Die Mission der MILESTONE hatte von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Bereits auf dem Weg zum Proxima Centauri hatte es ständig technische Probleme gegeben. Im Gegensatz zu den meisten Anderen der Crew hatte ich alle Hände voll zu tun gehabt. Karim, der Navigator hatte irgendwann die Vermutung geäußert, ich würde die Reparaturen absichtlich nicht ordentlich ausführen, um eine Beschäftigung zu haben. Die Anderen hatten zwar gelacht, doch etwas davon war hängengeblieben und der Neid derjenigen, die nichts zu tun hatten, war immer größer geworden.
Die Stimmung in der Crew war schlechter geworden. Wir hatten uns trotz der relativen Größe der MILESTONE nicht aus dem Weg gehen können und so hatte unser Psychologe Thomas eine Menge Arbeit, aus uns ein Team zu machen. Zu diesen Problemen war dann noch der Raum selbst hinzugekommen. Die Beschaffenheit des Raumes hatte sich bei der Annäherung an unser Ziel derart verändert, dass wir schließlich gezwungen waren, den Schirm einzuklappen. Glücklicherweise war das zu einem Zeitpunkt geschehen, als wir bereits deutlich unterhalb der Lichtgeschwindigkeit waren und wir mit relativistischen Schwierigkeiten nicht mehr rechnen mussten.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ein regelrechter Ruck durch unser Team gegangen war, als es uns erstmals gelungen war, das Vorhandensein von Planeten im Proxima Centauri-System nachzuweisen. Nach unseren Messungen musste es mindestens vier Planeten geben und noch immer haben unsere Instrumente die Signalgruppen empfangen, die letztlich dafür verantwortlich waren, dass wir überhaupt hier waren. Unser Schwede Bo, der für die Kommunikation zuständig gewesen war, hatte die Sendungen immer wieder aufgenommen und sie über unsere Antennen zurückgeschickt. Wir hatten gehofft, dass die Urheber der Sendungen vielleicht anhand unserer Antwort feststellen würden, dass wir auf dem Weg zu ihnen waren. Wir hatten jedoch nie etwas anderes empfangen als die schon bekannten Symbolgruppen, die wir schon von der Erde her kannten.
Ein paar Monate später hatten wir das Planetensystem von Proxima Centauri erreicht. Unsere Stimmung hatte irgendwo zwischen der Enttäuschung darüber gelegen, dass wir keine gezielten Reaktionen bekommen hatten und der Erwartung dessen, was wir finden würden. Bo hatte inzwischen genau ermitteln können, dass die Signale vom ersten Planeten des Systems stammen mussten. Proxima Centauri ist ein sogenannter Zwergstern, der viel weniger Energie abstrahlt, als unsere heimatliche Sonne. Es war daher nicht überraschend, dass der innerste Planet dieses Systems bewohnt war – sofern es sich um Leben handelte, das unserem auch nur im Entferntesten ähnelte. Wir hatten also diesen Planeten angesteuert und uns in seine Umlaufbahn begeben. Was unsere Fernortungsinstrumente angezeigt hatten, war eine echte Sensation: Es gab große Städte von fremdartigem Aussehen, ein dichtes Verkehrsnetz. Breite Bänder verbanden die Städte miteinander. Wir hatten vermutet, dass es sich um Straßen handelte. Wir hatten es jedoch beunruhigend gefunden, dass wir selbst in der stärksten Vergrößerung keine Lebewesen entdecken konnten. Unser Kommandant Dimitri hatte entschieden, dass es nur eine Möglichkeit gab, dieses Rätsel zu lüften. Wir mussten mit Hilfe eines unserer beiden Landemodule nachschauen, was dort los war. Wir hatten Sonden in die Atmosphäre des Planeten entsandt und so erfahren, dass wir das Glück hatten, einen Sauerstoffplaneten zu finden, dessen Atmosphäre sogar für uns atembar war. Voller Euphorie wurden die Vorbereitungen für die Landung getroffen. Es war ein Schlag ins Gesicht, als mir Dimitri eröffnet hatte, dass ich nicht bei diesem Landeunternehmen dabei sein würde. Einer musste auf jeden Fall zurückbleiben, für den Fall, dass es an Bord zu Zwischenfällen kommen würde. Ich sehe noch Marians trauriges Gesicht vor mir, als sie erfuhr, dass ich nicht mitkommen durfte.
Nachdem die Landefähre abgelegt hatte, konnte ich einfach nicht mehr. Schon seit Jahren waren wir in dieser Konservendose eingesperrt gewesen und jetzt, da es eine Möglichkeit gab, sich einmal gepflegt die Beine zu vertreten, durfte ich nicht mit. Wir hatten während unseres Fluges aus reiner Langeweile begonnen, aus Produktabfällen unserer hydroponischen Anlage Schnaps zu brennen. Ich holte ihn aus unserer Kombüse und nahm erst mal einen ordentlichen Schluck davon. Es hatte gebrannt wie die Hölle, doch ich hatte mich danach besser gefühlt. Ich ging in die Zentrale und verfolgte über die Instrumente den Verlauf der Landung. Wir hatten unsere Hausaufgaben gemacht. Das Wetter war ruhig und stabil, und in Reichweite der Landefähre hatte sich ein Platz befunden, der durchaus eine Art Flugplatz sein konnte. Dort sollte die Landung stattfinden. Marco, unser Pilot, hatte etwas von seinem Fach verstanden. Er hatte die Fähre durch die fremde Atmosphäre bewegt als würde er sich auf der Erde befinden. Marian hatte mir über Funk ständig durchgegeben, was sie sahen. Alles hatte nach einer reinen Routinesache ausgesehen. Marian hatte irgendwann gemeldet, dass sie gelandet wären und die Fähre verlassen würden. Sie waren auf eine Reihe von Gebäuden zugelaufen, die am Rand des Platzes standen. Marian hatte berichtet, dass die Gebäude vergleichsweise klein waren und auf dem Platz kleine Fahrzeuge standen, bei denen es sich um Flugzeuge handeln könnte. Alles war verlassen. Niemand hatte von ihnen Notiz genommen. Die Gebäude waren ebenfalls verlassen. Ihre Einrichtung war zwar fremdartig, hatte jedoch darauf hingedeutet, dass die Erbauer der Gebäude nicht so fremdartig sein konnten, wie man befürchtet hatte.

Ich hatte das alles lediglich über Funk miterleben dürfen. Sie waren später weitergeflogen, um aus der Luft nach Zeichen von Leben zu suchen. Ein Alarm hatte mich aus meinen Gedanken abgelenkt. Die Instrumente hatten stark erhöhten Sonnenwind registriert, wie man ihn im Sonnensystem während der Sonnenfleckaktivitäten ebenfalls messen konnte. Ich hatte den Alarm abgestellt und mich wieder dem Funkgerät zugewandt. Es dauerte nicht lange und der Alarm war erneut ertönt. Ich hatte ihn erneut abgeschaltet und einen Blick auf die Messgeräte geworfen. Ich hatte geglaubt, meinen Augen nicht zu trauen. Die Werte waren so hoch gewesen, dass zu befürchten war, die Sonne könnte eine Plasmafackel ausstoßen. Auch das kam im Sonnensystem häufig vor, doch war man zu Hause viel weiter von der Sonne entfernt als hier. Mir war mulmig geworden und ich hatte den Alarm über Funk an unseren Kommandanten gemeldet. Er hatte der Erscheinung keine große Bedeutung beigemessen und erklärt, sie hätten soeben eine Art Flugfeld gefunden, auf dem sie Hunderte von brandigen Flecken entdeckt hatten, fast, als wäre von dort eine größere Zahl an Raumschiffen gestartet. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn.
Sie hatten die Gegend noch einige Tage lang untersucht, während ich regelmäßig neue Höchstwerte der Sonnenaktivität messen konnte. Ich hatte dem Zeitpunkt entgegengefiebert, wenn die Anderen und insbesondere Marian wieder bei mir sein würden. Während der Tage, in denen meine Gefährten auf dem Planeten verweilt hatten, wurden die Meldungen allmählich spärlicher. Immer häufiger hatte ich von mir aus darauf drängen müssen, mich ins Bild zu setzen. Selbst Marian hatte sich nicht mehr von sich aus gemeldet. Ich hatte das nicht verstanden. Endlich hatte Dimitri angerufen und mitgeteilt, dass sie zurückkehren würden. Nervös hatte ich im Schleusenbereich auf die Ankunft der Fähre gewartet.
Als sie dann endlich eingetroffen waren, waren sie wieder da und doch auch wieder nicht. Nacheinander hatten sie die MILESTONE betreten und schwebten an mir vorbei. Sie hatten mich überhaupt nicht beachtet. Mir war das nicht geheuer. Was ging hier vor?
In den folgenden Tagen hatte ich meine Freunde und Partner immer misstrauischer beobachtet. Sie hatten sich, so oft es möglich war, in der Messe der MILESTONE versammelt, wo sie schweigend beieinandersaßen. Mich hatten sie völlig ausgeschlossen. Es war ja nicht so gewesen, dass sie sich nicht mehr mit mir unterhielten. Wenn ich sie gezielt angesprochen hatte, erhielt ich eine – wenn auch recht einsilbige – Antwort. Meine Verzweiflung war während dieser Zeit immer größer geworden, besonders weil selbst Marian für mich immer fremder wurde.
Ich hatte damals noch die Hoffnung, dass sich das Blatt wieder wenden würde, wenn wir erst auf dem Heimweg wären, und hatte deshalb darauf gedrängt, die MILESTONE für den Rückweg startklar zu machen. Niemand hatte auf mein Drängen reagiert, oder mir in irgendeiner Weise geholfen. Jetzt hatte es sich ausgezahlt, dass ich während der Anreise nach und nach in allen nur erdenklichen Bereichen gearbeitet hatte. Ganz allein hatte ich das Schiff für den Rückflug vorbereitet. Eine unbestimmte Angst hatte mich erfasst, dass meine Kollegen auf dem Planeten von einem Erreger infiziert worden sein könnten und das eigenartige Verhalten Anzeichen einer Erkrankung war.
Ein Geräusch holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich sah zur Konsole des Funkers hinüber. Im Geiste sah ich noch immer Bo, wie er dort auf seinem Sitz festgeschnallt gesessen hatte. Bo, unser Mann für die Kommunikation, war sympathisch gewesen. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, was auf Proxima Centauri 1 geschehen war. Aber was spielte das jetzt für eine Rolle? Bo lag – genau wie die Anderen – in der Kühlzone bei einer Temperatur von nur knapp über dem absoluten Nullpunkt.
Eine Signalleuchte auf der Konsole blinkte rhythmisch auf. Ein eingehender Ruf auf einer der irdischen Frequenzen! War ich etwa schon innerhalb der Reichweite von Sendern der Erde? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich warf einen Blick auf den Geschwindigkeitsmesser der MILESTONE. Es zeigte noch immer ein Viertel der Lichtgeschwindigkeit an. Ich wusste, dass das nur ein hypothetischer Wert sein konnte, rechnerisch ermittelt aus der bekannten Triebwerksleistung und der bisherigen Dauer des Bremsvorgangs. Nervös wechselte ich meinen Platz und setzte mich an die Kommunikationskonsole, wo ich mit zittrigen Fingern den Eingangskanal des Funkgerätes öffnete. Was ich zu hören bekam, war nur ein hochfrequentes Zirpen. Verstehen konnte ich nichts. Ratlos sah ich auf die Konsole. Wer auf der Erde sendete einen solchen Müll? Ich begann, zu verstehen, dass diese Sendungen nicht für mich bestimmt sein konnten. Trotzdem gaben sie mir ein gewisses, beruhigendes Gefühl. Es gab die Erde und ihre Menschen offenbar noch.
Enttäuscht nahm ich erneut auf meinem Pilotensessel Platz, auf dem ich seit Marcos Tod häufig saß und vor mich hin döste. Marco war der Erste gewesen. Er hatte etwa vier Monate nach unserem Start von Proxima Centauri aufgehört, Nahrung und Wasser zu sich zu nehmen. Ich hatte wirklich alles versucht, aber mir hatten einfach die Mittel und Kenntnisse gefehlt, etwas Wirkungsvolles dagegen zu unternehmen. Anfangs hatte ich es geschafft, die Aufmerksamkeit Indiras, unserer Bordärztin, zu erwecken und von ihr einige Tipps zu bekommen, doch dann hatte auch sie die Nahrungsaufnahme eingestellt. Von da an ging alles schnell. Innerhalb von wenigen Tagen waren fast alle Besatzungsmitglieder so weit geschwächt, dass sie dem Tode nahe waren. Ich hatte mich nach Kräften bemüht, ihnen wenigstens etwas Wasser einzuflößen, doch nach einer gewissen Zeit hatten sie nicht einmal mehr die nötigen Schluckreflexe. Hätte ich während dieser Zeit nicht so viel zu tun gehabt, ich glaube, ich wäre verrückt geworden.
Als ich unserem Kommandanten Dimitri die Augen für immer schloss, bemerkte ich eine Bewegung hinter mir. Es war Marian.
»Marian«, hatte ich gesagt und mein Herz hatte einen Satz gemacht. »Dir geht es wieder besser?«
Ich war aufgesprungen und hatte sie in meine Arme genommen, doch sie hatte meine Umarmung nicht erwidert.
»Wir werden alle gehen«, hatte sie gesagt. »Du musst mir jetzt genau zuhören.«
»Was meinst du, Marian? Was soll das bedeuten: Wir werden alle gehen? Wenn es eine Krankheit ist – vielleicht kann man sie heilen?«
Ein schwaches Lächeln hatte ihre Lippen umspielt.
»Marian, ja, so wurde ich genannt«, hatte sie leise gesagt und für einen Moment war der alte Schimmer in ihre Augen getreten, doch nur für einen Augenblick, dann war es vorbei gewesen.
»Du würdest es eine Krankheit nennen, Collin, aber es ist keine. Das, was geschehen ist, sollte niemals in dieser Form geschehen. Es tut uns unendlich leid, aber ihr seid nicht sie und uns fehlt das Wissen.«
Mir hatte sich alles im Kopf gedreht. Was erzählte Marian da für ein verworrenes Zeug?
»Marian, du machst mir Angst«, hatte ich geantwortet. »Wovon redest du? Welches Wissen meinst du?«
Sie hatte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen gebracht und weitergeredet: »Collin, mir fehlt die Zeit. Die Anderen sind schon auf dem Weg. Ich wurde bestimmt, als Letzte zu gehen, da wir eng verbunden waren. Mir würdest du zuhören. Tue bitte genau, was ich dir sage: Bring jeden, der gegangen ist, unverzüglich in die Kältezone. Warte nicht. Es ist wichtig. Du wirst es verstehen – später.«
Ich hatte ihre Worte vernommen, doch war ich nicht bereit, zu akzeptieren, dass Marian auch über sich selbst gesprochen hatte. Ich wollte sie nicht verlieren.
»Marian, was hindert dich daran, die Rückreise mit mir gemeinsam zu machen? Du scheinst dich doch etwas erholt zu haben.«
»Sie haben gesagt, dass du so reagieren wirst, aber glaub mir, ich spüre meine Kräfte schwinden, während ich hier mit dir spreche.«
Marian war plötzlich etwas in sich zusammengesackt und ich war ihr zu Hilfe gesprungen, um sie zu stützen. Sie hatte mich von unten angesehen und gelächelt. Da war sie – meine Marian, wie ich sie gekannt hatte. Sie hatte meinen Kopf in ihre Hände genommen und ihr Gesicht an meine Schulter gebettet. Ein Schluchzen hatte ihren Körper geschüttelt. Sie hatte mich anschließend ein Stück von sich weggeschoben und mich aus tränenerfüllten Augen angesehen.
»Collin, ich liebe dich«, hatte sie gesagt. »Verzeih uns und denke an die Kältezone.«
Dann war sie in sich zusammengesackt und war tot. Ich hatte sie noch lange in meinen Armen gehalten, erfüllt von Trauer und völliger Ratlosigkeit.
In den Tagen danach hatte ich genug damit zu tun, meine verstorbenen Kollegen in die Kältezone zu schaffen. Ich hatte zwar nicht verstanden, warum Marian mich immer wieder daran erinnert hatte, denn normalerweise erhielten verstorbene Raumfahrer eine Raumbestattung. Das heißt, dass sie aus der Schleuse ins All katapultiert wurden, um für alle Zeiten dort zu treiben. Ich wollte jedoch Marians letzten Willen respektieren und so hatte ich nach und nach alle Verstorbenen in die Kältezone geschafft, wo sie innerhalb von wenigen Sekunden zu einem Eisblock gefroren waren.
Ein Gedanke unterbrach meine geistige Reise durch die Vergangenheit: Doppler-Effekt. Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen? Dieses Gezirpe in der Funkanlage – das waren Funksignale, die dem Doppler-Effekt unterworfen waren. Der österreichische Mathematiker und Physiker Christian Doppler hatte in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts festgestellt, dass sich die Wahrnehmung von Frequenzen verändert, wenn sich die Quelle und der Empfänger von Signalen aufeinander zu oder voneinander wegbewegen. Die MILESTONE raste mit einem Viertel der Lichtgeschwindigkeit auf das Sonnensystem zu. Da war es doch vollkommen klar, dass sich die Signale am Empfänger verzerren mussten. Ich flog förmlich zur Kommunikationskonsole hinüber, um zu sehen, ob die Signale noch empfangen wurden. Ich hatte Glück und drückte sofort auf die automatische Aufzeichnung. Ich durfte gar nicht daran denken, was ich möglicherweise an wichtigen Informationen verpasst haben konnte. Ich wartete eine Weile und schaltete die Wiedergabe ein, wobei ich in Stufen die Geschwindigkeit beim Abspielen immer langsamer einstellte, bis ich etwas verstehen konnte. Die Qualität der empfangenen Nachricht war schlecht, aber größtenteils verständlich. Offenbar war es eine automatische Sendung, die sich ständig wiederholte:
»Dies ist eine automatische Mitteilung der Orbitalstation auf Titan. Im solaren Sonnensystem herrscht derzeit der Ausnahmezustand. Einfliegende Schiffe von jenseits der Grenzen des Systems müssen zwingend zunächst die Orbitalstation auf Titan anfliegen. Eine direkte Reise zu den inneren Planeten Mars, Erde oder Venus ist nicht gestattet.«
Danach wiederholte sich der Text der Meldung. Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte. Ich war nicht über viele Jahre durch’s All geflogen, um dann nicht direkt nach Hause zu fliegen. Orbitalstation auf Titan. Was sollte das sein? Als die MILESTONE ihre Reise angetreten hatte, hatte es solche Stationen auf Saturnmonden überhaupt nicht gegeben. Nun, ich war auch schon lange unterwegs – viel zu lange.
Die Bordroutine war jeden Tag gleich. Wach werden, frühstücken, Rundgang durch das gesamte Schiff, notwendigste Reparaturen vornehmen – sofern möglich. Danach dösen im Pilotensessel der Zentrale. Es kotzte mich inzwischen an. Ich war sicher, dass ich mich nie wieder weiter vom Erdboden entfernen würde, als ein Flugzeug in die Luft steigen konnte. Immer häufiger träumte ich davon, was ich tun würde, wenn ich wieder auf der Erde gelandet wäre. Die Geschwindigkeit der MILESTONE war inzwischen deutlich geringer. Ich konnte die Sendungen vom Titan schon fast ohne Hilfsmittel verstehen – und das nicht allein deswegen, weil ich innerhalb der Grenzen des Systems war.
Eines der größten Probleme bei Reisen, wie ich sie unternahm, war, dass ich zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Unendlich oft hatte ich diese letzten Gespräche mit meinen Kollegen, und insbesondere mit Marian, im Kopf durchgespielt. Auch nach Monaten verstand ich nicht, was Marian mit ihren letzten Worten gemeint hatte. Ich fragte mich, ob sich die ganze Mühe der Reise zum Proxima Centauri gelohnt hatte, und beantwortete sie mir selbst energisch mit Nein. Wir hatten gehofft, Brüder im All zu finden, aber waren scheinbar zu spät gekommen. Fast die ganze Besatzung hatte die Reise nicht überlebt und ich selbst hatte viele Jahre meines Lebens für einen Traum vergeudet. Doch ich sollte nicht undankbar sein, denn ich war zurückgekehrt und hatte nicht den Verstand verloren. Und Marian? Sie hatte ich wirklich verloren. Sie war der wichtigste Mensch in meinem bisherigen Leben gewesen. Warum kam ich nicht darüber hinweg? Heißt es nicht, dass die Zeit alle Wunden heilt?
Ich war eben dabei, den großen Materieschirm einzufahren, da er bei der inzwischen geringen Geschwindigkeit keinen Nutzen mehr hatte. Außerdem war die Materiedichte innerhalb des Systems zu gering. Da ging der Alarm los.
Ich fluchte, denn man konnte am Alarm nicht erkennen, worum es sich handelte. Also hastete ich durch die völlig verdreckten Gänge zurück zur Zentrale. Die früher einmal hier arbeitenden Reinigungsmaschinen hatten schon vor Jahren ihren Geist aufgegeben und in den Lagern hatten sich keinerlei Ersatzteile dafür befunden. Ich muss gestehen, dass ich auch überhaupt kein Interesse daran hatte, hier für Sauberkeit zu sorgen. Es war mir im Grunde vollkommen egal, was mit der MILESTONE nach meiner Ankunft auf der Erde geschehen würde.
In der Zentrale angekommen, erkannte ich, dass eine neue Mitteilung eingegangen war. Klugerweise hatte ich nach der letzten Funknachricht die permanente Aufzeichnung aktiviert gelassen. Es war eine weitere Nachricht vom Titan, doch diesmal war es offensichtlich keine automatische Mitteilung.
»Fremdes Raumschiff mit Kurs auf das Saturnsystem, bitte identifizieren sie sich!«
Es war mir klar, dass aus dieser Entfernung ein Funkspruch einige Zeit unterwegs sein würde, aber ich antwortete sofort: »Hier spricht Collin Porter vom interstellaren Raumschiff MILESTONE. Ich befinde mich auf dem Rückweg von Proxima Centauri.«
Nach einiger Zeit traf die Antwort ein: »MILESTONE, wir haben sie schon seit einiger Zeit erwartet. Wir werden ihnen einige Kursdaten übermitteln und bitten sie, ihren Kurs entsprechend zu ändern. Die MILESTONE ist nicht für einen Weiterflug zur Erde autorisiert, sondern verbleibt auf Titan.«
Es verschlug mir die Sprache. Was bildeten sich diese Leute ein? Nach allem, was ich erlebt hatte, wollte ich nur nach Hause und nun bestand die Aussicht, noch lange hier draußen – mitten im Sonnensystem – bleiben zu müssen. Wütend schlug ich auf die Antworttaste. »Was bilden sie sich ein? Ich will nicht aus einer Blechbüchse in eine andere umsteigen – ich will endlich wieder einen blauen Himmel sehen, frische Luft atmen. Ich fliege zur Erde!«
»Mr. Porter, sie werden nicht zur Erde fliegen – jedenfalls nicht mit der MILESTONE. Seien sie kooperativ. Um so schneller können sie auch dorthin reisen, wohin sie wollen. Wenn sie nicht freiwillig zu uns kommen, wird man sie holen. Ich denke, das können wir uns gegenseitig ersparen. Bitte legen sie den neuen Kurs an.«
Ich wollte schon abschalten, als die Stimme am andern Ende noch eine Frage stellte:
»Mr. Porter, wie geht es ihren Mitreisenden? Sind sie gut untergebracht?«
Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare aufstellten und ich leicht fröstelte. Was war das jetzt wieder? Was war das für eine eigenartige Frage?
»Ich bin der einzige Überlebende der Expedition, falls sie das wissen wollen!«, rief ich ins Mikrophon, »Was soll diese blöde Frage nach der Unterbringung?«
Ich war einfach nicht in der Lage, höflich und freundlich zu bleiben.
»Mr. Porter, uns ist bekannt, dass nur sie aktiv sind. Wir sind ihnen dafür dankbar. Was ich wissen wollte, ist, ob Ihre Mitreisenden gut untergebracht sind.«
»Verdammt noch mal, meine Mitreisenden sind tot! Verstehen sie? Tot! Sie stecken in der Kältezone der MILESTONE.«
»Das ist gut«, sagte der Mann vom Titan, »Mr. Porter, sie haben ihre Arbeit gut gemacht.«
Ich stutzte. Wieso wusste man auf Titan, dass ich als Einziger an Bord aktiv bin? Die Rätsel hatten mich wieder eingeholt. Die Ereignisse der vergangenen Jahre zogen wieder an meinem geistigen Auge vorbei. Ich beschloss, mich zunächst dumm zu stellen und den Titan anzufliegen. Ich hatte nicht viele Alternativen.
Ein Blick auf die Navigationskontrolle zeigte mir, dass die neuen Zielkoordinaten inzwischen eingetroffen waren. Ich war fast dankbar dafür, dass ich etwas tun musste und nicht weiter nachdenken konnte. Ich war so froh gewesen, meinen Verstand behalten zu haben und nun stand ich doch noch an der Schwelle zum Wahnsinn. Die Steuerung der MILESTONE war mir im Laufe der langen Zeit so geläufig geworden, dass ich fast beiläufig den neuen Kurs setzte. Die Korrekturtriebwerke begannen zu arbeiten und die gesamte Schiffszelle begann zu vibrieren und zu ächzen. Die MILESTONE war mittlerweile eine alte Dame geworden. Ich hoffte, dass sie nicht auf den letzten Metern schlapp machte.
Es dauerte fast vier Wochen, bis ich durch das Teleskop der MILESTONE zum ersten Mal einen Blick auf die Orbitalstation des Titan werfen konnte. Sie schien wahrhaft riesig zu sein. Sie bestand aus einer Kugel sowie einem dicken Torus darum herum, der an drei Stellen mit der Kugel verbunden war. Da sich die Station gemächlich um ihre Achse drehte, wirkte sie wie ein großes Rad. An den Polen der zentralen Kugel befanden sich Vorrichtungen, die möglicherweise zum Andocken von Schiffen geeignet waren. Ich nahm nach langer Zeit wieder eine Funkverbindung zur Station auf:
»Hier MILESTONE. Ich stehe quasi schon vor eurer Tür. Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, mir zu sagen, wie ich bei euch anlegen kann.«
Die Antwort kam fast augenblicklich: »Mr. Porter, wir haben sie auf unseren Ortungsschirmen. Wir empfehlen, einen Service-Kanal zu ihrem Autopiloten zu öffnen und uns Zugriff darauf zu gewähren. Wir holen sie dann automatisch herein. Sie können dann schon zur Hauptschleuse gehen, wenn sie möchten.«
Ich war mir nicht sicher, ob es sich um eine Empfehlung, oder eher um einen Befehl gehandelt hatte, aber es spielte letztlich keine Rolle mehr. Ich hatte die weitere Entwicklung nicht mehr in der Hand. Ich fühlte mich unglaublich müde und wollte nur noch meine Ruhe. Nicht mehr denken und endlich auf der Erde sein. Ich schaltete den Autopiloten auf den Service-Kanal und gab die Steuerung über mein Schiff endgültig ab. Ich blieb noch eine Weile im Pilotensessel sitzen und verfolgte die Manöver der MILESTONE, die nicht mehr von mir, sondern von außen veranlasst wurden. Ich musste zugeben, dass sie etwas vom Fach verstanden, denn die MILESTONE passte sich perfekt der Rotation der Station an, bevor sie endgültig andockte.


 Hatte ich es mir so vorgestellt, nach Hause zu kommen? Eigentlich nicht. Ich erhob mich von meinem Sitz. Es war ein eigenartiges Gefühl. Die Triebwerke waren nun abgeschaltet und das Schiff rotierte leicht. Jede Außenwand schien nun unten zu sein. Ich griff nach meiner Tasche, in der ich die wichtigsten Unterlagen hatte. Es war schon komisch – da flog man viele Jahre durch das All und alles Wichtige aus dieser ganzen Zeit passte in eine kleine Tasche. Zum letzten Mal hangelte ich mich durch die schmutzigen Gänge, um zur Hauptschleuse zu kommen. Als ich dort ankam, wurde ich dort bereits erwartet. Man hatte die Schleuse – nachdem der Druckausgleich hergestellt war – schon von außen geöffnet.
Der Mann, der mich erwartete, machte auf mich einen normalen Eindruck. Sein Blick war offen und drückte Freundlichkeit aus.
»Willkommen auf Titan, Mr. Porter«, sagte er mit wohlklingender Stimme, »folgen sie mir bitte in unsere Station. Sie haben sicher eine Menge Fragen und ich werde mich bemühen, sie zu beantworten.«
Ich folgte ihm und betrat die Titan-Station. Ich bemerkte gleich, dass es eine andere Welt war, die ich betrat. Alles wirkte sauber, ordentlich und nagelneu. Ich sah Geräte und Instrumente, deren Funktion ich nicht bestimmen konnte.
»Welches Jahr haben wir?«, fragte ich.
Der Mann drehte sich um. »Sie würden wohl sagen, wir hätten das Jahr 2050, doch wir rechnen nicht mehr nach diesem Zählsystem.«
2050. Das würde bedeuten, dass ich mit der MILESTONE stark relativistischen Einflüssen ausgesetzt war, denn ich hatte den Bordkalender noch gut im Gedächtnis und der hatte zuletzt den 11. Juli 2035 angezeigt. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass der Mann gesagt hatte, man würde nicht mehr nach diesem Kalender rechnen.
»Moment mal«, sagte ich, »was soll das bedeuten, ihr rechnet nicht mehr nach diesem Kalender? Was hat sich denn in den wenigen Jahren geändert?«
Der Mann lächelte. »Mr. Porter, sie sollen alles erfahren, aber das sollten wir in angenehmer Umgebung tun. Es ist alles nicht so ganz einfach. Ich bin nicht sicher, ob sie gleich alles verstehen oder akzeptieren werden.«
Ich sah ihn fragend an. »Da bin ich ja mal gespannt. Wie ist eigentlich Ihr Name? Wie soll ich Sie ansprechen?«
»Mein Name ist 4-Rehlog-3569«, sagte er und deutete in den Gang hinein. »Folgen Sie mir. Lassen sie uns in unsere Kantine gehen und dort etwas trinken oder essen – wir haben eine gute Küche. Dort werde ich ihnen alles erklären.«
Ich lief hinter diesem 4-irgendwas her und verstand überhaupt nichts mehr. Ich registrierte, dass die Anziehungskraft allmählich größer wurde, also näherten wir uns dem äußeren Rad der Station, wo die Fliehkraft annähernd Erdschwere simulierte. Immer häufiger begegneten wir Menschen, die mich und meinen Führer freundlich grüßten. Endlich erreichten wir die Kantine, die mäßig besucht war. Sie wirkte genauso, wie ich Kantinen von früher kannte. Wir setzten uns und eine hübsche junge Frau nahm unsere Bestellung auf. Zumindest darin hatte sich in den vergangenen Jahren nichts geändert.
»Also«, sagte ich, »dann fangen sie mal an zu erklären, Herr 4-...«
»Nennen sie mich einfach Rehlog«, sagte er, »hier in der Station wird dies nicht zu Verwechslungen führen. Ich bin ein fast reiner Glii, daher der eigenartige Name. Die meisten Anderen haben ihre alten menschlichen Namen beibehalten.«
Ich starrte mein Gegenüber an. »Was ist ein Glii?«, fragte ich mit belegter Stimme.
»Was haben sie gefunden, als sie auf Proxima Centauri eintrafen?«, fragte Rehlog, »Oder anders gefragt, was haben sie dort nicht gefunden?«
Ich sah den Mann aus zusammengekniffenen Augen an.
»Dort war niemand«, sagte ich. »Wir fanden die Reste einer großen Zivilisation, doch war alles verlassen. Als meine Freunde dann vom Planeten zurück kamen, waren sie krank und starben. Nur ich habe überlebt.«
»Ganz so war es nicht«, sagte Rehlog. »Ich werde es mal in Kurzform erklären. Wir Glii stammen ursprünglich vom Planeten Glii, das ist der erste Planet der Sonne, die ihr Proxima Centauri nennt. In unserer früheren Heimat lebten wir in Symbiose mit einer Primatenspezies, die nur eine geringe Intelligenz entwickelt hatte. Wir Glii sind eine Kollektivintelligenz. Ihr würdet sagen, wir sind so etwas wie Viren oder Bakterien. Einzeln sind wir nichts, doch als geballte Masse entwickelten wir Intelligenz. Irgendwann im Laufe unserer eigenen Entwicklung stellten wir fest, dass wir individuelle Intelligenz entwickeln und sogar unsere Umwelt manipulieren können, wenn wir die Primaten unseres Planeten infizieren. So gingen wir eine Symbiose ein und konnten so gemeinsam eine Zivilisation schaffen, die eurer in nichts nachsteht. Leider hatten wir unsere Rechnung ohne unsere Sonne gemacht. Proxima Centauri ist eine instabile Sonne. Häufig schleudert sie Plasmafackeln weit in den Raum und überschüttete unsere Welt mit harter Strahlung. Der Allgemeinzustand unserer Wirtskörper wurde von Generation zu Generation immer schlechter. Auch unsere Mediziner waren nicht mehr in der Lage, die vielen degenerativen Erkrankungen zu heilen. Etwa in diesem Stadium erreichten uns eure ersten Funksignale. Wir begriffen, dass es weit draußen im All Wesen gab, die Kontakt zu uns aufnehmen wollten. Unsere Forscher fanden heraus, dass eure Sonne ein stabiler Typus ist und in diesem System eventuell eine Chance für uns zum Überleben bestand. Wir beschlossen daher, eine Raumflotte zu bauen und unseren Planeten zu evakuieren. Leider machte uns auch dabei unsere Sonne einen Strich durch die Rechnung. Ihre Aktivität nahm von Jahr zu Jahr zu und immer mehr unserer Körper versagten bereits in der Jugend. Mit äußerster Mühe schafften wir es, wenigstens eine kleine Flotte fertigzustellen und zu starten. Während der Jahre, die wir benötigten, dieses Sonnensystem hier zu erreichen, starben die Meisten von uns. Ich drücke das so aus, weil zwar die Summe unserer Teilelemente wieder dem Pool zugeführt werden konnte, doch diese Teilelemente mit dem Tod des Wirtskörpers ihre Individualität verloren haben. Sie wurden wieder Bestandteil der Mutterintelligenz, die wir in speziellen Behältern mitführten.«
Ich hatte den Ausführungen Rehlogs bisher gebannt gelauscht und empfand die Situation als völlig absurd. Konnte es wirklich sein, dass ich hier einem Außerirdischen gegenübersaß, der ebenso gut ein alter Bekannter hätte sein können. Er erzählte mir eine haarsträubende Geschichte, als wäre es eine kleine Anekdote, die man zwischen Suppe und Nachtisch zum Besten gab.
»Sie glauben mir nicht«, sagte Rehlog. »Ich spüre das genau.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich noch glauben soll. Würden sie es an meiner Stelle glauben?«
Rehlog lächelte. Es war ein warmes und verständnisvolles Lächeln. Wenn das wirklich ein Außerirdischer war, konnte es zumindest kein Monster sein. Ich zuckte bei dem Gedanken innerlich zurück. Monster? Warum dachten Menschen bei außerirdischem Leben immer zuerst an Monster? Ich sollte es besser wissen. Ich hatte aus dem Orbit des fremden Planeten die Spuren der Zivilisation mit eigenen Augen gesehen.
»Mr. Porter«, sagte Rehlog, »lassen sie mich erst zu Ende erzählen. Danach will ich ihnen gern alle Fragen beantworten.
Wir müssen uns unterwegs begegnet sein, doch auch wir hatten sie und ihr Schiff nicht bemerkt. Bereits vor Jahren trafen unsere Schiffe hier ein und sorgten zunächst bei den Menschen für einige Aufregung. Es kostete uns Mühe, sie davon zu überzeugen, dass wir keine Invasionsflotte waren, sondern dass wir auf die Hilfe der Menschen angewiesen waren. Wir gingen in einen Orbit um den vierten Planeten – Mars und nahmen diplomatische Verhandlungen auf. Wir legten unsere Karten offen auf den Tisch – ich mag diese blumigen irdischen Metaphern – und zeigten den Verantwortlichen, wie es um uns bestellt war. Unsere letzten überlebenden Körper starben wenige Monate nach unserem Eintreffen. Wir machten das Angebot, Menschen zu infizieren und uns von ihren Körpern assimilieren zu lassen. Wir stellten in Aussicht, dass ein betroffener Mensch seine Eigenständigkeit behalten und gleichzeitig eine Steigerung seiner Intelligenz erleben würde. Es gab viele Freiwillige, aber auch Menschen, die sich scheuten, uns in sich aufzunehmen. Im Laufe der Zeit lernten wir, dass es auch menschliche Hüllen gab, die offenbar keine eigenständige Individualität mehr besaßen. Bei ihnen heißt das wohl Koma. Wir stellten einen Antrag, zu prüfen, ob wir nicht solche Körper beseelen dürften. Nach langen Debatten wurde uns diese Erlaubnis erteilt. Ich bin ein solches Exemplar. Ich trage nur eine rudimentäre menschliche Seele in mir, deshalb auch der für sie merkwürdige Name.«
»Sie wollen mir also allen Ernstes sagen, dass ihre ganze Rasse sich mit uns Menschen verschmolzen hat?«, fragte ich verständnislos.
»Genau so ist es«, bestätigte Rehlog, »ich betone jedoch ausdrücklich, dass wir der Menschheit in keiner Weise ihre Eigenständigkeit genommen haben. Wir sind nur hinzugetreten.«
Ich hatte noch immer Probleme, die Informationen zu verarbeiten, die ich soeben erhalten hatte.
»Hat das mit dem sogenannten Ausnahmezustand zu tun, in dem in der automatischen Sendung die Rede war, die ich empfangen habe?«, wollte ich wissen.
»Das mag etwas zu dramatisch klingen«, räumte Rehlog ein, »denn es gibt natürlich nicht wirklich einen Ausnahmezustand, wie die Menschen ihn bisher verstanden haben. Die Formulierung hat allerdings bisher schon häufig dazu geführt, dass Piloten von Schiffen, die von der Entwicklung hier nichts wussten, tatsächlich erst unsere Station hier angeflogen haben.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Und? Wozu ist das so wichtig?«
»Wir sind der Ansicht, dass wir niemanden unvorbereitet ins innere System einfliegen lassen sollten.«
»Werdet ihr mich auch infizieren?«, fragte ich vorsichtig. Rehlog muss mir wohl angesehen haben, dass mich dieser Gedanke ängstigte.
»Nicht, wenn sie das nicht wünschen«, sagte er. »Es gibt viele Menschen wie sie, die uns nicht in sich tragen. Wir respektieren den Willen unserer Gastgeber, das dürfen sie mir glauben.«
Mir kam mit einem Mal ein Gedanke. »Rehlog, als meine Kollegen ihren Exkurs zu eurem Planeten gemacht haben, kamen sie krank zurück. Kann es sein, dass sie dort noch von restlichen Glii infiziert wurden? Oder seid ihr vollständig von eurem Planeten geflohen?«
Rehlog schüttelte den Kopf. »Nein, ein Kollektivwesen wie wir Glii kann niemals vollständig von einem Ort an den anderen reisen. Immer bleiben Reste unserer Wesenheit irgendwo zurück. Ein solcher Verlust ist auch unerheblich. Sie liegen mit Ihrer Vermutung richtig. Ein Teil der Zurückgebliebenen hat die Chance ergriffen, den Planeten zu verlassen, als die Menschen dort eintrafen.«
»Wie können Sie da so sicher sein?«, wollte ich wissen, »Proxima Centauri ist etwa vier Lichtjahre weit entfernt. Wollen sie mir jetzt weismachen, sie stünden mit diesen Artgenossen in Verbindung?«
»Oh, ich nicht«, sagte Rehlog und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, »ich bin Bestandteil dieses Körpers, der hier vor Ihnen sitzt. Damit habe ich meine Verbindung zur Mutterintelligenz eingebüßt, aber die Mutterintelligenz, die es in einem Bunker auf der Erde noch gibt, spürt ihre Bestandteile auch über große Entfernungen. Sie hat gespürt, dass sich weitere Teile auf den Weg hierher gemacht haben. Sie hat auch gespürt, dass diese Teile der Glii zu Wenige waren, um das Wissen zur gefahrlosen Infizierung von Organismen zu besitzen. Mit anderen Worten gesagt, die Glii in Ihren Kollegen waren zu dumm. Sie schadeten ihren Wirtskörpern, weil sie an die Primatenspezies auf unserem alten Planeten gewohnt waren. Die Mutterintelligenz hat ihre ganze Kraft aufbringen müssen, wenigstens über eines der infizierten Individuen Kontakt aufzunehmen. Sie gab die Anweisung aus, die Körper einzufrieren. Ich bin glücklich, dass sie das auch getan haben. Unsere Leute haben die Körper während unseres Gesprächs bereits von ihrem Schiff geholt. Sie werden zur Zeit erwärmt und viele Glii aus dem Bunker der Mutterintelligenz kümmern sich darum, den Organismus der Menschen wieder zu beleben.«
»Sie machen was?«, fragte ich aufgeregt. »Sie wollen tote Körper beleben? Ich bin schon traurig genug über den Tod meiner Freunde. Sie müssen mich nicht auch noch auf diese geschmacklose Art und Weise veralbern!«
»Ich will Se nicht veralbern, Mr. Porter«, sagte Rehlog. »Nichts liegt mir ferner. Mit etwas Glück sind Ihre Kollegen nicht tot. Speziell das Individuum, mit dem die Mutterintelligenz Kontakt aufgenommen hatte, sollte noch leben. Da bin ich sicher.«
»Marian!?«, entfuhr es mir,.»Sie meinen, Marian lebt?«
»Wenn das der Name des Individuums ist – ja.«
»Kann ich sie sehen?«
Mir war plötzlich alles egal. Die Erde, die Außerirdischen, eine Invasion oder auch nicht – wenn ich nur Marian zurückbekommen konnte.
Rehlog musste mir angesehen haben, wie erregt ich war, denn er erhob sich und kam um den Tisch herum. Sanft legte er mir eine Hand auf die Schulter.
»Wir müssen noch warten«, sagte er. »Der Prozess ist kompliziert und wir dürfen keinen Fehler machen. Meine Mitarbeiter werden sich melden, sobald es soweit ist. Es wäre sicher im Sinne Ihrer Marian, wenn Sie etwas ruhiger wären, wenn wir sie nachher aufsuchen. Möchten Sie vielleicht jetzt etwas essen oder trinken?«
Ich blickte zu ihm hoch. Es war ein Mensch – zweifellos und doch entstammte das Meiste seiner Seele einer völlig fremden Zivilisation. In meinem Kopf drehte sich alles. Waren wir Menschen wirklich noch dieselben Menschen, die wir vorher waren, oder war die Menschheit so etwas wie ein Mischprodukt geworden? Mein Blick schwenkte umher. Überall saßen Leute an Tischen, aßen und unterhielten sich, manche lachten. Alles war so, wie er es kannte.
»Ich könnte einen Whisky vertragen«, sagte ich, »Ich glaube, den habe ich mir jetzt verdient. Gibt es hier so was?«
Rehlog lachte. »Einen Whisky also – den ersten nach vielen Jahren. Den sollen sie haben, Mr. Porter.«
Ich sah ihn an und musterte ihn. Rehlog war so natürlich und normal. Ich hatte bei ihm das Gefühl, einem Freund gegenüberzusitzen. Ich traf eine Entscheidung. »Wissen sie was? Nennen sie mich Collin.«
Rehlog winkte der Bedienung und bestellte zwei alte Glenfarclas.
»Ihr habt hier echten schottischen Single Malt Whisky?«, wunderte ich mich. »Und du – ich sage jetzt einfach du – trinkst so etwas? Ich fass es nicht.«
»Wieso Collin? Ihr Menschen habt da ein paar tolle Errungenschaften, und ich mag zwar von meiner Seele her ein Glii sein, aber ich bewohne schon seit Jahren diesen Körper und sehe mich selbst als Mensch. Wir Glii sind äußerst anpassungsfähig und darüber hinaus einfach nur glücklich und dankbar, in Euren Körpern weiterleben zu dürfen. Der Mensch, der ich bin, mag Whisky und schätzt ihn. Ich mag auch Wein oder dieses Getränk, das Ihr Bier nennt. Ich liebe die abwechslungsreiche Nahrung, die Ihr habt. Und ich weiß, dass alle Mitglieder meiner Spezies das ähnlich sehen. Infizierte Menschen profitieren von unserem geistigen Potenzial und möchten die Symbiose nicht mehr missen. Ich weiß, ich kann dir viel erzählen, aber du wirst es selbst erleben.«
Die Drinks kamen und wir prosteten uns zu.
Stunden saßen wir so beisammen und Rehlog erzählte mir, was sich seit meiner Abreise und vor allem seit der Ankunft der Glii alles verändert hatte und was immer noch so war, wie eh und je. Die Welt hatte sich weitergedreht, doch wie es schien, war es immer noch meine Welt und ich saß hier bei einem Außerirdischen in menschlicher Gestalt und plauderte mit ihm, wie mit einem alten Freund.
Schließlich war es soweit. Rehlog erhielt einen Anruf. Anschließend nickte er mir zu.
»Bist du so weit, Collin?«, fragte er. »Deine Freundin fragt nach dir.«
Ich sprang auf und stieß dabei fast den Tisch um.
»Wo ist sie?«, brüllte ich meine Frage durch den Raum, worauf die Gespräche an den Nachbartischen verstummten und mich alle anstarrten.
»Komm mit«, sagte Rehlog und zupfte an meinem Ärmel. »Ich führ dich hin.«
Ich weiß noch, dass wir durch endlose Gänge dieser riesigen Station liefen, jedoch kann ich mich nicht mehr an Einzelheiten erinnern. Meine Gedanken kreisten nur um einen Namen: Marian.
Wir betraten eine Abteilung, die schon auf den ersten Blick als Krankenabteilung zu erkennen war. Manche Dinge ändern sich auch nach Jahren nicht wesentlich. Rehlog deutete mit der Hand auf eine Tür. Eine Krankenschwester wollte mich erst am Betreten des Raumes hindern, doch sie trat beiseite, als Rehlog ihr sagte, dass es in Ordnung wäre.
Mit zittrigen Händen drückte ich auf den Öffnerkontakt und die Tür fuhr zur Seite. Da war sie – meine Marian, genau so schön, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sie saß in einem Rollstuhl und sah mir lächelnd entgegen.
»Collin«, sagte sie und hob ihre Hände in meine Richtung.
Ich eilte zu ihr, kniete mich hin und drückte ihren warmen Körper an mich. Ich konnte nichts sagen, so dick war der Kloß in meinem Hals. Tränen rannen mir über die Wangen. Ich konnte es nicht verhindern und ich wollte es auch gar nicht. Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich konnte mein Glück nicht fassen.
Ich löste mich etwas von ihr und betrachtete sie.
Marian sah meinen Blick. »Der Rollstuhl ist nur vorübergehend. Ich bin noch zu schwach, um aufzustehen.«
»Ich habe geglaubt, Du wärst tot«, flüsterte ich. »Es ist ein Wunder, dass ich Dich wiederhabe. Ich werde nicht zulassen, dass wir jemals wieder getrennt werden.«
Marians Augen strahlten mich an. »Das will ich hoffen. Ich möchte nur dieses ganze Weltall hinter mir lassen und mit dir auf der Erde neu anfangen.«
Sie bemerkte meinen prüfenden Blick. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Doch ... ich ... Vorhin saß ich mit einem Außerirdischen in der Kantine am Tisch, einem Glii. Er hat mir alles erklärt. Er sagte auch, seine Mutterintelligenz hätte mit ihren Teilen in Deinem Körper Kontakt aufgenommen, damit Du mit mir sprechen kannst – damals im Schiff.«
»Ja? Und?« Sie lächelte noch immer. »Was möchtest Du wissen?«
»Wenn ich dich anschaue, sehe ich meine Marian, und mir springt beinahe das Herz aus meiner Brust. Aber du bist sicher auch eine Glii, oder nicht? Wenn ich Dich jetzt küsse, wen küsse ich dann? Marian oder eine Glii?«
Sie strich mir mit der Hand über die Wange. »Du hast Angst, ich könnte eine Fremde sein? Du hast Recht, dass ich Glii in mir trage. Sie sind dafür verantwortlich, dass man mich erwecken konnte. Sie werden auch weiterhin in mir wohnen, aber sie sind es, die sich mit mir identifizieren und nicht umgekehrt. Wir sind in Symbiose, aber ich kann dir versichern, dass diese Verbindung Marian ist. Ich weiß, das ist im Moment viel für Dich. Aber ich bitte darum, dass Du mich jetzt endlich küsst ...«
Da gab es für mich kein Halten mehr und ich küsste sie wie ein Ertrinkender. Ich weiß, das klingt furchtbar kitschig, aber genau so fühlte es sich für mich an.
Wir küssten einander immer wieder. Die Gespräche, die wir dabei führten, dürften für die Nachwelt nicht sehr interessant gewesen sein. Uns war das gleich. Wir fühlten uns wohl dabei.
Bald würden wir eine Passage vom Titan zur Erde bekommen - nach Hause, doch bereits jetzt hatte ich das überwältigende Gefühl, heimgekehrt zu sein.