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Kopfgefängnis
Als ich den Bildschirm meines Computers ausschaltete, erfasste mich ein regelrechtes Hochgefühl. Im Ausgabefach meines Druckers befand sich meine Arbeit für die nächsten Tage. Es war ein Geschenk des Himmels, den Job als Lektor bei einem großen Publikumsverlag bekommen zu haben. Ich las sowieso viel und so lernte ich einige spätere Bestseller bereits vor ihrem Erscheinen kennen. Der größte Vorteil dieser Arbeit war allerdings, dass ich ihn von zu Hause erledigen konnte.
Mein Auftraggeber schickte mir die Texte mit der Post oder per Mail und ich konnte sie dann in aller Ruhe bearbeiten. Früher hatte ich einen anderen Job und bin jeden Morgen ins Büro gefahren, doch das gehörte einer Vergangenheit an, hatte in einem gefühlt anderen Zeitalter stattgefunden.
Ich griff meine Ausdrucke und ließ die Blätter durch meine Finger gleiten. Über 600 Normseiten, das würde meine Rechnungen für die kommenden Wochen bezahlen helfen. Doch heute würde ich damit nicht mehr beginnen.
In der Küche durchsuchte ich meinen Kühlschrank nach etwas Essbarem für das Abendessen, stellte jedoch fest, dass ich es versäumt hatte, meinem Lieferdienst einen Auftrag zu erteilen. Schlimm war das nicht, denn eine Pizza konnte ich mir immer bestellen. Der Pizzabäcker meines Vertrauens kannte mich und meine Vorlieben.
»Wie immer?«, fragte er, als ich die Nummer am Telefon gewählt hatte.
»Wie immer«, bestätigte ich und legte auf. Ich setzte mich schwer auf den kleinen Hocker, der in der Diele neben der Telefonkonsole stand. Mein Hochgefühl war verschwunden.
In spätestens einer halben Stunde würde es an der Haustür klingeln, und ein wildfremder Auslieferungsfahrer würde mit einer Pizza vor meiner Tür stehen. Ich brauchte sofort einen Plan, wie ich auf diese Situation reagieren sollte. Ja, ich wollte eine heiße Pizza, aber ich wusste, dass es schwierig würde, einfach die Tür zu öffnen und mich dem Fremden zu stellen. Ich durfte ihn nicht hineinlassen, ihm keinen Anlass bieten, mein Reich zu betreten.
Ich griff erneut zum Telefon und wählte die Nummer der Pizzeria. »Äh, hier ist ... Sie wissen schon. Können Sie mir schon mal sagen, wer das Essen heute ausfährt? Nein? Also es gibt da ein Problem. Kann der Fahrer das Essen einfach vor meiner Tür abstellen und wieder gehen? Ich bezahle dann wie üblich am Ende des Monats per Überweisung. Kein Problem? Danke.«
Erleichtert legte ich den Hörer aus der Hand. Ich würde dem Fremden nicht entgegentreten müssen. Erst jetzt fiel mir auf, wie heftig mein Herz geschlagen hatte, als es sich allmählich beruhigte.
Mein Blick fiel auf das Foto von mir und Katrin an der Wand. Ich hatte es bisher nicht übers Herz gebracht, es von dort zu entfernen. Ein Foto aus glücklicheren Tagen. Katrin und ich waren verlobt gewesen, es hatte sogar schon einen Hochzeitstermin gegeben. Doch damals hatte es begonnen. Wir sind gern zusammen gewesen, haben gemeinsam Filme im Kino geschaut, sind zum Tanzen gegangen. Es hatte fast unauffällig begonnen. Ich hatte anfangs gedacht, ein Film im Kino hätte mich so aufgewühlt, dass mir unbehaglich war. Das Gefühl schwand erst, als wir wieder zu Hause waren. Irgendwann war mir bewusst geworden, dass mir draußen eigentlich immer unbehaglich war. Jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, verschwand das Gefühl wieder.
Katrin gefiel das nicht, doch sagte sie zunächst nichts, wenn sie mit mir und Freunden etwas zusammen unternehmen wollte, und ich vorschlug, sie könnten doch auch zu uns kommen. So ging es eine Zeit lang und allmählich wurde Katrin unzufrieden. Sie wollte endlich wieder etwas mit mir unternehmen, mit mir ausgehen, doch mir war der Gedanke inzwischen fast zuwider, meine Wohnung zu verlassen. Es wurde eher noch schlimmer und ich konnte es kaum noch ertragen, wenn unsere Freunde zu uns kamen. Katrin war die Ausnahme. Sie liebte ich, und sie brauchte ich wie die Luft zum Atmen. Ich hab es mir nicht ausgesucht, nicht gewollt. Ich hatte mir nicht einmal vorstellen können, dass ich einmal von Ängsten geplagt werden könnte.
Katrin verstand es nicht, versuchte immer wieder, mich zu beruhigen und mir meine Ängste zu nehmen. Eines Tages hatte sie aufgegeben. Vor einem Jahr hatte sie mich verlassen. Sie hatte es sich nicht leicht gemacht und es waren viele Tränen geflossen - bei ihr wie auch bei mir, aber schließlich hatte sie kapituliert. Für mich war es dadurch nicht leichter geworden. Ich liebte sie noch immer, wusste aber, dass ich sie nicht mehr erreichen konnte.
Der schrille Klang der Türklingel riss mich aus meinen Gedanken. Der Pizzamann. Ich spürte gleich, wie sich mein Puls beschleunigte und meine Hände schweißnass wurden. Ich hatte das Essen selbst bestellt, aber die wenigen Schritte bis zur Wohnungstür verlangten mir alle Energie ab, die ich aufbringen konnte. Nach dem dritten Klingeln betätigte ich den Türöffner, der die Haustür für den Lieferanten öffnete. Ich atmete mehrmals tief durch, versuchte, mein Unwohlsein und meine Nervosität in den Griff zu bekommen, wusste aber, wie aussichtslos das war.
Vorsichtig blickte ich durch den Türspion, als es an der Tür klopfte. Ich erschrak heftig. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass der Mann so schnell vor meiner Tür stehen könnte. Ich hatte gehofft, ihn bereits von der Treppe kommend, beobachten zu können.
»Sie hatten eine Pizza Nr. 26 bestellt?«, tönte es durch die geschlossene Tür.
Ich stand wie versteinert. Nur eine dünne Holzplatte trennte mich von diesem Unbekannten. Ich hielt den Türspion mit der Hand zu. Das Gefühl, der Fremde könnte mich dadurch beobachten und in mein Innerstes zu blicken, war mir unerträglich.
Es klopfte wieder.
»Stellen Sie es einfach auf den Boden vor die Tür«, sagte ich mit heiserer Stimme.
»Auf den Boden? Meinen Sie nicht, es wäre besser, Sie nehmen die Pizza einfach entgegen? Sie wird schnell kalt.«
»Auf den Boden!« Was war daran nicht zu verstehen? »Die Bezahlung ist schon mit Ihrem Chef geregelt.«
Lange Augenblicke hörte ich keinen Laut aus dem Hausflur. Schließlich hörte ich Schritte, die sich von meiner Tür entfernten. Ich blickte durch den Türspion. Es stand niemand mehr vor meiner Tür. Ich brauchte sie nur zu öffnen, um die Schachtel mit meinem Essen hereinzuholen. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich presste mein Ohr an das Türblatt. Nichts zu hören. Es schien sich niemand im Hausflur aufzuhalten. Die Gelegenheit war günstig.
Mit zitternden Fingern löste ich die Kette an der Tür und schloss, so leise es ging, meine vier Türschlösser auf. Ich lauschte noch einen Moment, holte tief Luft und öffnete die Tür.
Mir wurde heiß. Ich blickte vollkommen ungeschützt aus der Sicherheit meiner Wohnung in den offenen Hausflur. Ich hätte mich unverzüglich bücken und die Schachtel mit der Pizza hereinholen sollen, aber ich war einen Moment unfähig, mich zu bewegen. Als ich meinen Blick schließlich senkte und mein Abendessen auf der Fußmatte stehen sah, stürzte ich mich regelrecht darauf und zog die Schachtel in die Diele. Mit der freien Hand stieß ich die Tür zu, die knallend ins Schloss fiel. Sofort richtete ich mich auf und verriegelte meine Schlösser mit fliegenden Fingern. Aber erst, als auch die Kette wieder vorgelegt war, begann ich mich sicherer zu fühlen. Mein Puls beruhigte sich und ich konnte mich auf mein Essen konzentrieren.
Als ich schließlich in meinem Wohnzimmer saß, die Pizza vor mir und den Blick auf meinen Fernseher gerichtet, ließ das Zittern meiner Hände endlich nach, und die Pizzastücke fielen mir nicht mehr von der Gabel. Die bunten Bilder auf dem Bildschirm flimmerten einfach nur an mir vorbei. Mich interessierte im Grunde überhaupt nicht, was dort gezeigt wurde, aber die Stille, die mich sonst umgeben hätte, wäre noch schlimmer gewesen. Es gab Tage, an denen ich mich richtig gut fühlte, an denen ich sogar aus dem Fenster sah und mir vornahm, einen Spaziergang zu machen. Manchmal schaffte ich es dann bis in die Diele, wo meine Jacke hing. Spätestens dann holte es mich jedes Mal wieder ein und ich fragte mich, warum ich überhaupt dort hinaus wollte. Da draußen war es gefährlich. Im Fernsehen sah ich es täglich. Menschen wurden überfahren, verprügelt und vieles mehr. Hier drinnen war ich sicher.
Irgendwann gab ich dann auf und setzte mich still in meinen Sessel, die zitternden Hände auf meinen Knien und bemühte mich, meine Aufregung durch gezieltes Atmen zu bekämpfen.
Nach dem Essen entsorgte ich die leere Pizzaschachtel im Müllschlucker in der Küche und wusch mir die Hände im Bad. Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Ich ignorierte es. Ich ignorierte es immer. Der Gedanke, dass Fremde auf diesem Weg in mein Heim, in mein Privatleben eindrangen, verursachte mir Unbehagen. Natürlich telefonierte ich durchaus schon mal, aber dann nur, um etwas zu bestellen oder etwas mit meinem Auftraggeber zu klären. Mein Auftraggeber wusste das und schrieb mir eine Mail, wenn er mich sprechen wollte. Wenn ich mich angemessen darauf einstellen und mich vorbereiten konnte, ging ein Telefonanruf durchaus in Ordnung.
Das Gesicht, das mir aus dem Spiegel über dem Waschbecken entgegenblickte, erschien mir fremd, obwohl ich natürlich wusste, dass es meines war. Verdammt, wo war der selbstbewusste Kerl geblieben, der auf den alten Fotos neben Katrin zu sehen war? Hatte ich ein Problem? Oder hatten die anderen ein Problem, und ich war der einzig Normale? Ich gebe zu, dieser Gedanke gefiel mir. Was hatte ich denn schon für ein Problem? Ich liebte es halt, in meiner Wohnung zu bleiben und brauchte das Draußen nicht. Hatte ich da nicht einen unschätzbaren Vorteil gegenüber all denen, die sich in ihren eigenen vier Wänden nicht wohlfühlten?
Das erneute Klingeln des Telefons ließ mich aufschrecken. Ich ließ es klingeln - wie immer. Zurück in der Diele, löschte ich das Licht im Bad, bis mir einfiel, dass meine Brille noch auf der Ablage vor dem Spiegel lag. Ich schaltete das Licht wieder ein und es knallte laut. Von einem Moment zum anderen stand ich im Dunkeln. Für einen Augenblick war ich viel zu verblüfft, um etwas anderes zu empfinden. Es war stockfinster. In meiner eigenen Wohnung.
Ich merkte, wie es mir eiskalt den Rücken hinaufkroch. Meine Atmung beschleunigte sich und kalter Schweiß bildete sich auf meiner Stirn. Der Verstand versuchte fast vergeblich, mich davon zu überzeugen, dass nichts Schlimmes geschehen sein konnte. Ich tastete in der Diele nach anderen Lichtschaltern, doch keiner davon funktionierte. Mit einem Schlag wurde mir klar, dass die Hauptsicherung meiner Wohnung herausgesprungen sein musste. Der Sicherungskasten befand sich draußen im Flur. Draußen! Das Kältegefühl nahm zu und lähmte mich vollends. Ich konnte doch nicht einfach hinausgehen und die Sicherungen wieder einschalten! Ich konnte aber auch nicht einfach in der dunklen Wohnung stehen bleiben und darauf hoffen, dass es am kommenden Morgen wieder hell werden würde. Natürlich geht am Morgen die Sonne wieder auf und ich könnte wieder etwas erkennen, aber der elektrische Strom war etwas Grundlegendes. Ohne Strom gab es nicht nur kein Licht, nein - die Heizung fiel aus, der Gefrierschrank taute auf und ich konnte mir auch keinen Kaffee oder Tee kochen. Ich konnte nicht einmal beim Bestellservice im Internet etwas bestellen.
Ich musste also unbedingt die Wohnung verlassen. Vorsichtig tastete ich mich vorwärts, in die Richtung, in der ich die Wohnungstür wähnte. Mit dem Knie stieß ich an die Kante des Schuhschranks und wäre beinahe gestürzt. Schließlich stand ich an der Tür. Durch den Türspion drang trübes Licht vom Flur herein, und meine Augen, die sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, nahmen grobe Konturen wahr. Ich griff zu den Schlössern, zögerte jedoch noch, sie zu öffnen.
Die Tür und die Schlösser waren mein Schutz gegen das Draußen. Allein der Gedanke, diese Tür öffnen zu müssen, ließ meine Hände schweißig werden. Zum ersten Mal musste ich mir eingestehen, tatsächlich ein Problem zu haben. Die Situation überforderte mich völlig. Der Sicherungskasten befand sich nur zwei Meter rechts neben der Tür. Das war doch keine Entfernung! Ich entriegelte das erste Schloss und blickte durch den Spion, um nachzusehen, ob jemand durch das Geräusch aufmerksam geworden war. Niemand zu sehen! Erleichtert stieß ich meinen Atem aus. Die Gelegenheit war günstig und ich entriegelte die restlichen Schlösser. Bevor ich jedoch die vorgelegte Kette entfernte, warf ich noch einen Blick durch den Spion in den Hausflur. Immer noch war alles ruhig. Als ich die kühle Türklinke in meiner rechten Hand spürte, begann mein Herz zu klopfen, dass ich es bis in den Hals spürte. Zwischen mir und dem Draußen gab es erneut nur das dünne Türblatt. Kein Schloss bot mir mehr Sicherheit, und ich müsste zwei Meter durch den Hausflur laufen ...
Das schrille Klingeln des Telefons ließ mich zusammenfahren. Entgeistert starrte ich in die Dunkelheit meines Wohnzimmers. Wieso konnte das Telefon klingeln, wenn die Hauptsicherung der Wohnung herausgesprungen war? Da fiel es mir ein: Festnetztelefone haben eine eigene Stromversorgung durch die Telefonleitung. Ich hätte beruhigt sein sollen, doch der Schreck, zusammen mit dem noch immer klingelnden Telefon, zerrte an meinen Nerven. Wie sollte ich die Energie aufbringen, es bis zum Sicherungskasten zu schaffen?
Rhythmisch stieß ich mit meinem Kopf von innen gegen die Tür, als würde mir das helfen, mein Problem zu lösen. Vorsichtig drückte ich die Klinke nieder und öffnete meine Wohnungstür. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber als nichts geschah, zog ich sie weiter auf. Schließlich wusste ich ja, wie es im Hausflur aussah. Erst als der Pizzabote kam, hatte ich durch die geöffnete Tür nach draußen gelangt, und mir war nichts geschehen. Ich versuchte, mich an diesem Gedanken hochzuziehen: Mir war nichts geschehen!
Über den Schalter neben der Tür schaltete ich das Licht im Flur an und schloss gleich geblendet meine Augen. Jetzt musste ich ein paar Schritte machen, um die Sicherungen zu erreichen. Es war lächerlich, aber meine Füße klebten am Boden, als hätte sie jemand dort festgeschraubt. Es kostete mich alle Mühe, einen Fuß zu heben und einen Schritt nach vorn zu machen. Es dauerte noch drei Phasen des Drei-Minuten-Lichts im Hausflur, bis ich es endlich wagte, einen weiteren Schritt zu machen. Ich lehnte mit dem Rücken an der Wand und wusste nicht, wie ich dort jemals wieder wegkommen sollte. Mein Atem ging hektisch, das Herz schlug bis zum Hals und ich stand wie versteinert. Ich durchlebte die pure Angst, vor der Welt außerhalb meiner Wohnung, vor dem Fremden, dem Draußen, vor mir selbst.
Zentimeter für Zentimeter tastete ich mich an der Wand entlang, den Blick starr in den Hausflur gerichtet. Ich wagte es nicht, den Blick auf den Sicherungskasten zu richten, weil jeden Augenblick jemand kommen, und mich überraschen könnte. Schließlich tastete meine rechte Hand den Rand des grauen Kastens, in dem mein Stromzähler und die Sicherungen steckten. Ich nahm all meinen Mut zusammen und wandte mich den Kasten zu. Mit einem Griff öffnete ich den Schrank und sah sofort, dass der FI-Schalter herausgesprungen war. Hektisch blickte ich nach links und rechts, fasste an den Schalter und drückte den Hebel in die On-Position. Ein trockenes Knacken war alles, das ich hörte. Sollte es das bereits gewesen sein? Schnell schloss ich den Schrank, als das Flurlicht ausging. Alles, nur das nicht! Ich stand draußen und auch noch im Dunkeln? Ich spürte, wie sich Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten.
Noch bevor mein logisches Denken wieder einsetzte, sprang das Licht wieder an. Jemand musste sich im Flur befinden und es eingeschaltet haben. Ich musste unbedingt hier weg. Inzwischen hyperventilierte ich und mir war schon ganz schwindelig. Von unten hörte ich Schritte, wie jemand die Treppen hinaufstieg. Es konnte nur noch eine Frage von wenigen Sekunden sein, bis er mich sah. Das aktivierte meine letzten Energien und ich sprang mit zwei langen Sätzen in meine Wohnung und schlug die Tür lautstark hinter mir zu. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Mir wurde erst später bewusst, dass die Deckenbeleuchtung wieder funktionierte und mein Exkurs zum Sicherungskasten erfolgreich gewesen war. Meine eigene Batterie jedoch war völlig leer. Ich ließ mich an der Dielenwand zu Boden gleiten und blieb dort sitzen, die Knie angezogen und mit den Armen umfasst. Mein Oberkörper schwang vor und zurück und ich hatte keinen Einfluss darauf, konnte es nicht stoppen.
Durch die Tür hörte ich die Schritte aus dem Flur immer lauter. Es war das laute Klackern von Damenschuhen. Die Schritte kamen näher. Als es plötzlich an der Tür klopfte, blieb mir fast das Herz stehen. Man hätte mich wegtragen können, so starr war ich vor Entsetzen. Es klopfte an meiner Tür! Fremde vor meiner Tür! Und ich konnte nichts tun. Ich hätte die Polizei rufen können, doch dazu hätte ich mich bewegen müssen.
Das Geräusch eines Schlüssels, der in mein Türschloss gesteckt wurde, gab mir den Rest. Ich hatte es in der Eile versäumt, die Schlösser zu schließen und die Kette vorzulegen. Mein Körper zitterte und dann wurde mir gnädig schwarz vor den Augen.
Als mein Denken wieder einsetzte, war es eine Stimme, die mich weckte. Eine Stimme, die ich kannte, auch wenn ich sie schon lange nicht mehr gehört hatte. Ich öffnete meine Augen und erkannte, dass ich auf dem Boden in meiner Diele lag. Über mir schwebte ein Gesicht, das mich besorgt ansah.
»Katrin?«, fragte ich mit heiserer Stimme.
»Ja, du verrückter Kerl. Ich bin 's.«
Ich lauschte in mich hinein. Nein, keine Angst. Es war völlig in Ordnung, dass sie da war.
»Was machst du hier? Ich hab Dich nicht mehr gesehen, seit du ... gegangen bist.«
»Ich weiß.«
»Katrin, das ist ein Jahr her. Ein ganzes verdammtes Jahr. Ein Jahr, in dem mich meine Ängste fast um den Verstand gebracht haben. Und jetzt bist du einfach da?«
Katrin presste kurz ihre Lippen zusammen. Sie schüttelte den Kopf. »Nicht einfach. Und Du brauchst auch nicht zu versuchen, mir ein schlechtes Gewissen zu machen. Als ich damals ging, war ich selbst mit den Nerven am Ende. Du und deine fehlende Einsicht haben mich fertiggemacht. Ich hab dir so oft vorgeschlagen, eine Therapie zu machen, aber du hast immer nur geleugnet, diese Phobien überhaupt zu haben. Dabei habe ich sie erlebt, sie am eigenen Leibe erfahren müssen. Wäre ich damals bei dir geblieben, hätte ich selbst auch eine Therapie gebraucht. Ich konnte einfach nicht mehr.«
Ich sah sie fragend an. Die Angst, die ich eigentlich fast ständig spürte, und die mich permanent quälte, war in diesem Moment bedeutungslos. »Und das ist jetzt anders? Weshalb bist du jetzt gekommen? Sag jetzt nicht, die Liebe zu mir hätte dich zu mir zurückgeführt. Nicht, nachdem du vor einem Jahr plötzlich gegangen bist.«
Ihre Augen bekamen einen wütenden Ausdruck. »Spar dir bitte deinen Zynismus. Denkst du, nur Du hättest es schwer? Ich habe dich nicht wegen eines Anderen verlassen, das weißt du. Es ging einfach nicht mehr mit uns beiden. Ich musste allerdings erleben, dass es ohne dich eben auch nicht geht.«
Sie machte eine kurze Pause. »Zugegeben, ich hab mir viel Zeit gelassen, und brauchte sie auch. Aber jetzt weiß ich, dass ich vor einer Verantwortung geflohen bin, der ich damals nicht gewachsen war. Verdammt, Simon, wir wollten heiraten! Da sollte man nicht einfach auseinanderlaufen, wenn es schwierig wird. Wir sollten gemeinsam versuchen, dein und unser Problem zu lösen.«
Sie zog mich an den Armen hoch, und ich lehnte gegen die Wand. Katrin nickte. »Ja, ich bin gegangen, weil ich mit deinen Ängsten nicht mehr zurechtgekommen bin. Das bedeutet aber nicht, dass mir das leichtgefallen wäre, oder ich dich nicht mehr lieben würde. Seit Wochen versuche ich, dich anzurufen, aber du gehst einfach nicht ran. Noch vor einer halben Stunde hab ich es versucht. Da hab ich endgültig den Entschluss gefasst, herzukommen.«
Ich sah sie an und es war wie damals: In ihrer Gegenwart konnte ich atmen, bekam ich Luft und konnte meine Angst beherrschen. Mein Gott, wie sehr hatte ich sie vermisst ...
»Ich hab nicht erwartet, dich so hier vorzufinden«, sagte sie. »Vielleicht hätte ich dich nie verlassen dürfen. Inzwischen bin ich nicht untätig gewesen und habe mit Ärzten gesprochen, die sich auf so etwas spezialisiert haben. Du brauchst so schnell wie möglich eine Therapie.«
Katrin hockte sich neben mich und nahm mich in den Arm. Es tat so unendlich gut. Mit der Hand schob sie mir eine Haarsträhne aus der Stirn und hauchte einen Kuss darauf. »Ich werde dich nicht wieder verlassen«, sagte sie. »Wir stehen das gemeinsam durch. Diese Angstgefühle sind heilbar, das haben mir die Ärzte versichert.«
Ich spürte, wie etwas aus mir herausdrängte. Heftig drängte ich mich an sie und ließ die Tränen einfach laufen, die mir über die Wangen rannen. Es war mir egal, wenn ich nur in Katrins Armen liegen konnte. Sie hatte ja recht. Ich musste mich meinem Problem endlich stellen, akzeptieren, dass ich es überhaupt hatte. Mit Katrins Hilfe würde ich es schaffen.