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Welt im Spiegel
Also, nicht, dass Ihr denkt, mit mir würde etwas nicht stimmen. Ich bin ganz sicher nicht verwirrt, oder so. Meine Freunde würden jeden Eid schwören, dass ich ein absolut rational denkender Mensch bin. Ist vermutlich auch eine Frage meiner Erziehung gewesen. Ihr kennt das ja: Jungs weinen nicht. Indianer kennt keinen Schmerz. Die ganze Palette dieses Schwachsinns. Leider bleibt davon immer etwas hängen. Elaine hat auch immer ihre liebe Not, damit klarzukommen. Elaine ist meine Freundin und wir wohnen seit ein paar Monaten zusammen.
Vielleicht sollte ich sagen: Wir wohnten zusammen. Denn seit fast vierzehn Tagen - sofern mich mein Zeitgefühl nicht täuscht - bin ich mir nicht sicher, ob ich sie jemals wiedersehen werde.
Es hatte alles damit angefangen, dass Elaine mich jedes Wochenende in Möbelgeschäfte geschleift hatte. Sie hatte gemeint, dass es Zeit wäre, ein paar Dinge für unsere Diele anzuschaffen.
Habt Ihr schon mal mit einer extrem emotionalen Freundin versucht, Möbel zu finden, die vor den Augen beider Beteiligter Gnade finden? Ein fast aussichtsloses Unterfangen. Seit wir zusammen waren, hatten wir uns wirklich nicht oft gestritten, aber an diesen Wochenenden geschah es fast jedes Mal. Es war furchtbar.
Schließlich einigten wir uns darauf, dass sie allein über unsere Diele entscheiden darf, wenn ich dafür die Gestaltung des Wohnzimmers übernehmen darf. Glücklich über diesen Kompromiss, wusste ich noch nicht, was mir bevorstand - ebensowenig, wie Elaine.
Ihr hatten es alte, aufgearbeitete Weichholzmöbel aus einem Antik-Shop in der Innenstadt angetan. Ich hab es nicht zugegeben, aber ich fand sie grässlich. Ich konnte noch nie etwas mit diesen vielen verspielten Schnörkeln anfangen. Ja, okay, die Sachen waren verblüffend preiswert und sicher auch nicht schlecht verarbeitet - aber sie waren eben alt. Alt und etwas wurmstichig. Elaine meinte, gerade das mache ihren Reiz aus, aber ... na ja.
Am Schlimmsten fand ich einen großen Spiegel in einem aufwändig gearbeiteten Holzrahmen, der so groß war, dass wir uns darin komplett sehen konnten. Dieser Spiegel war Elaines ganzer Stolz. Jedes Mal, wenn sie sich fertigmachte, um zur Arbeit zu gehen, oder wenn wir mit Freunden ausgehen wollten, drehte sie sich vor diesem Spiegel und überprüfte ihre Erscheinung. Ihr gefiel diese Monströsität und ich hielt mich vornehm zurück, da wir ja einen Deal geschlossen hatten.
»Dieser Spiegel vergrößert unsere kleine Diele enorm«, sagte sie immer.
Ich hätte nie geahnt, wie recht sie damit hatte.
Es geschah vor etwa zwei Wochen. Ich stand im Bad und wollte mich rasieren, als die Beleuchtung an unserem Badezimmerschrank über dem Waschbecken ausfiel. Der einzige Spiegel mit einer guten Beleuchtung ist ausgerechnet Elaines »Schmuckstück« in der Diele, also lief ich in die Diele, um mein Werk dort zu vollenden. Noch nie hatte ich mit meinem Gesicht so dicht vor dem Spiegel geklebt. Erst spürte ich es nicht, doch irgendwann - ich wischte eben die Reste des Rasierschaums weg - hatte ich das Gefühl, als ginge von dem Spiegel etwas aus. Ich weiß, Ihr haltet mich jetzt für verrückt, aber es war, als ziehe mich die Spiegelfläche an. Mir wurde regelrecht schwindelig und ich wollte einen Schritt zurück machen. Dabei strauchelte ich, versuchte, mich festzuhalten und stürzte.
Als ich mich wieder aufrappelte, stand ich zwar immer noch in unserer Diele, doch etwas war anders. Manchmal ist man ja schwer von Begriff, und so dauerte es eine Weile, bis ich verstand, was mich störte: Alles war seitenverkehrt!
Ich fuhr herum und blickte in den Spiegel. Er zeigte die Diele. Was auch sonst? Nur, dass im Spiegel mein Rasierzeug auf dem Boden gelandet war, und dort, wo ich stand, nichts davon zu entdecken war. Eiskalt lief es mir über den Rücken, als ich begriff, dass ich mich selbst nicht im Spiegel sehen konnte.
Was ging hier vor? Spiegel als Tore zu fremden Welten? Fantasy sind doch nur Geschichten! So etwas konnte es nicht geben - und dennoch stand ich hier und starrte fassungslos auf den Raum, in dem ich eben noch gestanden und mich rasiert hatte. Mit der Hand tastete ich vorsichtig auf die Oberfläche des Spiegels. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber die Oberfläche fühlte sich glatt und kühl an - und natürlich absolut undurchlässig.
Hab ich vorhin gesagt, ich wäre ein rationaler Typ? Vergesst es! In diesem Moment machte sich Panik in mir breit. Es konnte nicht sein, und doch war ich irgendwo gefangen. Doch warum war das geschehen? Wer trug die Schuld daran? Und die wichtigste Frage: Wie kam ich wieder zurück?
Elaine ging mir durch den Kopf. Wie würde sie reagieren, wenn ich plötzlich verschwunden war? Ich hatte mit einem Mal Angst.
Nachdem ich gefühlte tausend Mal versucht hatte, den verdammten Spiegel von dieser Seite zu durchdringen, setzte ich mich auf die seitenverkehrte Dielenkommode, um nachzudenken. Ich glaubt nicht, was einem alles durch den Kopf schießt, wenn man in einer so skurrilen Situation steckt. Ein Psychiater hätte an mir seine helle Freude gehabt.
Irgendwann erhob ich mich und begann, mich umzusehen. Sobald ich die Diele verlassen hatte, befand ich mich in fremden Zimmern. Hinter jeder Tür existierte ein anderes Zimmer, aber niemals eines, das ich kannte. Auffällig nur, dass es in jedem dieser Räume einen großen Spiegel gab, in dem ich mich selbst nicht sehen konnte.
Anfangs ging ich noch vorsichtig und tastend durch die Räume, aber irgendwann, als mich die Panik wieder anfiel wie ein Tier, rannte ich nur noch hindurch - blind und orientierungslos. Schwer atmend setzte ich mich schließlich auf einen Stuhl in einer fremden Küche. Wie sollte ich jemals wieder aus diesem Labyrinth in meine Welt zurückfinden? Musste ich jetzt für alle Zeit in dieser Welt herumlaufen? Ich brüllte meine ganze Panik aus mir heraus. Natürlich half das kein Bisschen, aber ich fühlte mich für einen kleinen Moment besser.
Ich spürte, dass ich an dem Morgen noch nichts gefrühstückt hatte. Mein Magen knurrte verdächtig. Da ich in einer Küche saß, stand ich auf und öffnete den Kühlschrank. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass es sich um eine Kulisse handelt, um einen gigantischen Fake, aber nein, der Kühlschrank funktionierte und war sogar recht gut gefüllt. Ich nahm mir Milch heraus und fand in den Schränken sogar Cornflakes und eine Schale.
Gesättigt fühlte ich mich zwar besser, aber an meiner Situation hatte sich nichts geändert. Ich schlenderte durch weitere Zimmer, Bäder, Küchen und betrat schließlich einen Raum, in dem Musik erklang. Nach der bisherigen Stille überall irritierte mich das. Ich blickte mich um und erstarrte, als ich jemanden auf einer Couch sitzen sah.
Mit untergeschlagenen Beinen saß dort eine dunkelhäutige junge Frau - vielleicht in meinem Alter. Minutenlang starrten wir uns nur stumm an. Schließlich deutete ich mit dem Finger zunächst auf sie, dann auf mich. »Du mich verstehen?«
Das Gesicht der Frau umwölkte sich kurz, dann setzte sie ein spöttisches Lächeln auf. »Du Tarzan?«
»Was?«
»Du kannst Dich mit mir ganz normal unterhalten, wollte ich damit sagen.«
Mir war es unsagbar peinlich, und man muss es mir angesehen haben. »Entschuldige, ich hab gedacht ...«
Sie nickte. »Ich weiß. Ein dunkelhäutiges Mädchen, das muss ja direkt aus dem Dschungel kommen.«
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. »Ich wollte wirklich nicht ...«
Sie winkte ab. »Vergiss es, okay. Ich bin Melissa. Wie heißt Du?«
»Max. Lebst Du hier, Melissa?«
Sie rollte mit den Augen. »Was man so leben nennt, in diesem Spiegellabyrinth. Ich bin schon eine Weile hier. Wie lange, kann ich nicht sagen. Man verliert das Zeitgefühl.«
Ich war auf einmal aufgeregt. »Gibt es noch andere hier? Weißt Du, was das hier alles soll - und wie man hier wieder herausfindet?«
»Komm mal wieder runter. Wir sind vielleicht nicht die Einzigen hier, aber Du bist der Erste, dem ich begegne. Bist Du auch durch einen Spiegel gefallen?«
Ich nickte. »Genau so war es. Was weißt Du darüber, Melissa?«
»Vermutlich nicht viel mehr als Du. Sie haben halt ihren Spaß daran.«
»Sie?«
»Ja, sie. Die Schöpfer dieses Labyrinths. Jemand muss es geschaffen haben. Ich hab lange überlegt und bin zu der Überzeugung gelangt, dass wir die Mäuse in einem Labyrinth sind.«
»Und zu welchem Zweck?«
»Um uns zu testen? Zum Spaß? Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist es ja auch kein Zufall, dass wir uns begegnet sind.«
Ich überlegte. »Du redest jetzt von Schicksal?«
Melissa lachte auf. »Ich rede von denen, Du schicksalhafte Erscheinung. Vielleicht wollen sie sehen, ob wir es gemeinsam schaffen, den Ausgang zu finden.«
»Wir brauchen einen Plan.«
Sie nickte. »Genau. Ich hab mir überlegt, dass man, wenn man konsequent immer die rechte von zwei Türen wählt, irgendwann alle Räume durchwandert haben muss.«
Ich dachte nach. »Ich hab vorhin schon Zimmer mit mehreren Türen gesehen.«
»Ja, das ist der Haken an meinem Plan. Das macht es komplizierter.«
»Wonach suchen wir eigentlich genau? Ich weiß ... den Ausgang. Aber würden wir ihn auch erkennen, wenn wir ihn gefunden haben?«
»Vermutlich ist es etwas Auffälliges. Es hätte doch sonst keinen Sinn, oder?«
Melissa hatte ich im ersten Moment völlig falsch eingeschätzt, und es tat mir noch immer leid. Sie war eine regelrechte Schönheit mit ihren schwarzen Haaren, dem knallroten T-Shirt und der engen Jeans. Das Shirt bildete einen tollen Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Sie hatte einen äußerst wachen Verstand und ich hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, weil ich so saublöd auf sie zugegangen war.
»Wir wollen hoffen, dass es so ist«, sagte ich. »Versuchen wir es halt. Wir starten hier und wählen in jedem Raum die äußerste rechte Tür.«
Ich wandte mich schon zum Gehen, als Melissa mich rückrief. »Wir müssen ein Zeichen setzen, dass wir hier waren. Ich hab Filzschreiber gefunden.«
Sie schrieb eine große Null auf die Wand. »Jetzt können wir gehen. Am besten zählen wir die Räume durch, dann haben wir auch gleich eine Vorstellung davon, wie groß dieses Labyrinth ist.«
In den nächsten Stunden durchschritten wir zahlreiche Zimmer. Wir schrieben gerade die Zahl 276 an die Wand, als ich im Spiegel dieses Raumes eine Bewegung wahrnahm. Ich schaute genauer hin und erstarrte. Auf der anderen Seite des Spiegels stand Elaine, die ihre Haare richtete. Ihre Augen blickten unendlich traurig.
»Elaine!«, brüllte ich und schlug mit den Fäusten gegen den Spiegel. »Elaine! Hier bin ich! Ich bin Dir ganz nah!«
Melissa zog mich sanft vom Spiegel weg. »Sie kann Dich nicht hören. Dieser Spiegel ist kein Tor. Es ist nicht der perfekte Spiegel.«
Ich sah sie fragend an. »Perfekter Spiegel?«
»Ach, ich nenne ihn halt so. Den Spiegel, der mir den Zugang zu meiner Welt öffnet.«
»Und wo wäre das?«, fragte ich. »Von wo stammst Du?«
»Berlin. Eigentlich stamme ich aus Hannover, aber ich studiere in Berlin. Dort bin ich auch in den Spiegel gestürzt. Warum fragst Du?«
»Ich wohne in Essen und es geschah in meiner Wohnung. Das Labyrinth ist also vollkommen unabhängig von einer Ortsangabe. Es erstreckt sich wer-weiß-wohin.«
Melissa dachte nach. »Wer kann so etwas bauen? Oder sollte ich sagen: erschaffen? Das ist doch wissenschaftlich nicht zu erklären.«
»Das ist mir schon länger klar. Aber es ist mir auch gleichgültig. Ich will einfach nur nach Hause.«
Melissa deutete auf den Spiegel, in dem noch immer Elaine zu sehen war. »Deine Freundin? Schwester? Oder bist Du verheiratet?«
»Freundin. Wir wohnen seit ein paar Monaten zusammen. Warum?«
»Na ja, da wir nicht wissen, wie lange wir hier zusammen festsitzen, ist es ja nicht uninteressant, ob Du vergeben bist. Sollen wir weitergehen?«
»Und Du?«, fragte ich, während wir die nächsten Räume markierten. »Hast Du einen Freund?«
Sie schmunzelte. »Nein, im Moment nicht.«
Die Suche nach etwas Besonderem in den Zimmern, das Zählen, das Betrachten der Spiegel - es ermüdete uns sehr. Irgendwann beschlossen wir, abzubrechen und erst mal zu schlafen. Es gab immer wieder auch Schlafzimmer und so war es kein Problem, ein gutes Lager für die Nacht zu finden. Da wir es nicht wagten, uns zu trennen, einigten wir uns darauf, ein Doppelbett zu teilen.
Als Melissa sich müde neben mir unter ihrer Decke rekelte, war ich fast versucht, ihr einen Kuss zu geben, zuckte jedoch bei dem Gedanken zurück. Ich kam mir schäbig vor, nach nur einem Tag, den ich von Elaine getrennt war.
Am Morgen machten wir uns frisch und frühstückten in der nächsten verfügbaren Küche, bevor wir uns wieder auf den Weg machten. Inzwischen schrieben wir Zahlen an die Wände, die größer als 600 waren und es schien kein Ende zu nehmen.
Ich betrat gerade wieder eine Küche, als mir die Zahl 75 entgegenprangte, die in Melissas Schrift an der Wand stand. »Scheiße!«
Melissa kam angelaufen. »Was ist denn?«
Ich deutete auf die Zahl. »Der Kreis hat sich geschlossen, aber nicht so, wie wir das gehofft haben.«
Sie setzte sich. »Es war umsonst. Was machen wir jetzt?«
»Plan B? Wir nehmen einfach ab jetzt die linken Türen.«
Sie sah mich zweifelnd an. »Hältst Du das für eine gute Idee?«
»Alles andere wäre Schwachsinn. Wir würden sonst im Kreis laufen.«
Melissa zog ihre Stirn kraus, wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte. »Du hast recht. Also los!«
In den folgenden Stunden malten wir wieder fleißig unsere Nummern an die Wände und fügte noch einen Hinweis hinzu, dass wir links abbiegen. Ich weiß nicht, wie lange wir schon wieder unterwegs waren, als Melissa plötzlich auf einen Spiegel deutete. »Max! Schau!«
Ich folgte ihrem Blick und wusste, was sie meinte: In dem Spiegel waren wir zwei zu sehen. In keinem der bisherigen Spiegel war das der Fall gewesen. Wir näherten uns und versuchten, zu erkennen, wo sich unsere Spiegelbilder befanden. Es war etwas Besonderes daran, ohne, dass ich sagen könnte, was mir aufgefallen war. Melissa war es, die es bemerkte. »Sie halten sich an den Händen. Sieh doch!«
Sie hatte recht. Max und Melissa hielten sich an den Händen. Noch während wir fassungslos zwischen uns und unseren Doppelgängern hin und her blickten, geschah etwas. Sie wandten sich plötzlich einander zu, nahmen sich in den Arm und küssten sich leidenschaftlich.
Verständnislos schauten wir uns an. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich.
»Das ist es!«, rief Melissa aus. »Das Zeichen, das wir gesucht haben.«
»Das soll ein Zeichen sein? Melissa, wir sind kein Paar!«
»Eben.« Sie wandte sich mir vollständig zu. »Los! Nimm mich in den Arm und küss mich!«
»Melissa ich ...«
»Nun mach schon! Oder findest Du mich so widerlich?«
Einen Versuch war es zumindest wert. Zögernd nahm ich sie in den Arm und spürte überrascht, wie gut es sich anfühlte. Ich küsste sie erst sanft, doch bald wurde es leidenschaftlicher. In diesem Moment gab es keine Elaine, sondern nur Melissa und mich. Die Welt begann sich zu drehen, und ich klammerte mich Halt suchend an Melissa, als schließlich alles um mich versank.
»Max? Ist alles in Ordnung?«
Ich verstand zunächst nicht, bis ich begriff, dass es Elaines Stimme war, die ich hörte. Ich schlug meine Augen auf und sah ihr besorgtes Gesicht über mir. Ihre langen Haare kitzelten mich im Gesicht. »Hast Du geträumt?«
Ich richtete mich ruckartig auf. Meine Haare klebten am Kopf und ich fühlte mich am ganzen Körper schweißnass. »Ich bin ... Ich war ... Es muss ein Albtraum gewesen sein. Ich fühle mich schrecklich.«
Elaine tupfte mir mit einem weichen Tuch die Stirn und küsste mich sanft. »Aber es ist alles in Ordnung, Schatz. Du liegst in Deinem Bett und ich bin bei Dir. Komm, rutsch zu mir rüber! Ich pass auf, dass Du jetzt ruhig schläfst.«
Ich seufzte dankbar und schmiegte mich in ihren Arm, wie sonst ich sie hielt. Meine Nerven beruhigten sich allmählich. Dieser Traum hatte mich total aufgewühlt. Es war so verdammt realistisch gewesen. All die Räume, die Spiegel und dann Melissa. So was konnte man doch nicht so ohne Weiteres träumen, oder? Die Müdigkeit übermannte mich und ich versank in einen tiefen Schlaf.
Am Morgen fand ich das Bett neben mir leer vor, als ich die Augen aufschlug. Aus der Küche erklang das Geklapper von Geschirr, also war Elaine bereits aufgestanden. Ich stand auf, um ihr beim Frühstück zu helfen. Als ich durch die Diele ging, blieb ich kurz vor dem großen Spiegel stehen. Nichts deutete darauf hin, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Trotzdem beschloss ich, dass er verschwinden musste, auch wenn Elaine daran hing. Es würde sich noch ein passender Moment ergeben, es ihr zu sagen.
»Ah, Max!«, rief meine Freundin fröhlich, als sie mich sah. »Schon wach geworden? Ich wollte Dich nach dem Albtraum einfach ausschlafen lassen. Aber jetzt kannst Du mir auch Gesellschaft leisten. Ich werd gleich abgeholt.«
»Abgeholt?«
»Ja, ich muss heute nicht mit der Bahn fahren. Wir haben eine neue Praktikantin aus Berlin in der Firma, die für ein halbes Jahr bei uns arbeitet. Wir haben fast denselben Weg und sie hat ein Auto. Als sie erfuhr, wo ich wohne, bot sie gleich an, mich mitzunehmen. Das ist doch nett, oder?«
Ich nickte. »Ja, das ist wirklich nett von ihr. Aus Berlin, sagst Du?«
Es klingelte an der Tür.
»Ah, da ist sie schon. Kannst Du sie reinlassen? Ich bin nur noch kurz im Bad, bin aber sofort fertig.«
Ich betätigte den Türöffner und zwei Minuten später klopfte es an der Wohnungstür. Ich öffnete die Tür und erstarrte mitten in der Bewegung. Vor mir stand eine schlanke, dunkelhäutige Frau mit langen, schwarzen Haaren. Wir starrten uns sekundenlang stumm an.
»Willst Du meine Kollegin nicht hereinbitten?«, fragte Elaine aus dem Bad.
Stumm trat ich zur Seite und deutete der Frau, einzutreten.
Meine Freundin kam aus dem Bad und griff in der Diele nach ihrer Jacke. »Max, darf ich Dir Melissa vorstellen? Sie ist so nett, mich ab jetzt morgens mitzunehmen. Vielleicht sollten wir uns revanchieren und sie mal zum Essen zu uns einzuladen. Sie ist auch noch neu in der Stadt.«
»Ja, das sollten wir tun«, sagte ich verstört und konnte meinen Blick nicht von Melissa nehmen. Auch sie sah mich prüfend an, sagte aber nichts. Kannte sie mich nun, oder kannte sie mich nicht? Woher kannte ich sie? Hatte Elaine mir schon mal von ihr erzählt? Wie kam sie sonst in meinen Traum? So musste es gewesen sein.
»Wir müssen los«, sagte Elaine und küsste mich schnell auf den Mund.
Melissa lächelte mich an und zwinkerte mir zu, bevor sie meiner Freundin folgte und die Tür hinter sich zuzog.
Ich blieb mit vielen Fragezeichen zurück. Minutenlang starrte ich auf die Tür, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Dann wusste ich, was zu tun war.
Ich ging in mein Arbeitszimmer, wo mein Werkzeugkasten stand. Ich holte einen schweren Hammer heraus, wog ihn in der Hand und kehrte in die Diele zurück. Vor dem Spiegel blieb ich stehen. Es war, als wollte er mich von meinem Entschluss abbringen. Ich starrte in das Gesicht, das mir daraus entgegenblickte. War ich verrückt? Spielte mir mein Verstand einen Streich? Beinah hätte ich den Hammer zurückgebracht, als ich sah, dass die Gestalt im Spiegel leicht den Kopf schüttelte. Ich hatte aber nicht meinen Kopf geschüttelt.
Mit einem Aufschrei hob ich den Hammer und schlug zu. Der Spiegel zersprang in Tausend Teile und das Glas verteilte sich über den gesamten Boden. Es war mir gleich. Immer wieder hob ich den Hammer, bis auch der Rahmen nicht mehr zu gebrauchen war. Erst dann fühlte ich mich besser und hatte das Gefühl, mich von dem Albtraum befreit zu haben.
Ich würde Elaine einiges zu erklären haben, wenn sie nach Hause kam. Ich hoffte, sie würde es verstehen. Aber aufräumen musste ich auf jeden Fall. Ich ging ins Bad, wo Handfeger und Dreckschaufel aufbewahrt wurden.
Als ich das Licht im Bad einschaltete, entfuhr mir ein Schrei.
An der Wand über der Badewanne prangte die Zahl 622 in Melissas Handschrift.