Der Fremde in der Dämmerung

 

Im Grunde mag ich Tiere. So natürlich auch Lorbass, unseren Schnauzer. Nach zwölf Jahren bei uns im Haus gehört er einfach zur Familie. Trotzdem gibt es Tage, an denen zieht es einen nach einem langen Tag einfach nicht mehr nach draußen. Aber erklärt das mal einem Hund, der sich wie toll gebärdet, wenn man sich dem Haken in der Diele nähert, an dem seine Leine hängt.
»Das kannst du ihm nicht antun«, hatte Karin gesagt. »Dann drehst du eben nur eine kleine Runde. Ich würd’s ja selbst machen, aber du weißt ja ...«
Ja, ich wusste, was sie meinte. Karin war schon seit einiger Zeit nicht fit und die Ärzte konnten sich einfach keinen Reim darauf machen. Immer wieder diese Schwächeanfälle und die Untersuchungsbefunde gaben nichts her. Ich bin mir zwar nicht sicher, aber es scheint eher schlimmer zu werden als besser. Ich machte mir große Sorgen um sie.
»Leg dich etwas hin und ruh dich aus«, sagte ich, als ich Lorbass an die Leine nahm, meine Jacke überstreifte und die Haustür aufschloss. »Ich laufe mit dem Hund ein Stück am Kanal entlang.«
Der Kanal war nicht weit von unserem Haus entfernt und Lorbass kannte den Weg genau. Trotzdem hielt er an jeder Ecke, jedem Busch und schnüffelte daran herum. Ich musste lächeln. Natürlich liest unsereins ja auch täglich die Zeitung. Für ihn musste es ähnlich sein.
Der Sommer war im Grunde vorbei, und die Tage wurden deutlich kürzer, aber es war ein relativ warmer Tag gewesen, und jetzt, wo die Sonne allmählich unterging, sah man die ersten schwachen Nebelschwaden über dem Wasser des Kanals aufsteigen. Karin fand, dass es eine unheimliche Atmosphäre heraufbeschwor, aber ich liebte das schon immer. Ich kann es nicht erklären, aber mich beruhigte es immer, diese Schwaden über das Wasser ziehen zu sehen. Um diese Zeit waren keine Frachtkähne mehr unterwegs. Die Wasseroberfläche lag spiegelglatt, und der Dunst darüber wirkte fast ein wenig lebendig. Sollte es noch kühler werden, könnte es der erste richtige Nebel in diesem Spätsommer werden.
Ich löste Lorbass von der Leine und ließ ihn laufen. Der Hund schnüffelte weiterhin an allem, was seine feine Nase fand, und von Zeit zu Zeit hob er sein Bein und markierte eine Stelle. Ich versank in Gedanken. Um Lorbass musste ich mich nicht kümmern. Er blieb meist in meiner Nähe, und solange uns niemand entgegenkam, brauchte ich ihn nicht an die Leine zu nehmen.
Wir waren etwa eine halbe Stunde unterwegs, als Lorbass plötzlich zu mir zurückkehrte, und an meiner Seite blieb. Das war höchst ungewöhnlich und geschah meist nur, wenn ihn etwas beunruhigte. Seine dunklen Knopfaugen blickten mich an, und wie schon so oft, wünschte ich, er könnte sprechen. So beugte ich mich zu ihm hinab und kraulte ihn hinter den Ohren, wo er es gern hatte. »Na, mein Alter? Was beunruhigt dich? Hast du was gerochen? Du brauchst dir keine Gedanken machen. Ich bin ja bei dir.«
Sonst lief er oft gleich wieder los, doch diesmal verharrte er an meiner Seite. Ich starrte in die beginnende Dämmerung hinein und fragte mich, was Lorbass wohl hatte.
Nach einiger Zeit erreichten wir die alte Holzbank, auf der ich meist eine Pause machte, bevor es wieder zurück nach Hause ging. Überrascht stellte ich fest, dass dort jemand saß. Ein Mann mit einem breitkrempigen Hut, gehüllt in einen langen Mantel - eigentlich etwas übertrieben für diese Jahreszeit. Erst wollte ich weitergehen, doch etwas hielt mich zurück.
»Hätten sie etwas dagegen, wenn ich mich einen Moment zu ihnen setze?«
Der Mann wandte sich mir langsam zu und sah mich zunächst schweigend an. Ich bemerkte, dass er alt sein musste, denn sein bis zu den Schultern hängendes Haar war fast weiß und sein Gesicht von vielen Falten gefurcht. Sein Blick hatte etwas Hartes, Unerbittliches - wirkte irgendwie unangenehm. Doch nun hatte ich ihn gefragt. Am liebsten wäre ich jetzt einfach weitergegangen, doch wollte ich nicht unhöflich erscheinen.
Er wies mit seiner knochigen Hand auf das andere Ende der Bank. Seine Stimme war rau und tief. »Bitte! Nehmen sie Platz. Mich stört es nicht.«
»Wenn sie lieber allein sein möchten ... Ich kann auch weitergehen.«
Er verzog einen Mundwinkel nach oben, was sein Gesicht maskenhaft erscheinen ließ. »Ich sagte, es stört mich nicht. Sie mögen mich nicht, was?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte nur den Eindruck, dass ...«
Er unterbrach mich mit einer wischenden Bewegung seiner Hand. »Reden Sie nicht, wenn sie es nicht so meinen. Sie mögen mich nicht.« Er deutete auf Lorbass, der mit eingeklemmtem Schwanz neben mir hockte. »Und Ihr kleiner Vierbeiner dort mag mich auch nicht.«
Sein Blick traf mich erneut. »Nun setzen Sie sich schon. Ich beiße nicht.«
Wie ferngesteuert, nahm ich Platz und sah ihn verstohlen an. Ich hatte das Gefühl, als müsste ich ein Gespräch anzetteln, obwohl ich nicht wusste, worüber ich mit dem Alten reden sollte.
»Sie sind nicht von hier, oder?«, fragte ich ihn.
Er schüttelte fast unmerklich den Kopf und lachte leise auf. »Nein, das bin ich gewiss nicht. Ganz im Gegenteil. Aber was erzähle ich? Das kann sie ja nicht interessieren.«
»Wieso? Wo sind sie denn zu Hause?«
»Zu Hause? Einer wie ich hat kein Zuhause. Mir muss es reichen, von Zeit zu Zeit innezuhalten und etwas auszuruhen zu können.«
»Sie haben kein Zuhause?«, fragte ich überrascht. »Niemanden, zu dem sie gehen könnten? Das tut mir leid für sie.«
Er wandte sich mir zu. Jedes Mal, wenn sein Blick mich traf, hatte ich den Eindruck, als würde es eine Spur kälter, aber das musste Einbildung sein. Der Nebel über dem Kanal war dichter geworden.
Er lächelte zum ersten Mal. »Das meinen sie sogar Ernst. Es tut ihnen wirklich leid. Das geschieht nicht oft. Aber machen sie sich keine Sorgen um mich. Ich bin schon sehr alt und habe Dinge gesehen, die sie nie gesehen haben, und die sie auch niemals sehen sollten. Ich bin mit allem fertig geworden. Doch es wird schwieriger.«
»Im Alter wird alles schwieriger. Aber sie scheinen zumindest noch gesund zu sein, oder irre ich mich?«
»Was wissen Sie schon über das Alter? Wie alt sind Sie? Ich könnte der Sache auf den Grund gehen, aber ich schätze, dass sie höchstens Mitte dreißig sind. Was wollen sie mir über das Alter erzählen, das ich nicht längst weiß? Sie haben ja keine Ahnung ...!«
Der heftige Ausbruch des Alten hatte mich erschreckt. Irgendwie hatte er mit seiner Bemerkung gleich zu Beginn recht. Es fiel schwer, ihn zu mögen. Andererseits: Vielleicht wurde man im Alter so, wenn man niemanden mehr hatte, und unter Umständen nicht mal einen festen Wohnsitz. Ich startete einen weiteren Versuch.
»Sie müssen mich nicht gleich so anfahren. Ich wollte nur höflich sein. Haben Sie wirklich niemanden? Keinen, zu dem Sie gehen könnten? Es gibt da doch sicherlich Möglichkeiten ...«
»Lassen sie es! Für mich gibt es das alles nicht. Es würde mich behindern. Es hat mit dem zu tun, was ich tue.«
»Mit dem, was Sie tun?«, fragte ich. »Sind Sie noch berufstätig?«
Wieder dieses verhaltene Lachen. Glauben sie an das Schicksal, junger Mann?«
»Ja, irgendwie schon.«
»Sehen sie? Und mein Schicksal muss es sein, allein zu sein - Gesellschaft zu meiden. Obwohl ich gestehen muss, dass ich unsere Unterhaltung genieße.«
Das überraschte mich völlig. »Sie genießen es? Bisher waren sie dafür mehr als einsilbig und haben sich alle Mühe gegeben, mich wieder loszuwerden.«
Er schwieg einen Moment, als müsse er überlegen. »Vermutlich war es sogar so. Dabei wollte ich nicht abweisend wirken. Es ist ... nicht leicht für mich, normale Gespräche zu führen, die für Euch selbstverständlich sind. Ich bin es einfach nicht mehr gewöhnt. Wann immer ich zu jemandem komme, begegne ich nur Ablehnung und Angst. Das ist auch für mich nicht einfach.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich hab es so satt.«
Sein Gesicht wandte sich mir wie in Zeitlupe zu.
Was ist mit ihnen? Sie haben ein Zuhause, nicht wahr? Ihren Vierbeiner kenne ich ja jetzt schon. Sie haben sicher auch eine Frau und ein gemütliches Heim. Hab ich recht?«
Ich nickte. »Ja, ich bin seit beinahe zwölf Jahren glücklich verheiratet.« Mir schoss durch den Kopf, dass Karin krank war und ich Angst hatte, dass es etwas Ernstes sein könnte, auch wenn die Ärzte bis jetzt nichts feststellen konnten. Der Alte musste meine Besorgnis bemerkt haben. Sein Blick wurde forschend und ich bekam eine Gänsehaut, die meinen gesamten Körper erfasste. »Wollen sie darüber reden?«
»Worüber sollte ich reden wollen?«
»Sie wissen, was ich meine.«
Ich schluckte. Woher wusste er es? Eigentlich wollte ich nicht darüber reden, doch der Blick des Fremden hatte etwas Zwingendes.
»Meine Frau ist leider seit einiger Zeit krank, wissen sie? Ich hab einfach Angst um sie, wenn Sie verstehen? Aber warum erzähle ich Ihnen das überhaupt - einem völlig Fremden?«
»Sie können mir alles erzählen. Bei mir sind solche Dinge sicher aufgehoben. Ich bin gewiss nicht schwatzhaft. Meine Tätigkeit lässt das nicht zu. Ich wusste schon gar nicht mehr, dass ich eine Stimme habe. Allein dafür, dass sie mich quasi gezwungen haben, mit ihnen zu sprechen, bin ich ihnen dankbar.«
Der Mann machte auf mich einen äußerst zwiespältigen Eindruck. Einerseits umgab ihn eine eigenartige Aura, bei der ich mich unwohl fühlte. Lorbass schien das ebenfalls zu spüren, denn ich hatte ihn noch nie so still und verschüchtert erlebt. Andererseits tat er mir auch irgendwie leid. Er war unbestritten schon sehr alt und hatte offenbar nicht einmal jemanden, mit dem er sich unterhalten konnte. Nur, was redete er dauernd von einer Tätigkeit? In seinem Alter sollte man seinen wohlverdienten Ruhestand genießen. Das machte mich neugierig.
»So, wie Sie das erzählen, scheinen Sie noch immer berufstätig zu sein. Sollten Sie sich in ihrem Alter nicht längst ruhig zurücklehnen und die letzten Jahre als Rentner genießen? Entschuldigen Sie, dass ich das so sage ...«
Der Mann lachte. Zum ersten Mal fiel etwas von dieser unangenehmen Aura von ihm ab. »Ich als Rentner. Das würde was werden. Aber Sie haben natürlich recht. Aus Ihrer Sicht müsste ich längst im Ruhestand sein, wie das bei Euch heißt. Leider ist mir das nicht vergönnt. Aber Sie wollten von ihrer Frau erzählen ...«
Ich schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich das nicht. Sie erzählen mir ja schließlich auch nichts Konkretes über sich, oder irre ich mich?«
Er lachte wieder. »Ertappt. Ich erzähle nie jemandem darüber, was ich tue. Aber ich mag Sie. Wenn Sie mir Ihre Geschichte erzählen, dürfen Sie mir einige Fragen stellen und ich verspreche, sie wahrheitsgemäß zu beantworten.«
Ich sah ihn forschend an. Meinte er das ernst? Er wirkte noch immer unheimlich, auch wenn inzwischen ein Gespräch in Gang gekommen war. Selbst, wenn er lachte, wirkte sein Gesicht wie eine Maske und seine Augen hatten einen undeutbaren, abwesenden Ausdruck. Ich weiß nicht, wieso, aber ich begann zu erzählen. Ich erzählte ihm davon, wie Karin und ich uns kennengelernt hatten, wie wir uns verliebt und schließlich geheiratet hatten. Kinder hatten wir uns gewünscht, doch es hatte einfach nicht geklappt. Wir hatten uns beide von Spezialisten untersuchen lassen und der Befund, dass Karin keine Kinder bekommen konnte, war ein heftiger Schlag für uns gewesen. Karin hatte es bis heute nicht verwunden. Ich hatte ihr Lorbass gekauft und gehofft, dass der Hund ihr zumindest ein geringer Ersatz sein könnte, dass sie wenigstens ihr schönes Lächeln wiederfinden würde.
Der Fremde hörte mir zu, ohne mich auch nur ein einziges Mal zu unterbrechen. Als ich dann erzählte, dass meine Frau krank geworden war und ich mir große Sorgen um sie mache, zog er eine Augenbraue hoch, als wäre er überrascht und müsse überlegen.
Als ich fertig war, sah ich ihn erwartungsvoll an.
»War es das?«, fragte er. »War das Ihre ganze Geschichte? Dann dürfen sie mich jetzt fragen, was sie auf dem Herzen haben. Ich kann allerdings nicht versprechen, dass Ihnen meine Antworten gefallen werden.«
Immer wieder diese Andeutungen ... Ich atmete tief durch. »Okay, dann hätte ich gern gewusst, was Ihr Beruf ist, oder womit Sie sich beschäftigen.«
Er wandte sich ab und blickte auf den inzwischen dunklen Kanal hinaus. Ich glaubte schon, er würde schweigen, doch dann sprach er mit seiner tiefen, rauen Stimme.
»Ich bin nicht das, als das ich erscheine. Ich bin weitaus älter als sie vielleicht annehmen. Trotzdem gibt es für mich keinen Ruhestand, wie ihr ihn kennt. Irgendwie beneide ich euch darum. Ich bin zuständig für die Seelen der Menschen.«
»Seelen? Sind Sie so etwas wie ein Priester?«
»Oh nein. Obwohl auch ein Priester sich mit den Seelen der Menschen beschäftigt, da haben Sie schon recht. Meine Aufgabe beginnt dort, wo das Leben der Menschen zu Ende ist. Ich passe auf die Seelen auf, damit ihnen nichts geschieht.«
Ich verstand nicht. Vielleicht weigerte ich mich auch, ihn zu verstehen. Auf jeden Fall spürte ich plötzlich wieder das Unheimliche, das ihn umgab.
»Haben Sie keine weiteren Fragen an mich?«, fragte er, als er mein Schweigen bemerkte. »Wissen Sie nun, mit wem Sie hier auf dieser Bank sitzen?«
Ich spürte einen dicken Kloß im Hals, der durch Schlucken einfach nicht weichen wollte. »Ich bin mir nicht sicher. Sie leisten Sterbehilfe?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich stehe auf der anderen Seite. Meine Klienten sind bereits aus Eurer Welt geschieden. Es gibt viele Namen für mich, und nicht alle sind schmeichelhaft, dabei beschütze ich doch nur die Seelen der armen Verstorbenen, begleite Sie an ihr endgültiges Ziel.«
Mir wurde schwindelig. »Dann sind Sie ...?«
»Der Tod. Richtig.«
Eine Kälte kroch an meinem Rückgrat empor. Es war die pure Angst. Ich war gewiss nicht leichtgläubig, aber ich zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass der Fremde jedes Wort genau so meinte, wie er es gesagt hatte.
»Aber es kann doch nicht sein, dass ich ... Ich meine, ich bin doch noch nicht so alt und ich bin auch nicht ...«
Er wischte meine Einwände mit einer Handbewegung weg. »Was erwarten Se? Dass ich ihnen jetzt sage, ich müsse ihre Seele mitnehmen? So läuft das nicht. Sie müssen keine Angst haben. Niemand muss sich vor mir fürchten. Ich töte doch niemanden. Ich kümmere mich nur um jene, deren Uhr abgelaufen ist. Und selbst das wird in eurer Welt immer schwieriger, weil Ihr so viele seid. Nein, nein, leben Sie erst mal Ihr Leben zu Ende. Wir werden uns noch früh genug wiedersehen.«
»Sie wissen, wann es geschehen wird?«, fragte ich flüsternd. Meine Kehle war staubtrocken.
Er lächelte wieder. »Natürlich. Aber das werde ich Ihnen nicht verraten. Das tue ich keinem Menschen an. Vor allem nicht jemandem, der so freundlich war, mir ein wenig seiner Zeit zu opfern, um sich mit mir zu unterhalten. Ich mag Sie wirklich, auch wenn wir keine Freunde werden können.«
Er griff in seinen Mantel und holte ein abgegriffenes Notizbuch hervor. Mit langsamen Bewegungen blätterte er darin und wandte sich mir wieder zu. »Weil Sie so freundlich zu mir waren, möchte ich Ihnen eines verraten. Wenn sie dereinst aus dem Leben scheiden, und wir uns wiedersehen, werden viele Menschen an ihrem Grab stehen, um sich zu verabschieden. Zwei davon werden ihre Kinder sein. Nehmen sie dieses Wissen mit und bewahren es gut. Sie müssen sich keine Sorgen um ihre Frau machen, aber es ehrt sie, dass sie es tun. Für mich wird es Zeit, meine Arbeit wieder aufzunehmen. Aber es hat gutgetan, diese kleine Pause zu genießen. Ich danke Ihnen.«
Eine Ente flog schnatternd am Kanalufer hoch und lenkte meine Aufmerksamkeit kurz ab. Lorbass sprang auf und bellte einmal ...
Das Nächste, an das ich mich erinnerte, war, dass Lorbass mir über das Gesicht leckte. Ich schlug die Augen auf und blickte in die Augen meines treuen Hundes. Mir war kalt und es war fast dunkel. Ich saß noch immer auf der Bank am Kanal und ich blickte zur Seite. Der Fremde war verschwunden.
Hatte ich das tatsächlich erlebt, oder war ich eingeschlafen und hab es nur geträumt? Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich wenigstens eine Stunde hier gesessen haben musste. Ich war vollkommen verwirrt, konnte mich aber an alle Einzelheiten dieses eigenartigen Zusammentreffens erinnern. Das konnte doch nur ein Traum gewesen sein, oder? Ich war mir nicht sicher.
Mit steifen Gliedern erhob ich mich von der Bank und bewegte Arme und Beine, um wieder Leben hineinzubringen. Ich hatte Karin gesagt, ich würde nur eine kleine Runde mit dem Hund laufen. Nun war ich schon viel länger unterwegs. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht gern lange von zu Hause fern war, wenn Karin sich nicht wohlfühlte. Ich nahm den Hund an die Leine und lief mit langen Schritten nach Hause. Ich war erst beruhigt, als ich das warme Licht sah, das aus den Fenstern unseres kleinen Häuschens schien. Im Innern sah ich Karin, die den Tisch für das Abendbrot deckte. Sie wirkte nicht mehr so abgespannt und erschöpft, wie noch zuvor. Mir wurde warm zumute, als ich sie so sah.
Als ich die Tür öffnete, sprang Lorbass gleich hinein und auf Karin zu, die ihn liebevoll begrüßte. Ich blieb einen Moment in der Tür stehen und betrachtete einfach nur diese Szene. Einen Moment war ich versucht, ihr von meinem merkwürdigen Erlebnis zu erzählen, doch als sie zu mir hochblickte, und ich nach langer Zeit endlich wieder dieses Lächeln in ihrem Gesicht entdeckte, verwarf ich den Gedanken.
Vielleicht hatte der Alte ja recht. Traum oder nicht, ich würde diese Episode für mich behalten. Für mich war jedoch klar, dass Karin wieder zu sich zurückfinden, und wir doch noch Kinder haben würden.
Irgendwie hatte der Tod seinen Schrecken für mich verloren.