Diese Geschichte, ursprünglich als Kurzgeschichte geplant, wurde mehrfach umgeschrieben und am Ende als Kurzroman im Selfpublishing publiziert. Man kann sie bei Amazon als Ebook für 99 ct erwerben, oder auch als Taschenbuch für 8,99 €.
Hier könnt Ihr die ursprüngliche Kurzgeschichtenfassung lesen:

 

Die Zeitreisenden

1.1    Die Ankunft

»Was hältst Du von den beiden?«, fragte Sheriff Wayne Dunn seinen Deputy. Lawrance Cole sah durch die Scheibe zu dem Pärchen hinüber, dass sie splitternackt am Coyote Run am Ortsrand von Thedford aufgegriffen hatten.
»Keine Ahnung. Vielleicht sollten wir die Behörden in Omaha informieren.«
Dunn lachte humorlos. »Um denen zu demonstrieren, dass wir die Sache hier nicht im Griff haben? Was sollte ich denen auch sagen? Dass wir ein nacktes Pärchen an einer Durchgangsstraße aufgegriffen haben, ohne Papiere und nur mit einem kleinen Beutel voller rätselhafter Gegenstände?«
Cole deutete mit dem Kopf zu ihren Gefangenen, die stumm nebeneinander im Verhörraum saßen und sich nicht ansahen. »Sie sind merkwürdig, oder? Sehen aus, als wären sie einem Modemagazin entsprungen. Sie wirken weder wie Exhibitionisten, noch wie irgendwelche Verbrecher.«
»Bisher ergab der Abgleich mit den Fahndungslisten auch keine Ergebnisse. Aber was soll’s? Wir werden schon etwas aus ihnen herausbekommen.« Er erhob sich. »Kommst Du mit rein, oder schaust Du lieber von hier aus zu?«
Cole nippte an seinem Kaffee. »Lass mich mal hier sitzen. Ich kann Dich später ablösen, wenn sie weiter so schweigsam sind.«
Dunn nickte und öffnete seufzend die Tür zum Nebenraum. Der Mann trug nun Hemd und Hose, die sie ihm gegeben hatten, um ihre Blößen zu bedecken, die Frau trug ein langes Hemd, das sie in der Taille mit einer Kordel zusammengebunden hatte und wie ein kurzes Kleid wirkte. Ihre langen, weißblonden Haare trug sie offen, wie einen dichten Vorhang um die Schultern, bis auf den Rücken.
»Haben Sie es sich überlegt?«, fragte er. »Wir haben eine Menge Zeit, wenn Sie sich weiterhin weigern, uns zu erzählen, wer Sie sind. Wollen Sie vielleicht einen Kaffee oder ein Wasser?«
Sie antworteten nicht.
»Nein? Mir soll es recht sein. Also: Wie sind Sie zu der Straße gekommen, an der wir Sie gefunden haben? Wo ist Ihr Fahrzeug? Wo Ihre Kleidung? Hat Sie jemand dort abgesetzt?«
Der Mann bewegte sich plötzlich. »Mein Name ist Brungk. Meine Begleiterin heißt Sequel. Wir wollten nicht unhöflich sein, mussten jedoch zunächst Ihre Sprache erlernen. Die Analyse ist abgeschlossen. Wir können kommunizieren.«
Dunn öffnete seinen Mund, schloss ihn aber sogleich wieder. Einen Moment sah er verständnislos zwischen den beiden hin und her. »Sagen Sie, wollen Sie mich verarschen? Sie wollen mir erzählen, sie hätten unsere Sprache vorhin noch nicht verstanden, und jetzt reden Sie, als hätten Sie nie etwas anderes getan?«
»So ist es. Bei uns wird höchstens verbal kommuniziert, wenn es sich nicht vermeiden lässt, aber wir können es, wenn wir es gelernt haben. Ich danke Ihnen für Ihre vielen verbalen Vorlagen, die Sie uns mit Ihrem Kollegen gegeben haben.«
Er hob seine Hände. »Hat es einen Grund, warum man uns diese Handfesseln angelegt hat?«
Dunn schüttelte den Kopf. »Zurück zum Thema. Sie sind also Brungk. Und weiter?«
»Wie? Ich heiße Brungk. Nur Brungk.«
»Und ich heiße nur Sequel«, sprach die Frau mit klarer, wohlklingender Stimme. »Aber wir sind nicht hier, um über Dinge zu sprechen, die Sie nicht verstehen. Wir sind Forscher.«
»Forscher«, sagte Dunn skeptisch. »Haben Sie kürzlich mal in den Spiegel geschaut? Sie sind doch höchstens Mitte zwanzig und sehen aus, wie aus einem Modemagazin. Was können Sie schon erforschen?«
»Lassen Sie sich nicht von unserem Äußeren täuschen. Wir sind sicher älter als Sie vermuten, und wurden lange auf unsere Mission vorbereitet. Wir würden es begrüßen, wenn Sie uns helfen, einen bestimmten Ort zu finden.«
Dunn zog seine Brauen hoch. »Einen bestimmten Ort? Genauer geht’s wohl nicht? Sonst haben Sie keine Probleme? Ich werd Ihnen jetzt mal was sagen: Solange Sie solche Spielchen mit mir spielen, werden Sie nirgendwo hinkommen, Mr Brungk.«
»Einfach nur Brungk.«
Dunn schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Hören Sie endlich auf, mich zu veralbern!«
»Wir machen uns nicht über Sie lustig«, sagte Sequel. »Wir verstehen nur nicht, wieso es für Sie wichtig ist, unsere Identität zu kennen. Wir kannten uns vor unserem Erscheinen nicht und werden uns sicher nicht mehr wiedersehen, nachdem wir unsere Mission fortgesetzt haben.«
»Sie beide kosten mich den letzten Nerv, wissen Sie das? Sie sind verpflichtet, sich jederzeit, zumindest mit Ihrem Führerschein, ausweisen zu können. Ich bin berechtigt, Sie hier festzuhalten, bis wir diesen Punkt geklärt haben. Es liegt also an Ihnen, ob Sie mit uns zusammenarbeiten, oder unsere Arbeit behindern.«
Die beiden Fremden sahen Dunn nur an und schwiegen. Dunn trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. »Na gut. Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir Ihre Fingerabdrücke überprüft haben. Was denken Sie, was wir dann über Sie erfahren? Wenn Sie etwas zu sagen haben, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt.«
Es klopfte an der Tür und Cole steckte seinen Kopf herein. »Wayne? Kannst Du mal kurz rauskommen?«
Dunn erhob sich und ließ seine Gefangenen allein im Verhörraum zurück. »Was gibt es denn?«
Cole hielt ihm einige Papiere entgegen. »Die Ergebnisse aus Omaha sind da. Sie werden Dir nicht gefallen.«
Dunn griff sie und studierte sie. »Das gibt’s doch überhaupt nicht. Das muss ein Irrtum sein.«
»Ich hab eben noch mit dem FBI telefoniert. Sie bestehen darauf.«
Dunn schüttelte den Kopf. »Keine zwei Menschen auf der Erde haben exakt dieselben Fingerabdrücke. Nicht einmal bei Zwillingen gibt es das, und diese Zwei dort drinnen sind ganz sicher keine Zwillinge.«
Cole zuckte die Achseln. »Was willst Du jetzt von mir hören? Du erwartest doch nicht, dass ich Dir sagen kann, was hier los ist? Aber bist Du Dir sicher, dass wir sie tatsächlich festhalten können? Allein die Tatsache, dass wir nichts über sie wissen, macht sie nicht gleich zu Verbrechern.«
»Das weiß ich selbst! Trotzdem hab ich das Gefühl, dass mit den beiden etwas nicht stimmt. Sie können doch nicht von Himmel gefallen sein. Niemand hat sie kommen sehen und plötzlich stehen sie nackt an der Straße. Keine Papiere, kein Geld, nichts. Das gibt es doch nicht. Ich will wissen, was da los ist.«
»Dann wünsch ich Dir viel Spaß«, sagte Cole grinsend. »Ich würd sie laufen lassen und mich entspannt zurücklehnen und sie vergessen.«
Dunn brummte etwas und öffnete die Tür zum Verhörraum. Brungk und Sequel saßen noch so da, wie sie gesessen hatten, als er den Raum verlassen hatte. Er setzte sich den beiden gegenüber und legte betont ruhig seine Hände auf die Tischplatte.
»Die Auswertung Ihrer Fingerabdrücke liegt vor, und Sie können sich vermutlich denken, dass ich jetzt erst recht weitere Fragen an Sie habe.«
Sequel warf ihre langen, weißblonden Haare zurück und sah ihn irritiert an. »Und aus welchem Grund?«
»Weil Sie beide exakt identische Fingerabdrücke besitzen. Keine zwei Menschen auf diesem Planeten haben dieselben Fingerabdrücke. Erklären Sie mir, warum das bei Ihnen anders ist.«
»Ich denke, Sie gehen von falschen Prämissen aus. Sagen wir einfach, wir sind nicht hier aus der Gegend. Wo wir herkommen, sind identische Fingersignaturen ein Zeichen für Zusammengehörigkeit. Wir wurden als biologisches Konzept geschaffen, weil unsere Forschung uns lange Zeit von unseren Bezugsgruppen trennen wird, und ein Paar als kleinstes Konzept die größte Wahrscheinlichkeit auf Erfolg verspricht.«
Sheriff Dunn sah sie an, als wäre sie ein Geist. »Was zum Henker erzählen Sie mir da? Das ist doch alles Bullshit! Ich will endlich wissen, woher Sie kommen und was Sie vorhaben.«
Sequel sah Brungk an, und Dunn war sicher, dass sie so etwas wie einen nonverbalen Dialog führten. Schließlich nickte Brungk und Sequel wandte sich ihm wieder zu. »Wir sind bereit, Ihnen alles zu erzählen, auch wenn wir glauben, dass Sie es nicht verstehen oder zumindest nicht glauben werden.«
Dunn lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie können es ja mal versuchen.«
»Wir haben einen weiten Weg hinter uns. Wir sind Menschen, stammen jedoch nicht von dieser Welt, die Ihr Erde nennt. Unsere Geburtswelt trägt den Namen Lorana und ist viele Lichtjahre von hier entfernt. Ich könnte Ihnen die genaue Position nennen, aber ich fürchte, das würde Ihnen nicht viel sagen. Unsere Heimat ist nicht nur weit von hier entfernt, sie liegt auch in einer Zeit, die aus Ihrer Sicht in einer weit entfernten Zukunft liegt. Wir können Ihnen leider nicht genau sagen, wie viele Ihrer Jahre das sind, da die Zeitrechnungen im Laufe der Zeitalter oft gewechselt wurden.«
Sheriff Dunn starrte sie mit offenem Mund an. »Sagen Sie, wollen Sie mich testen? Erscheint hier gleich ein Kamerateam von Kanal 9 und ich werde vor Millionen Zuschauern als Depp der Nation vorgestellt?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Na hören Sie! Sie tischen mir eine so verrückte Geschichte auf und verlangen, dass ich Ihnen das abnehme? Aber okay, ich spiele Ihr Spiel mal eine Weile mit. Sie kommen also von einem weit entfernten Planeten und aus einer Zeit, die viele Jahre in der Zukunft liegt. Hab ich das so weit richtig verstanden?«
»So ist es.«
»Dann sind Sie so etwas wie Aliens?«
Sequel überlegte einen Moment. »Wenn Sie damit meinen, dass wir eine fremde Lebensform darstellen, ist das falsch. Wir sind Menschen wie Sie ... oder besser: ähnlich wie Sie.«
»Und was macht den Unterschied aus?«, fragte Dunn, inzwischen gelangweilt.
»Sie stellen die archaische Form des Menschen unserer frühen Vorfahren dar. Wir besitzen ein optimiertes genetisches Gerüst und sicher einige Fähigkeiten, über die Sie nicht verfügen. Allerdings sind wir von der Reise noch etwas geschwächt und können das Potenzial nicht voll ausschöpfen. Das ist auch der Grund, aus dem wir Ihre Hilfe benötigen.«
Dunn nickte. »Das können Sie laut sagen. Sie brauchen verdammt Hilfe, wenn Sie von dem überzeugt sind, was Sie erzählen. Fangen wir noch einmal dort an, wo sie nackt an der Straße gestanden haben. Wieso überhaupt nackt, und wo ist Ihre Kleidung geblieben? Sie sind doch sicher nicht völlig nackt gestartet, von wo Sie gekommen sind.«
Sequel lächelte zum ersten Mal. »Oh doch. Es ist zu gefährlich, körperfremde Dinge mit in das Zeitfeld zu nehmen. Wir mussten so kommen, wie wir geschaffen wurden.«
»Zeitfeld. Klar. Dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin. Scottie hat Sie also quasi nackt durch die Zeit in unsere Welt gebeamt, und schon stehen Sie entspannt an unserer Durchgangsstraße.«
»Wer ist Scottie?«
Dunn winkte ab. »Ich geb ’s auf. Sie ziehen das Ding wirklich durch bis zum Schluss, was? Aber mal im Ernst: Sie hatten Ihren Spaß. Gegen Sie liegt im Grunde nichts vor. Ich hab nur ein Problem damit, dass Ihre Fingerabdrücke identisch sind. Dafür muss es doch einen nachvollziehbaren Grund geben. Wie macht man so was? Und warum?«
»Hab ich doch erklärt: ein Zeichen für Zusammengehörigkeit. Brungk und ich wurden als Paar geschickt. Wir sind vollständig kompatibel und fungieren als Einheit. Nur wir können untereinander in Gedanken miteinander sprechen und unseren Geist miteinander verschmelzen.«
Der Sheriff schüttelte den Kopf. »Mir wird das allmählich zu bunt. Aber wenn Sie sich schon so ein vollständiges Szenario ausgedacht haben, können Sie mir ja sicher erklären, wie man so einfach durch die Zeit hierher geschickt werden kann, oder?«
Er sah die beiden auffordernd an.
Sequel nickte ihrem Partner zu, der das Wort ergriff: »Wir haben nicht gesagt, dass es einfach war. Im Gegenteil. Es hat uns Jahre gekostet, diese Welt so genau zu treffen. Viele vor uns sind bei dem Versuch gestorben. Sie haben völlig falsche Vorstellungen davon, wie eine Zeitreise funktioniert. Sie stellen sich vor, wir hätten an einer identischen Stelle in der Zukunft gestanden und wären nur zurückgereist. Im weitesten Sinne ist das sogar korrekt, weil eine Reise durch die Zeit eben nicht gleichzeitig auch eine Reise durch den Raum darstellt. Sie ahnen nicht, wie viel Bewegung in jedem einzelnen Staubkorn dieses Planeten steckt. Er dreht sich um sich selbst, umkreist seine Sonne, die wiederum das galaktische Zentrum umkreist. Die Galaxis steht auch nicht still, sondern ist Bestandteil einer lokalen Gruppe von Galaxien, die in ihrer Gesamtheit um einen Superhaufen von über 2000 Galaxien rotiert. Können Sie sich vorstellen, welche Rechenleistung erforderlich ist, herauszufinden, an welcher Position Ihr Planet rund zwei Millionen Jahre vor unserer ursprünglichen Gegenwart gestanden hat? Uns reichte dabei keine grobe Schätzung, sondern wir brauchten das Ziel bis auf wenige Zentimeter genau, sonst wären wir entweder im All oder mitten im Planeten herausgekommen. Wir fürchten, dass es einigen unserer Vorgänger so ergangen ist, denn wir erhielten nie eine Nachricht von ihnen.«
Dunn lachte leise. »Sie wollen also zwei Millionen Jahre aus der Zukunft kommen? Willkommen in Thedford, dem Treffpunkt der Zeitalter. Was wollen Sie trinken?«
»Was wir trinken wollen?«
»Leute, das nennen wir archaischen Alten Ironie. Vermutlich kennt man das in zwei Millionen Jahren nicht mehr.«
»Sie glauben uns noch immer nicht.«
»Und das wundert Sie? Ihre Geschichte wird von Mal zu Mal haarsträubender. Es fällt mir zunehmend schwerer, sie ernst zu nehmen. Vielleicht sollte sich ein Psychologe mit Ihnen befassen, denn ganz normal kommen Sie mir nicht vor.«
»Ihre Sorge ist unbegründet, Sheriff Dunn. Wir sind im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte und bald werden wir auch stark genug sein, uns zu verschmelzen. Wenn das der Fall ist, werden wir Ihre Hilfe nicht mehr benötigen und Sie auch nicht länger in Anspruch nehmen.«
Sequel lächelte und streifte wie beiläufig ihre Handfessel ab. Ruhig legte sie die offenen Handschellen vor Dunn auf den Tisch. »Eine interessante, mechanische Spielerei, diese Handfesseln. Sie wurden unbequem. Es ist Ihnen doch recht, wenn ich sie ablege?«
»Zum Kuckuck ...!« Dunn fielen fast die Augen aus den Höhlen. »Wie haben Sie das angestellt?«
»Es war doch nur ein mechanischer Verschluss. Wir spüren, dass Sie sich in unserer Anwesenheit unwohl fühlen. Das müssen Sie nicht. Wir sind nicht gekommen, um jemandem etwas zuleide zu tun. Im Gegenteil. Wir sind nur hier, weil es auf Ihrer Welt und ihn Ihrem Zeitalter, historischen Unterlagen zufolge, etwas geben muss, dass wir dringend finden und von hier wegschaffen müssen. Es ist wichtig.«
»Sie kommen also aus der fernsten Zukunft zu uns, weil wir etwas besitzen, das Sie unbedingt benötigen? Dass ich nicht lache!«
Sequel lächelte süffisant. »Halten Sie mich bitte nicht für arrogant, aber es hat vermutlich wenig Zweck, Sie weiter in unsere Aufgaben einzuweihen. Es würde uns jedoch helfen, wenn Sie uns verraten, welches Jahr wir haben und nach welcher Zeitrechnung es gezählt wurde.«
»Bitte was?«, fragte Dunn verblüfft. »Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Sie wirken auf mich wie zwei äußerst wache Menschen. Und Sie wollen nicht wissen, welches Datum wir haben?«
»Bitte«, sagte Sequel, die inzwischen das Reden der beiden vollständig übernommen hatte. »Sie würden mir damit wirklich helfen. Wir haben einen sehr weiten Weg hinter uns und da kommt es durchaus zu gewissen Unschärfen. Wir hatten gewaltiges Glück, im richtigen Moment die Oberfläche des Planeten zu treffen. Daher vermute ich, dass wir noch im Plan sind. Wir wissen es aber nicht genau. Also?«
Der Sheriff presste seine Lippen zusammen. »Von mir aus. Wir haben den 17. März 2015.«
Die beiden blickten sich kurz an, sagten jedoch nichts. Dunn vermutete, dass sie wieder in Gedanken miteinander sprachen.
»Gut 2015. Und nach welcher Zeitrechnung? Was war vor 2015 Jahren?«
»Na, Christi Geburt. Was sonst?«
Sequels Lächeln wurde breiter. »Das hatten wir gehofft. Die Zeit stimmt, der Planet auch - jetzt müssen wir es nur noch finden.«
»Was finden? Worum geht es überhaupt?«
»Besser, Sie wissen es nicht.«
Dunn schlug mit beiden Händen auf den Tisch und erhob sich. »Ich hab jetzt endgültig die Schnauze voll von Ihnen beiden. Ich kann es auf den Tod hassen, wenn man mich nicht für voll nimmt und mich zu veralbern versucht. Ich lasse Sie jetzt eine Weile allein. Sie können sich ja dann überlegen, ob Sie mir nicht noch etwas zu erzählen haben.«
Er verließ den Verhörraum und schlug die Tür lautstark hinter sich zu. Draußen atmete er ein paar Mal tief durch und sah seinen Deputy an, der die ganze Zeit über hinter der einseitig durchsichtigen Scheibe gesessen und dem Gespräch im Verhörraum zugehört hatte.
»Und was jetzt?«, fragte Cole.
»Ich halte diese Idioten fest, bis ich sie weich gekocht habe. Die spielen ein Spiel mit mir, und so was kann ich nicht leiden.«
»Rein rechtlich können wir das nicht, Chef. Abgesehen davon, dass wir sie wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses dranbekommen können, haben wir nichts in der Hand. Sie sind nicht verpflichtet, Papiere mitzuführen.«
»Weiß ich selbst. Ich versteh auch nicht, wieso die mir so einen Schwachsinn auftischen müssen. Aber da ist immer noch die Frage, wieso sie identische Fingerabdrücke haben. Haben sie womöglich sogar die Wahrheit gesagt?«
Cole lachte leise. »Chef, die werden Sie doch nicht mit diesen Räuberpistolen überzeugt haben?«
Dunn schüttelte den Kopf. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll. Sie machen in ihrer Geschichte einfach keine Fehler. Entweder ist sie einfach nur gut durchdacht und konsequent erzählt, oder es ist so, wie sie behaupten.«
»Wayne, ich hab Dein Gespräch von hier aus mitverfolgt. Diese Sequel ist sicher eine äußerst heiße Frau, aber lass Dich von der doch nicht einwickeln. Ich hab auch keine Ahnung, welche Ziele die beiden verfolgen, aber ich hab nicht das Gefühl, sie würden mit offenen Karten spielen.«
»Vielleicht sollten wir uns Unterstützung aus Omaha holen.«
»Damit uns die gesamte Polizei des Staates auslacht?«
Dunn blickte durch die Scheibe, wo die beiden sich nun gegenübersaßen und ihre Köpfe mit ihren Stirnen aneinanderdrückten. »Hey, was machen die den jetzt?«
Er sprang auf und öffnete die Tür zum Verhörraum. »Was tun Sie da?«
Sequel und Brungk reagierten nicht, worauf Dunn zu ihnen trat, um sie voneinander zu trennen.
Als er sie berührte, erschien es ihm, als stürze er in ein tiefes, dunkles Loch. Die Welt um ihn versank und nur noch Dunkelheit umgab ihn. Das Gefühl des Fallens war unangenehm, und in seiner Vorstellung ruderte mit Armen und Beinen, um Halt zu finden. Sein Gefühl für Zeit und Raum ging verloren und er hatte keine Vorstellung, wie lange es dauerte, als er plötzlich die Gegenwart von zwei Persönlichkeiten wahrnahm.
»Hallo?«, rief er. »Ist da jemand?«
»Entspann Dich«, ertönte es direkt in seinem Geist. »Es ist gleich vorbei.«
Im nächsten Moment befand er sich in einem fensterlosen Zimmer, dessen Decke und Wände Licht ausstrahlten. Er saß in einem bequemen Sessel und ihm gegenüber saßen Sequel und Brungk - jeder in einem ähnlichen Sessel wie er. Sie lächelten ihm zu. Sequel beugte sich etwas nach vorn. »Wir haben unsere vollen geistigen Kräfte inzwischen zurückerlangt. Da es uns nicht gelungen ist, Dich mit Worten zu überzeugen, haben wir uns entschlossen, Dich für einen Moment in unseren geistigen Zusammenschluss einzuladen. Es ist vielleicht einfacher, Dich zu überzeugen, dass wir die sind, die wir zu sein vorgeben.« Sie sah ihn prüfend an. »Alles in Ordnung?«
»Ob alles in Ordnung ist?«, fragte Dunn schrill. Hektisch blickte er sich um. Er verstand nicht, was soeben mit ihm geschehen war. »Überhaupt nichts ist in Ordnung. Was habt ihr mit mir angestellt? Ich will sofort zurück in den Verhörraum! Sofort!«
»Beruhige dich«, sagte Sequel sanft. »Dir wird nichts geschehen. Wir haben uns lediglich entschlossen, dir zu zeigen, dass du es nicht mit zwei Verrückten zu tun hast. Wir hatten nämlich den Eindruck, dass du uns kein Wort von dem glaubst, das wir dir erzählt haben.«
Dunn schnappte nach Luft. Er hatte sich immer für einen Menschen gehalten, den nichts leicht erschüttern konnte, doch jetzt spürte er aufkeimende Panik, wie er es noch nie erlebt hatte. »Wer zum Henker seid ihr? Was wollt ihr von mir?«
Seine Augen wanderten hektisch durch den Raum. Er suchte krampfhaft nach einer Fluchtmöglichkeit. Als hätte Sequel seine Gedanken gelesen, sagte sie: »Du brauchst nicht vor uns zu fliehen. Deine Angst ist unbegründet. Wir haben diesen Raum eigens geschaffen, um uns mit dir ungestört unterhalten zu können. Natürlich hätten wir es auch in der realen Umgebung tun können, doch - wenn wir ehrlich sind - hat uns dein Kollege Cole hinter der Spiegelwand irritiert. Hier sind wir ungestört.«
»Verdammt, ihr habt mich nicht gefragt! Das ist eine Entführung! Was denkt ihr eigentlich? Dass ihr mich einfach in einen Scheiß Kerker schaffen müsst, um mich weich zu kochen? Ich kann euch versichern, dass ihr gehörigen Ärger bekommt, wenn ich hier rauskomme!«
»Wir können dich verstehen«, warf Brungk ein. »Du bist gegen deinen Willen durch uns hierher transportiert worden. Es ist jedoch weder ein Kerker noch haben wir vor, dich zu irgendetwas zu zwingen. Wir möchten dir nur unsere Mission erklären und hoffen, dass du anschließend verstehst, wer oder was wir sind. Ich gebe allerdings zu, dass wir und davon auch erhoffen, dass du uns hilfst. Aber das wird am Ende deine Entscheidung sein - nicht unsere. Begreifst du nun, dass wir dir nicht schaden wollen?«
Dunns erste Panik begann sich zu legen und sein Atem beruhigte sich etwas. »Ihr betont das zwar immer wieder, aber es übersteigt meinen Verstand. Es erklärt auch noch immer nicht, wer oder was ihr seid.«
Sequel beugte sich vor und berührte ihn sanft an der Hand. Dunn wollte sie erst zurückziehen, entschied sich dann jedoch dagegen. Es war wie ein leichter elektrischer Schlag, als sie seine Hand berührte, und was auch immer sie tat, es führte dazu, dass er sich entspannte.
»Ist jetzt alles in Ordnung? Bist du jetzt bereit, uns zuzuhören?«
Dunn nickte. »Ich weiß zwar nicht, was hier gerade abgeht, aber ja, ich bin in Ordnung.«
»Gut. Brungk und ich sind speziell für diesen Auftrag konfigurierte Menschen. Die Umweltbedingungen in unserer Heimat sind etwas anders als hier auf der Erde. Wir wurden geschickt, weil es auf der Erde etwas gibt, das so gefährlich ist, dass es den Fortbestand der menschlichen Rasse, des Planeten und vielleicht sogar des gesamten Sonnensystems gefährden könnte.«
»Bitte was? Du willst mich verscheißern, oder? Ihr kommt daher und wollt mir erzählen, dass das Ende der Welt bevorsteht und ihr das mal eben verhindern wollt? Hab ich das richtig verstanden? Seid ihr sowas wie Sekten-Heinis, die immer wieder mal den Weltuntergang prophezeien? Ich sag dir gleich: Ich glaub nicht an solchen Quatsch!«
»Ich weiß nicht, was eine Sekte ist, aber ich kann dir versichern, dass es mit einer Prophezeiung nicht das Geringste zu tun hat. Die Gefahr ist real und tödlich. Es gibt auf der Erde einen Mechanismus, der dafür geschaffen wurde, die Menschen, die Erde und zuletzt das komplette Sonnensystem zu zerstören. Er stammt aus der Zukunft und durchzieht die Zeitalter, bis zur Entstehung des Menschen. Wir wurden ausgeschickt, diesen Mechanismus zu finden und unschädlich zu machen.«
Dunn lief es eiskalt den Rücken hinunter. »Ihr wollt mich wirklich nicht verarschen? Es gibt tatsächlich so ein Ding auf der Erde?«
Sequel und Brungk blickten ihn ernst an. »Ja.«
Dunn schluckte. Sein Rachen fühlte sich an wie zugeschnürt. Seine Stimme klang heiser, als er fragte: »Wie viel Zeit haben wir noch?«
»Das kann man so einfach nicht sagen. Wenn wir versagen, mag es noch einige Planetenjahre dauern, bis es geschieht - es kann aber auch deutlich schneller gehen. Die Menschen würden davon nichts spüren. Es würde sie nur auf einmal nicht mehr gegeben haben. Eure Welt - und letztlich natürlich auch unsere Welt - würde es in dieser Form nie gegeben haben. Wir wären aus der Geschichte getilgt.«
Dunn brach der Schweiß aus. Er spürte, wie eiskalte Angst Besitz von ihm ergriff. Es war schwer zu glauben, was ihm die beiden erzählten, doch die Umstände ihres Gesprächs verlieh dem Ganzen eine irrationale Glaubwürdigkeit.
»Und Ihr sucht dieses - was immer es auch ist - und verschwindet damit wieder in Eure eigene Zeit?«
Sequel schüttelte den Kopf. »Das wird nicht gehen. Die erforderliche Technologie steht hier nicht zur Verfügung. Wir werden hierbleiben müssen und uns an die Menschen dieser Zeit anpassen.«
»Was ist es überhaupt, was Ihr sucht? Was kann so gefährlich sein, dass es unser Sonnensystem gefährden kann?«
»Was sagt Dir der Begriff ’Singularität'?«
Dunn machte ein fragendes Gesicht. »Nichts.«
Sequel nickte. »Das dachte ich mir. Weißt Du, die Menschheit ist nicht allein dort draußen im Kosmos. Es gibt noch eine Reihe anderer Intelligenzwesen, und nicht alle sind dem Menschen wohlgesonnen. Wir hatten Dir gesagt, dass wir aus einer weit entfernten Zukunft stammen. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Menschheit und auch die anderen Rassen sich in dieser Zeit enorm weiterentwickelt haben - geistig, wie auch technisch. Der größte Feind des Menschen ist eine mächtige, insektoide Rasse mit gewaltigem technischen Wissen. Sie nennen sich Skrii, und sie setzen alles daran, die Menschheit aus dem Universum zu tilgen. Rein militärisch sind sie nicht in der Lage, uns endgültig zu besiegen, aber wir konnten erfahren, dass es Kriegern der Skrii gelungen sein soll, auf dem Mutterplaneten der Menschheit einen Mechanismus auszusetzen, der sich in winzigsten Schritten rückwärts durch die Zeit frisst. Das soll so lange weitergehen, bis die menschliche Rasse im Entstehen begriffen ist.«
»Und dann?«, fragte Dunn.
»Dann wird die Singularität im Innern des Mechanismus freigesetzt. Das bedeutet, dass von diesem Moment an die Materie des Planeten allmählich in diese Singularität stürzt und sie mit Masse anreichert. Irgendwann bildet sie einen Ereignishorizont und wird zum Schwarzen Loch. Ist das einmal geschehen, wird seine Masse Einfluss auf das gesamte System nehmen. Es wird zu Kollisionen kommen, weitere Masse wird hinzukommen und schließlich wird die Sonne selbst darin verschwinden. Vermutlich wird das zu einer Nova, vielleicht sogar zu einer Supernova führen. Die Menschheit wird nie entstanden sein. Wir würden aus der Geschichte des Universums getilgt. Das wollen wir verhindern. Wir werden zur Stelle sein, wenn der Mechanismus diese Zeit passiert, und ihn unschädlich machen.« Sie machte eine kurze Pause und sah Dunn prüfend an. »Ist das etwas viel für Dich?«
Dunn schluckte. »Wenn ich ehrlich bin ... ja. Verdammt ich bin ein kleiner Sheriff in einem kleinen Nest, und Ihr erzählt mir Dinge über eine Gefahr für die gesamte Menschheit. Wie die Dinge liegen, ist es Euch auch verdammt ernst damit. Könnt Ihr denn dieses Singular-Ding unschädlich machen? Geht das so einfach?«
Brungk schüttelte den Kopf. »Absolut nicht. Zunächst müssen wir das Gerät finden und seine Wanderung durch die Zeit stoppen. Zumindest das sollte für uns kein Problem darstellen.«
Dunn presste seine Fäuste gegen seine Schläfen. »Aber das ist doch alles Bullshit! Habt Ihr mir nicht im Verhörraum erzählt, dass Ihr einen Punkt irgendwo im All finden musstet, an dem unsere Erde am Endpunkt Eurer Zeitreise einmal gestanden hatte? Wenn das so kompliziert ist, wieso kann dann so eine Maschine einfach auf der Erde bleiben und in die Vergangenheit reisen? Da stimmt doch etwas nicht.«
Sequel nickte anerkennend. »Du beginnst, in den richtigen Bahnen zu denken. Es stimmt, das klingt unlogisch. Es sind jedoch zwei völlig unterschiedliche Dinge. Während wir in einem Zug durch die Zeit hierher gereist sind, wurde die Waffe der Skrii schon in der Zukunft auf der Erde deponiert. Sie gleitet von dort quasi in winzigsten Schritten durch den Zeitstrom in die Vergangenheit zurück. Dabei kann sie den Kontakt zum Planeten ständig neu justieren. Wir haben leider erst spät davon erfahren, was die Insektoiden getan haben und viel Zeit haben wir dabei verloren, zu errechnen, wie wir die Waffe noch aufhalten können.«
»Also jetzt mal ehrlich«, sagte Dunn. »Ihr könnt mich ja für einen ungebildeten Halbwilden halten, aber ist nicht bereits die Tatsache, dass wir uns hier unterhalten, in diesem ... ja was ist das hier eigentlich? ... ein Indiz dafür, dass der Plan dieser Fremden misslungen sein muss? Hätte er funktioniert, würde es weder Euch noch mich geben, oder?«
»Grundsätzlich folgerichtig gedacht«, stimmte Sequel zu. »Wenn man berücksichtigt, dass die Menschen dieser Epoche noch glaubten, Zeit verlaufe linear. Eine Katastrophe, von der ich nichts weiß, kann in der Vergangenheit nicht stattgefunden haben. Leider verhält es sich etwas anders. Zeit ist ein kompliziertes Gespinst von Möglichkeiten. Welchen Weg sie nimmt, hängt oft von Verkettungen winzigster Faktoren ab. Ich weiß, es ist nicht leicht, das zu verstehen, aber du musst dir vorstellen, dass jedes System seine eigene Zeit mitbringt, die zunächst einmal unabhängig von anderen existiert. So gibt es die Zeit der Erde, die einen komplizierten Weg von ihrer Entstehung über den heutigen Tag bis zu einer fernen Zukunft nimmt. Dann ist da diese Waffe der Skrii, die sich rückwärts durch den Zeitstrom der Erde ihren Weg zur Entstehung des Menschen sucht. Diese Waffe besitzt ihre eigene Zeit und sie verläuft nicht rückwärts, sondern vorwärts. Mit anderen Worten: Sie wird auf ihrem Weg rückwärts durch die Zeit der Erde älter. Solange sie ihr Ziel nicht erreicht hat, wird sie nicht aktiv werden, und erst, wenn das geschieht, beeinflusst sie den Zeitstrom der Erde.«
Sie blickte Dunn forschend an. »Kannst du mir folgen?«
Dunn nickte und schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll.«
»Dann begreife einfach, dass wir diese Waffe finden und aufhalten müssen. Wir können sie aufspüren, sobald wir in ihrer Nähe sind. Leider haben wir nur einige Hinweise, wo wir suchen müssen. Wir sind gut ausgebildet, aber unsere Zeit liegt eben zwei Millionen Jahre in eurer Zukunft. Du kannst dir sicher vorstellen, wie lückenhaft unsere Kenntnis der Erde und ihrer aktuellen Verhältnisse ist. Die Recherche nach zutreffenden Daten hat uns viele Jahre gekostet, und wir können nicht sicher sein, dass alles korrekt ist, was wir herausgefunden haben.«
»Spricht man auf eurer Welt und in eurer Zeit noch so wie wir?«, fragte Dunn. »Ihr habt nicht den geringsten Akzent und sprecht ein perfektes Englisch.«
Brungk lachte. »Nein, unsere Sprache ist von eurer vollkommen verschieden. Allerdings ist verbale Kommunikation bei uns nicht mehr besonders wichtig. Bei uns gibt es den mentalen Schirm, in den sich jeder Bürger einloggen kann. Ist man verbunden, kann man mit jedem anderen Teilnehmer gedanklich kommunizieren. Aber es ist schon angenehm, dass unsere Daten über eure Sprache so zutreffend waren. Es wäre fatal gewesen, wenn man uns für die falsche Epoche konditioniert hätte.«
Dunn sah ihn ungläubig an.
»Wir sind besonders konzipierte Menschen«, sagte Sequel. »Wie ich bereits sagte. Wir sind aufs Reden konditioniert worden, um in dieser Welt normal zu wirken.«
Dunn lachte humorlos auf. »Na, das ist euch ja verdammt gut gelungen. Ihr ahnt nicht, wie verdammt normal ihr auf mich wirkt.«
»Tatsächlich?«
»Nein, verdammt! Mit der Ironie habt ihr es in der Zukunft wohl nicht, oder? Was denkt ihr denn? Taucht nackt aus dem Nichts auf, könnt in Gedanken miteinander reden, und nehmt mich in einen Raum mit hinein, der nur in eurem verschmolzenen Geist existiert. Was soll daran normal sein? Habt ihr sonst noch Tricks drauf, von denen ich wissen sollte?«
»Was meinst du mit Tricks?«, fragte Sequel unbefangen. »Wirst du uns helfen?«
»Wie kann ich euch denn helfen? Ich bin ein kleiner Dorf-Sheriff, und - wenn ich ehrlich bin - fühle mich ein wenig von der Situation überfordert.«
»Nach unseren Berechnungen wird die Waffe in der Zeit vom 12. Mai bis zum 14. Mai dieses Jahres sichtbar sein. Sie soll sich in einer Gegend befinden - nicht all zu weit von diesem Ort hier entfernt -, der für seine vulkanische Aktivität bekannt ist. Es sollen dort nur wenige oder überhaupt keine Menschen leben. Kennst du einen solchen Ort?«
Dunn überlegte. »Da fällt mir nur der Yellowstone Nationalpark ein, aber der ist nicht gerade in der Nähe.«
»Kannst du uns zeigen, wo das ist?«, fragte Brungk. »Es existieren doch sicher Karten, in denen Koordinaten verzeichnet sind, oder? Wir würden uns die erforderlichen Vektoren berechnen und könnten daraus eine Ortsverlagerung generieren.«
Dunn schüttelte den Kopf. »Ich verstehe wieder mal kein Wort. Also Karten kann ich euch natürlich zeigen, und der Nationalpark ist natürlich darauf verzeichnet. Was meint ihr mit Ortsverlagerung?«
Sequel sah ihn fragend an. »Ist das nicht klar? Wir müssen doch in unmittelbarer Nähe sein, wenn die Waffe erscheint. Es nutzt nichts, wenn wir hier sind, wenn das Ding diese Zeitebene durchzieht. Wir müssen schon physikalisch vor Ort sein. Während wir geistig verschmolzen sind, können Brungk und ich uns direkt an diesen Ort versetzen.«
Dunn verzog seinen Mund. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt wissen möchte, was ihr alles draufhabt, aber eine Sache interessiert mich doch: Denkt ihr immer so kompliziert?«
»Nicht kompliziert, sondern nur folgerichtig.«
»Mag ja sein, aber ihr habt doch noch eine Menge Zeit, bis dieses Waffending erscheint, wie ihr sagt. Ich könnte euch hinfahren. Ich steck in dieser Sache sowieso schon tief genug drin - da kann ich euch auch weiterhin helfen. Außerdem kann es nicht schaden, meinen beschissenen Schreibtisch mal eine Weile nicht zu sehen.«
»Es mag sein, dass es nicht ungefährlich ist«, sagte Sequel ernst. »Brungk und ich sind nicht das erste funktionale Paar, das ausgesandt wurde. Etliche vor uns sind gescheitert, und wir haben keine Informationen darüber, was geschehen ist. Wir nehmen deine Hilfe natürlich gern an, aber du musst wissen, dass es uns alle das Leben kosten kann. Ihr Menschen dieser Epoche habt oft Bezugspersonen - andere Menschen, mit denen ihr verbunden seid. Ist das bei dir auch der Fall? Bist du einem Typ A verbunden?«
Dunn konnte es nicht fassen. »Typ A? Jetzt noch mal von vorn: Wovon, zum Henker, sprichst du jetzt schon wieder? Was ist ein Typ A?«
Brungk antwortete: »Du bist ein Typ B, wie auch ich einer bin. Sequel ist ein Typ A - ein Mensch der Neumenschen in sich tragen kann, bis sie Lebensreife erlangen.«
Dunn verschluckte sich fast. »Geht’s noch komplizierter? Ihr wollt wissen, ob ich eine Frau habe? Ich kann euch versichern, dass ich auf Frauen stehe, aber es ist mir leider noch keine begegnet, die einen kleinen Dorfsheriff nehmen wollte. Ich bin solo, falls euch das beruhigt.«
Sequel wandte sich an Brungk. »Vermutlich will er damit sagen, dass es keine typübergreifende, emotionale Verbindung gibt.«
Sie wandte sich zu Dunn. »Unter diesen Umständen würden wir uns freuen, die Unterstützung eines nativen Menschen dieser Epoche zu bekommen. Wir werden diesen virtuellen Raum nun auflösen. Die Rückkehr in die Realität führt bei Menschen, die es nicht gewohnt sind, zu kurzfristiger Desorientierung. Das ist normal und muss dich nicht beunruhigen.«
»Aber ...«, konnte Dunn noch sagen, dann versank die Welt um ihn in bodenlose Schwärze. Als er wieder zu sich kam, hielt er sich direkt neben Sequel und Brungk am Tisch fest und fühlte sich schwindelig. Brungk erhob sich und stützte ihn.
Als Cole das durch die halbdurchsichtige Scheibe sah, hastete er zur Tür und riss sie auf. »Was tun Sie da? Setzen Sie sich sofort wieder hin!«
Dunn winkte ab. »Ist schon in Ordnung, Lawrence. Mir war nur etwas schwindelig und unser Freund hier wollte mir helfen.«
»Freund?«, fragte Cole misstrauisch. »Hab ich was nicht mitbekommen? Als du eben in den Verhörraum gegangen bist, waren das noch unsere Gefangenen.«
»Eine lange Geschichte, Lawrence. Wir haben uns ausführlich unterhalten und ich glaub ihnen jetzt. Sie brauchen unsere Hilfe - und wenn ich das richtig verstanden habe, brauchen wir auch ihre.«
Cole blickte ihn ungläubig an. »Chef, nimm es mir nicht übel, aber das klingt jetzt ganz schön verrückt. Du bist doch erst vor wenigen Sekunden hier hineingegangen. Ihr habt überhaupt nicht miteinander gesprochen.«
Dunn sah Brungk an. Sequel antwortete: »Zeitabläufe im virtuellen Raum werden anders empfunden als in der Realität. Cole hat schon recht. Für ihn sind nur wenige Sekunden vergangen.«
Cole hob abwehrend die Hände. »Ich hab genug von dem Scheiß. Du hast dich von diesem Weib einwickeln lassen. Ich hab’s befürchtet. Ich ruf jetzt in Omaha an. Sollen die sich mit diesem Pärchen herumschlagen.« Er wandte sich um und machte einen Schritt.
»Lawrence, warte!«, rief Dunn und wandte sich an Sequel. »Könnt ihr es ihm ebenso erklären wie mir?«
Sie nickte. »Kommen Sie, Cole.« Sie lächelte ihm zuckersüß zu, und Cole ging - wie von Fäden gezogen - zu ihr.
»Und was kommt jetzt? Gehirnwäsche?«
»Man kann ein Gehirn nicht waschen«, bemerkte Sequel ernst. »Nehmen Sie Platz und fassen einen von uns an. Mehr müssen Sie nicht tun, aber Sie werden anschließend verstehen, worum es uns geht. Sie müssen nichts befürchten. Wir werden nur reden.«
Damit wandte sie sich Brungk zu und sie berührten sich gegenseitig mit ihren Stirnen.
»Was jetzt?«, fragte Cole und sah Dunn fragend an.
Dunn deutete auf die beiden. »Na mach schon! Setz dich hin und berühre einen von ihnen.«
Widerstrebend folgte er der Aufforderung und streckte seinen Arm aus, um Sequel zu berühren. Im letzten Moment zuckte er zurück. »Was wird passieren, wenn ich sie anfasse?«
»Ich verstehe dich, aber dein Misstrauen ist unbegründet.« Dunn deutete mit dem Kopf auf die beiden. »Mach endlich. Sie warten auf dich.«
Cole seufzte und berührte die Frau. Ein kurzes Zittern fuhr durch seinen Arm und er bekam einen abwesenden Gesichtsausdruck.
Dunn wollte sich gerade einen Kaffee aus der Küche holen, als die drei sich wieder bewegten. Cole lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Oh Scheiße, in was sind wir da hineingeraten? Gut, dass ich Omaha nicht angerufen habe ... Wenn das alles stimmt ... und nach diesem Gespräch hab auch ich keine Zweifel mehr ... Ich darf gar nicht darüber nachdenken ...«
»Verstehst du jetzt, dass wir ihnen helfen müssen?«
Cole nickte. »Ja, sie haben mir gesagt, dass du sie begleiten wirst. Ich mach dabei allerdings nicht mit. Ich hab Elaine, und wir planen unsere Hochzeit. Da werde ich nicht mein Leben bewusst aufs Spiel setzen.«
»Ich verstehe dich.« Dunn legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Du wirst den Laden hier eine Weile allein schmeißen müssen. Offiziell kannst du sagen, ich wäre im Urlaub. Denkst du, das geht in Ordnung?«
»Du machst Witze! Wie soll ich die zwei Strafzettel, die ich in der Woche auszustellen habe, nur allein bewältigen?«
Dunn lachte. »So hab ich mir das gedacht.« Er wandte sich an Sequel und Brungk. »Ihr seid natürlich ab sofort keine Gefangenen mehr und könnt gehen, wohin ihr wollt.«
Sequel lächelte. »Und wohin sollte das sein? Wir kennen hier nichts und haben auch nichts - nicht einmal passende Kleidung.« Sie wand ihren Körper ein wenig. »Selbst mit diesem Stück Stoff fühle ich mich etwas unvollständig bekleidet.«
Dunn schluckte, als er die Bewegungen der Frau sah. Sie sah einfach atemberaubend aus. Er fragte sich, ob sich so eine Frau für einen wie ihn interessieren könnte. Er schalt sich in Gedanken sogleich einen Narren. Die Frau war eine Fremde und hatte zudem diesen Brungk, der selbst aussah wie ein griechischer Halbgott.
»Ihr könnt erst mal mit zu mir kommen«, hörte er sich sagen. »Ich hab das Haus meiner Eltern geerbt und lebe dort seit ihrem Tod allein. Der Platz reicht für uns alle. Es gibt gute Betten und ihr könnt euch dort frisch machen. Mit etwas Glück ist auch noch Kleidung von meiner Schwester da, die mit ihrem Mann nach Cheyenne gezogen ist. Die Sachen könnten Sequel passen, wenn sie auch nicht der neuesten Mode entsprechen werden. Brungk kann ein paar Sachen von mir anprobieren.«
»Das Angebot nehmen wir gern an«, sagte Sequel. »In deinem Haus gibt es auch eine Karte?«
Dunn lächelte. »Ja, eine Karte habe ich auch im Haus.«
»Dann schaff deine Gäste mal hier raus«, schlug Cole vor. »Es haben heute Morgen sicher ein paar Leute mitbekommen, dass wir diese zwei Nudisten an der Interstate aufgegriffen haben. Bevor hier Neugierige auftauchen, sollten sie schon weg sein.«
»Er hat recht«, sagte Dunn und deutete auf die Hintertür des Büros. »Mein Wagen steht hinter dem Haus. Folgt mir, ich bring euch mit dem Wagen zu mir nach Hause.«
Sie erhoben sich und folgten ihm. Dunn bemerkte erst jetzt, dass sie noch barfuß liefen. Schuhe hatten sie ihnen noch nicht anbieten können. Er lief zu seinem Wagen und öffnete ihn. »Na kommt schon.«
Sequel zögerte einen Moment und betrachtete skeptisch den Toyota Prius, bevor sie auf den Beifahrersitz kletterte. Brungk nahm auf dem Rücksitz Platz.
Sequel strich mit ihren Händen über den Stoff des Sitzes. »Dieses Fahrzeug ist überraschend bequem. Dunns Blick fiel auf die langen Beine seiner Beifahrerin und einige Augenblicke lang war er nicht in der Lage, den Wagen anzulassen. Verdammt, er war auch nur ein Mann, und in festen Händen oder nicht - diese Frau machte ihn wahnsinnig. Dabei hatte er nicht einmal das Gefühl, sie würde es absichtlich machen. Sie machte alles, was sie tat, mit einer beeindruckenden Unbefangenheit.
Er riss sich von dem Anblick los und fuhr gab Gas. Seine Fahrgäste blickten neugierig umher und schienen alle Eindrücke förmlich in sich aufzusaugen. Sequel sah ihn von der Seite an. »Der Antrieb ist sehr laut«, sagte sie. »Mit welcher Energieform wird dieses Fahrzeug angetrieben?«
»Diesel-Benzin.«
»Darüber liegen uns keine Informationen vor. Worum handelt es sich dabei?«
»Es wird aus Erdöl gewonnen. Wir haben Motoren, die das verbrennen und daraus Leistung beziehen.«
»Da werden fossile Brennstoffe verbrannt?«, fragte Brungk ungläubig. »Das wäre bei uns strengstens verboten. Wisst ihr denn nicht, was diese Verbrennungsrückstände mit eurer Welt anstellen?«
»Willkommen im 21. Jahrhundert«, erwiderte Dunn sarkastisch.
Nach wenigen Minuten erreichten sie ein alleinstehendes Haus mit zwei Stockwerken und einem - für diese Gegend untypischen - Satteldach. Eine breite Veranda mit einem roten Holzgeländer zierte die Vorderfront.
»Wir sind da«, erklärte Dunn. »Das ist mein Zuhause. Lasst uns hineingehen, da ist es viel kühler als hier draußen.«
Sie verließen das Auto und folgten Dunn über die kleine Holztreppe auf die Veranda. Sequel schaute sich immer wieder neugierig um und Dunn bildete sich ein, dass ihr gefiel, was sie sah. Er öffnete die Tür und ließ seine Gäste eintreten. Von der Veranda aus erreichte man die Küche. Dunn hatte seit dem Tod seiner Eltern fast nichts darin verändert. So hatte er alle Möbel aus den 50er Jahren behalten und kochte noch immer auf dem alten Gasherd, den sein Vater Dutzende Male repariert hatte. Er konnte sich einfach nicht davon trennen.
»Hier wird Essen zubereitet, nicht wahr?«, fragte Sequel. »Ich habe Fotos von solchen Räumen gesehen, hab aber keine Vorstellung davon, wie so etwas vor sich geht.«
»Richtig«, grinste Dunn, »Hier werden Speisen gekocht. Wir nennen so einen Raum Küche. Dies ist eine sehr alte Küche und stammt noch von meinen Eltern. Ich hab alles gelassen, wie es ist. Mir gefällt es so.«
Brungk hatte sich auf einen der Stühle gesetzt und wirkte desinteressiert, während Sequel mit ihren Fingern über die Oberflächen von Tisch, Anrichte und Spüle fuhr.
»Ich finde das faszinierend«, sagte sie. »Es ist unsagbar fremd für mich, aber es ist atmosphärisch stimmig. Ich weiß nicht, was es auslöst, aber es gefällt mir. Darf ich auch die anderen Räume sehen?«
Dunn deutete auf die schmale Holzstiege, die nach oben führte. »Die Schlafräume liegen oben. Vielleicht sollte ich euch zunächst diese Räume zeigen. Dort steht auch der Kleiderschrank mit den zurückgebliebenen Kleidungsstücken meiner Schwester.«
Er ging vor und deutete ihnen, ihm zu folgen. Oben öffnete er die Tür zum Zimmer seiner Schwester und Sequel blickte hinein.
»Hier könnt ihr zwei übernachten. Das Bett ist breit genug für zwei Personen. Mein Zimmer liegt auf der anderen Seite. Was meint ihr?«
»Du meinst, ich soll mit Sequel zusammen in diesem Bett schlafen?«, fragte Brungk. »Ich halte das nicht für eine gute Idee.«
Dunn sah ihn ratlos an. »Ähem, und warum nicht? Ihr seid ein Paar, oder nicht? Dann könnt ihr auch in einem Bett zusammen schlafen.«
Sequel sah ihn lächelnd an. »Du hast da etwas nicht ganz richtig verstanden. Brungk und ich sind ein funktionales Paar. Wir wurden als Paar konzipiert, um eine bestimmte Aufgabe lösen zu können. Wir sind in der Lage, unsere Egos miteinander verschmelzen zu lassen und haben in diesem Zustand besondere Fähigkeiten. Wir sind genetisch aufeinander abgestimmt. Es ist dir doch selbst bereits aufgefallen. Denk an unsere Fingerabdrücke. Das ist nur ein Hinweis auf unsere enge Beziehung. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns auch geschlechtlich als Paar empfinden. Es ist im Grunde ein Zufall, dass wir als Typ A und Typ B konzipiert wurden. Zwischen Brungk und mir existiert kein emotionales Band. Wir würden es vorziehen, nicht gemeinsam in einem Bett zu schlafen.«
»Da hab ich wohl tatsächlich was in den falschen Hals bekommen«, meinte Dunn, kommentierte es jedoch nicht, als er Sequels fragenden Blick bemerkte. »Ich hab noch ein Gästezimmer am Ende des Flures, aber das ist nicht so komfortabel eingerichtet.«
»Das nehm ich!«, rief Brungk, ohne es überhaupt gesehen zu haben.
Dunn sah ihn überrascht an. »Du hast es doch noch nicht einmal gesehen.«
»Wenn es ein Bett enthält, reicht mir das völlig. Ich bin sehr müde und muss unbedingt ein paar Stunden schlafen.«
Dunn deutete auf das Ende des Flures. »Dann leg dich einfach hin.« Er wandte sich zu Sequel um. »Das gilt natürlich auch für dich. Du bist sicher auch müde.«
»Überhaupt nicht«, versicherte sie. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern weiter dein Haus anschauen und mich unterhalten. Es ist in eurem Zeitalter alles so interessant und ursprünglich. Ich möchte so viel wie möglich davon in mich aufnehmen.«
»Okay«, sagte Dunn und deutete auf das Bad. »Hier könnt ihr euch frisch machen, waschen oder duschen. Es gibt auch eine Toilette.«
Sequel warf einen Blick hinein und lächelte. »Nicht alles ist völlig verschieden, scheint mir. Das ähnelt einer Hygienezelle in meinem Heimatkomplex.«
Dunn öffnete die Tür zum Zimmer seiner Schwester. »In den Schränken dort befinden sich die Sachen meiner Schwester, die sie zurückgelassen hat. Probier einfach an, was dir passt und gefällt. Ein Spiegel befindet sich auf der Innenseite der Schranktür. Ich lass dich jetzt allein und du kannst in Ruhe auswählen. Wenn du mich suchst, findest du mich unten im Erdgeschoss. In Ordnung?«
Sequel lächelte und nickte. »Danke Dunn.«
»Wayne«, korrigierte Dunn. »Dunn ist der Familienname. Mein Vorname lautet Wayne. Wenn du schon in meinem Haus wohnst, solltest du mich beim Vornamen nennen.«
»Okay. Wayne also.«
Sie blickten sich einen Moment schweigend an, bis Sequel die Tür von innen verschloss. Dunn blieb noch einen Augenblick stehen, wandte sich dann um und lief die Treppe herunter ins Erdgeschoss. Im Kühlschrank fand er noch ein Bier, das er sogleich öffnete und mit ins Wohnzimmer nahm. Er hatte vor, sich durch das TV auf andere Gedanken bringen zu lassen, doch waren die Erlebnisse des Tages noch zu präsent in ihm. Er hielt die Fernbedienung in der einen, das Bier in der anderen Hand, konnte sich jedoch nicht entscheiden, was er tun sollte. Alles, was ihm etwas bedeutete, sollte in Kürze nicht mehr existieren? Und diese zwei eigenartigen Menschen, die nun auch noch in seinem Haus wohnten, sollten der Schlüssel zur Rettung sein? Ausgerechnet er sollte eine Rolle in diesem Drama spielen? Es war alles zusammen etwas viel für ihn.
Er wusste nicht, wie lange er so gesessen hatte, als er Geräusche von oben vernahm. Jemand kam die Treppe herunter. Das Erste, was er sah, waren zwei lange, nackte Beine. Es folgte eine junge Frau, wie er sie bislang nur aus Zeitschriften oder dem TV kannte. Sequel war eine ausgesprochene Schönheit und mit der Zielsicherheit einer Frau hatte sie aus dem Fundus seiner Schwester die Kleidung herausgesucht, die ihre gesamte Erscheinung am besten zur Geltung brachte.
Unten angekommen breitete sie ihre Arme aus und drehte sich einmal um ihre Achse. »Ich hoffe, ich habe passende Kleidung gefunden. Trägt man es so bei euch? Ich möchte natürlich nicht auffallen, wenn andere Menschen mich sehen.«
»Es ist perfekt«, beeilte sich Dunn zu versichern. Es war eigenartig, diese Frau in den Sachen seiner Schwester zu sehen. Sequel schien eine Vorliebe dafür zu haben, Kleidung zu tragen, die ihren Körper gut zur Geltung brachte, beziehungsweise einiges davon zeigte. Dunn konnte sich nicht erinnern, wann Kim zuletzt so kurze Röcke getragen hatte.
Sie setzte sich neben ihn auf die Couch und schlug ihre Beine unter. »Bei euch ist alles so ... ursprünglich«, sagte sie.
»Wie meinst du das?«
»In meiner Welt ist im Grunde jede Sekunde des Lebens vorgezeichnet. Bereits vor der Zusammenführung von Eizelle und Samen wird das zukünftige Leben nach den Erfordernissen der Gesellschaft geprägt. Der spätere Mensch wird exakt die Interessen und Talente entwickeln, die von der Gesellschaft benötigt werden. Dadurch sind die Menschen in ihren Tätigkeiten glücklich und werden wertvolle Elemente der Menschheit. Bei euch erscheint es mir eher roh und zufällig. Ist es nicht so?«
Dunn überlegte einen Moment. »Ich würde eher eine Prägung ungeborenen Lebens als unnatürlich oder sogar künstlich empfinden. Menschen sollten einen freien Willen haben und selbst entscheiden können, wie sie leben wollen.«
Sequel blickte ihn aus leuchtenden Augen an. »Wir haben einen freien Willen. Wie kannst du annehmen, wir unterlägen einem äußeren Zwang?«
»Wenn ihr alle für eine Aufgabe vorgesehen seid und man euch bereits vor der Zeugung genetisch darauf programmiert, sehe ich keinen freien Willen. Tut mir leid.«
»Jeder Mensch hat in unserer Gesellschaft das Recht, sich seinen Tätigkeitsbereich selbst auszusuchen. Natürlich wird er dabei seiner Prägung folgen, aber die Entscheidung liegt bei jedem selbst.«
»Du und Brungk habt also ganz allein entschieden, in die Vergangenheit zu reisen. Die Möglichkeit, hier zu scheitern, zu sterben, oder den Rest des Lebens in unserer rohen Zeit zu fristen, hat euch nie zweifeln lassen, ob ihr das Richtige tut?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht eine Sekunde. Wir wurden dafür geschaffen. Es war unsere Berufung.«
»Das meine ich doch! Ihr hattet überhaupt keine Wahl. In der Sekunde, als Wissenschaftler beschlossen hatten, Menschen zu schaffen, die in die Vergangenheit reisen sollen, war eure freie Wahl zum Teufel!«
Sequel sah ihn schweigend an. Dunn erwartete eine Antwort, doch sie kam nicht. Sie zog ihre Beine an und schlang ihre Arme darum. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Hatte er sie durch seine Argumente vielleicht verunsichert? Er wusste es nicht. Als die Pause zu lang wurde, schaltete er den Fernseher an und verfolgte eine Nachrichtensendung.
»Vielleicht hast du sogar recht«, sagte sie plötzlich. »Wir haben immer nur für die Reise hierher gelebt. Unsere Aufgabe steckt in uns, treibt uns an. Ich weiß jedoch nicht, was geschieht, wenn es uns gelingt, unsere Mission zu erfüllen. Unser Daseinszweck wäre dann erfüllt, obwohl wir nach unseren Maßstäben noch recht junge Menschen sind. Ich habe mir nie die Frage nach einem Danach gestellt, weißt du?«
»Na, dann denk mal darüber nach. Nach allem, was ihr erzählt habt, wird sich euer Daseinszweck schon sehr bald erfüllen.« Er erhob sich. »Habt ihr Zukunftsmenschen eigentlich keinen Hunger? In meiner Zeit muss man hin und wieder Essen. Hast du Lust, mir in der Küche zu helfen?«
Sequel sah ihn unsicher an. »Wie sollte ich dir helfen? Ich habe noch nie eine Speise selbst hergestellt. Bei uns erledigen das Maschinen. Die Synthetisierer präsentieren uns gleich vollständige Mahlzeiten.«
Dunn lachte leise. »Synthetisierer, hmm? Dann komm mal mit. Ich zeige dir, wie das hier bei uns läuft.«
Er lief voraus und Sequel folgte ihm neugierig. »Ihr bearbeitet also wirklich noch die Rohstoffe selbst? Ist jeder von euch dann eine Art Chemiker?«
Sie betraten die Küche und Dunn deutete mit dem Arm einmal im Kreis. »Sieht das aus wie ein Labor? Eine Küche ist ein Arbeitsraum, in dem man mit Lebensmitteln hantiert. Wenn ich deine Fragen richtig interpretiere, esst ihr überhaupt keine natürlich gewachsenen Dinge mehr. In meiner Zeit ist das anders. Bei uns werden essbare Pflanzen noch richtig angebaut und wachsen im Boden. Fleisch stammt noch von richtigen Tieren, die gezüchtet werden, um uns zu ernähren.«
Sequels Gesicht nahm einen entsetzten Ausdruck an. »Ihr esst Tiere? Ihr tötet Tiere, um sie zu essen? Ich hätte nie vermutet, dass Menschen in früheren Zeitaltern so barbarisch waren. Und wie muss ich mir das vorstellen, dass Pflanzen zum Essen im Boden wachsen? Ist dir nicht bewusst, wie keimverseucht wild wachsende Flora sein kann?«
Dunn lachte laut auf. »Natürlich sind wir Keimen ausgesetzt. Na und? Die meisten töten wir durch Hitze ab und an die Verbleibenden sind wir meist gewöhnt. Und was das Fleisch angeht ... Ja, wir Barbaren essen Tiere und auch ihre Produkte. Es gibt zwar auch Menschen, die das nicht tun, aber ich gehöre nicht dazu. Wenn du es nicht kennst, solltest du es zumindest einmal kosten. Du solltest wenigstens wissen, wovor du dich vor Entsetzen schüttelst. Oder kannst du etwa unsere Nahrung überhaupt nicht vertragen?«
Der Gedanke war ihm erst jetzt gekommen. Wenn diese Menschen nur keimfreie Nahrung kannten, wurden sie unter Umständen krank, wenn sie normales Essen zu sich nahmen.
»Euer Essen kann uns nicht schaden«, sagte Sequel. »Wir wurden genetisch so konzipiert, dass wir jede Nahrung vertragen sollten, die man in eurem Zeitalter kennt.«
»Okay. Also: Was hältst du von Bratkartoffeln mit Speck und Eiern? Mehr hab ich zurzeit nicht im Haus.«
»Ich kenne nichts davon. Ich werde mich überraschen lassen müssen.«
Dunn holte eine Tüte mit Kartoffeln hervor und begann, sie mit einem Schäler von der Schale zu befreien. Sequel zierte sich zunächst ein wenig, die schmutzigen Kartoffeln mit den Händen anzufassen, aber Dunn ließ nicht locker, bis auch sie versuchte, die Kartoffeln mit einem zweiten Schäler zu bearbeiten. Sie war recht ungeschickt und langsam, aber es gelang ihr nach kurzer Zeit, sie zu schälen.
»Ich schneide schon mal den Speck«, sagte Dunn. »Du könntest die Kartoffeln halbieren und in kleine Scheiben schneiden. Aber Vorsicht mit deinen Fingern. Das Messer ist sehr scharf.«
Während er den Speck würfelte, warf er immer einen Blick zu Sequel, die konzentriert an ihren Kartoffeln arbeitete. Man merkte ihr an, dass es eine völlig fremde Tätigkeit für sie war. Als alles geschnitten war, warf Dunn den Speck in eine Pfanne und zündete die Flamme auf dem Herd. Nach kurzer Zeit zog ein köstlicher Geruch nach gebratenem Speck durch die Küche und Sequel schnüffelte ständig mit der Nase.
»Ist das normal, wenn der Speichelfluss im Mund zunimmt?«, fragte sie. »Ich muss ständig schlucken.«
Dunn lachte laut. »Offenbar habt ihr Zukunftsmenschen noch nicht alles verlernt. Ja, es ist normal.«
Er nahm den ausgebratenen Speck aus der Pfanne und gab ihn in eine kleine Schale. Er fügte noch etwas Öl in die Pfanne und gab die Kartoffeln hinein. »Jetzt dauert es noch eine Weile. Man muss nur achtgeben, dass die Kartoffeln nicht am Pfannenboden anbacken. Im Schrank neben dir stehen Teller. Hol schon mal zwei heraus. Besteck findest du in der Schublade unter dem offenen Fach.«
Sequel öffnete den Schrank und bestaunte die Menge an Geschirr, die sauber aufgestapelt darin stand. Sie nahm zwei Teller heraus und holte auch zwei Messer und Gabeln aus der Schublade. »So was kenne ich auch noch aus meiner Zeit, obwohl wir Messer kaum noch verwendet haben.«
Neugierig stellte sie sich hinter Dunn und blickte in die Pfanne, in der er geschickt mit einem Pfannenwender die Kartoffeln wendete. Das laute Bratgeräusch irritierte sie. »Macht kochen immer solchen Lärm?«
»Lärm? Ich liebe dieses Geräusch beim Braten. Es stört mich auch nicht, dass es über eine halbe Stunde dauert, bis es fertig ist.«
»So lange dauert es, eine Mahlzeit zu bereiten? Bei uns ordert man sein Essen am Display des Synthetisierers und einen Augenblick später steht es dampfend im Ausgabefeld.«
»Bei uns dauert es eben. Manche Gerichte dauern noch viel länger, aber das Ergebnis rechtfertigt es in jedem Fall.«
Sequel blieb hinter ihm stehen und starrte fasziniert auf die Pfanne. Nach und nach trat sie näher an ihn heran und Dunn nahm auf einmal ihren Geruch wahr. Er musste sich krampfhaft auf sein Essen konzentrieren, um sich abzulenken. Er konnte sich nicht erinnern, jemals einer Schönheit wie Sequel so nahe gewesen zu sein. Er wusste genau, dass sie eine Fremde war, eine Frau aus einer fernen Zukunft. Er wusste, dass die körperliche Nähe nichts zu bedeuten hatte und nur ihrer unbefangenen Neugier auf alles geschuldet war, das ihr Informationen aus seiner Zeit bringen konnte. Alles das wusste er genau, aber er konnte trotzdem nicht verhindern, dass er auf sie reagierte.
Mit aller Gewalt brachte er sich auf andere Gedanken und rührte in den Kartoffeln. Als sie fast fertig waren und er den Speck dazugab, fiel ihm ein, etwas vergessen zu haben.
»Zwiebeln! Wie konnte ich die Zwiebeln vergessen?«
Schnell griff er in einen Eimer unter der Spüle und holte zwei Zwiebeln heraus. Geschickt entfernte er die äußere Haut und schnitt sie in Ringe. Als er Sequel ansah, bemerkte er Tränen in ihren Augen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wieso, aber es ist etwas in der Luft, das meine Augen reizt.«
»Es ist die Zwiebel«, sagte Dunn. »Das geht gleich vorbei.« Er gab auch die Zwiebeln in die Pfanne und wendete alles noch einmal. »Gleich ist es so weit.«
Als Letztes schlug er zwei Eier auf und ließ sie über die Kartoffeln laufen.
Wenige Minuten später saßen sie sich am Küchentisch gegenüber und Dunn trug Sequel etwas aus der Pfanne auf. Er schob ihr die Pfeffer- und Salzstreuer herüber.
»Salz und Pfeffer musst du nach eigenem Geschmack verwenden. Nimm nicht zu viel, bis du ein Gefühl dafür bekommst. Würze lieber nach.«
Sequel saß hilflos vor ihrem Teller, der köstlich duftete, und wusste nicht, wie sie beginnen sollte. Dunn nahm die Gabel und zeigte ihr, wie man es aß. »Einfach rein damit! Du kannst nichts falsch machen. Guten Appetit!«
Sie kostete vorsichtig von ihrem Teller und ihre Miene hellte sich zusehends auf. Die zweite Gabel war bereits deutlich voller als die erste. »Das schmeckt hervorragend. Ich hab noch nie einen so intensiven Geschmack erlebt. Schmeckt jedes Essen bei euch so gut?«
»Das hängt natürlich auch davon ab, wie gut jemand kochen kann. Bratkartoffeln sind jetzt nicht unbedingt eine Wissenschaft. Das ist ein recht einfaches Essen.«
»Ich finde es ungeheuer gut«, sagte sie mit vollem Mund.
Dunn beobachtete sie, und empfand eine irrationale Freude darüber, dass es Sequel so gut schmeckte. Als sie fertig waren, holte Dunn noch ein paar Früchte hervor, die sie ebenfalls mit Heißhunger verspeiste. »Und so was wächst bei euch einfach aus dem Boden?«
»Na ja, diese Pflaumen wachsen an Bäumen, aber grundsätzlich sind es einfach Pflanzen, die eigens angebaut werden, um gegessen zu werden.«
Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Allein dafür würde ich auf ewig hier in dieser Zeit bleiben wollen. Das gibt es bei uns in der Zukunft alles nicht.«
Dunn sah sie nachdenklich an. »Ich würde es dir und Brungk wünschen, dass ihr eure Mission erfüllen könnt. Mir im Übrigen auch, denn ein Scheitern würde schließlich bedeuten, dass es all das bald nicht mehr geben würde. Es erscheint mir so verdammt unwirklich, darüber nachzudenken. Gut, es gab Zeiten, in denen wir Menschen einer totalen Auslöschung näher standen als einem stabilen Frieden ...«
Sie sah überrascht auf. »Wirklich? Und warum?«
»Menschen waren zu allen Zeiten kriegerisch veranlagt. Nach der Erfindung von Atom- und Wasserstoffbombe gab es eine Phase der militärischen Aufrüstung, und es sah mehr als nur einmal so aus, als würde es einen Verrückten geben, der den globalen Krieg auslösen würde.«
»Globaler Krieg? Auf der Erde? Zwischen den Menschen? Das ist unfassbar!«
»Ist es das wirklich? Kämpft ihr in der Zukunft nicht auch gegen die Skrii? Aggressives Verhalten scheint demnach auch in zwei Millionen Jahren noch immer in den Menschen zu existieren.«
»Aber doch nicht untereinander!«, entgegnete Sequel heftig. »Die Insektoiden wollen uns auslöschen! Das rechtfertigt jede Aggression!«
Dunn hatte keine Lust, dazu eine weitere Diskussion zu entfachen und ließ Sequels Ausbruch unkommentiert. Er wechselte das Thema. »Wie soll es eigentlich weitergehen? Wenn ich mich recht erinnere, wird die Waffe der Skrii in etwa zwei Monaten diese Zeitebene kreuzen. Wir haben also noch eine Menge Zeit, uns in Stellung zu bringen, aber wann wollt ihr im Yellowstone Nationalpark eintreffen? Braucht ihr eine Vorlaufzeit? Einen Mindestzeitraum vor dem Auftauchen der Waffe?«
Sequel überlegte. »Wenn sie auftaucht, wird sie innerhalb von zwei Tagen eurer Zeit weitergezogen sein. Wir sind zwar speziell für diesen Auftrag geschaffen worden, haben allerdings noch nie unter echten Bedingungen unseren Spürsinn prüfen können. Unsere Wissenschaftler meinen, wir würden das fremde Zeitfeld etwa einen Tag vor dem Durchgang spüren und lokalisieren können. Es darf dabei allerdings nicht mehr, als 100 Bymen ... entschuldige, das sind etwa 150 eurer Meilen ... entfernt sein.«
»Gut, dann schlage ich vor, ihr lebt euch erst mal etwas in unserer Zeit ein und einige Tage vor dem Ereignis fahre ich mit euch zum Park. Unter Umständen könnt ihr Hilfe von jemandem gebrauchen, der hier aufgewachsen ist.«
Sequel lächelte ihn an. »Ich hatte gehofft, dass du so denkst. Ich gestehe, dass ich befürchtet hatte, du und Cole würdet uns einfach nur für verrückt halten. Wir hatten bereits überlegt, eine ungezielte Ortsversetzung durchzuführen, aber ich war sicher, dass uns das nicht weitergebracht hätte. Schließlich hatten wir noch immer keine geeignete Kleidung, und erst recht keine Mittel, um weiterzukommen. Ich konnte Brungk überzeugen, zu warten. Ich bin froh, dass du uns jetzt glaubst. Kannst du mir erklären, was den Ausschlag gab, uns zu vertrauen?«
Dunn trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und überlegte. Die Frage war berechtigt. Vermutlich war es seine ›Entführung‹, der Aufenthalt im psychischen Konstrukt dieses seltsamen Paares, der ihn schließlich überzeugt hatte. Solche Fähigkeiten kamen bei normalen Menschen einfach nicht vor.
»Es war unser Gespräch in eurem virtuellen Raum, denke ich.«
Sie nickte. »Das hab ich vermutet. Du weißt, worauf du dich einlässt, wenn du uns hilfst?«
Dunn schüttelte den Kopf.
»Und warum tust du es dann? Bist du immer so leichtsinnig?«
»Ich weiß es selbst nicht. Aber erkläre mir doch einfach, was geschehen kann.«
Sequel schmunzelte. »Doch, du weißt es. Du willst dir nur nicht eingestehen, dass ich der Grund sein könnte. Ich habe deine Blicke bemerkt. Das sollte für dich nicht der Grund sein, Wayne Dunn. Uns trennen Millionen Jahre Entwicklung und kulturelle Änderungen. Die Waffe der Skrii wird groß sein - wie eines eurer Häuser. Sie wird von einer künstlichen Intelligenz gesteuert werden, die nach den Wertvorstellungen der Skrii programmiert ist. Die Waffe ist darauf ausgelegt, sich gegen äußere Zugriffe zu verteidigen. Was immer wir tun, um sie unschädlich zu machen, wird von der KI als Bedrohung eingestuft und einen Verteidigungsmodus auslösen. Wir kämpfen seit Langem gegen diese Wesen und wissen daher, dass sie über mächtige Zerstörungswaffen verfügen. Unsere Mission ist vielleicht schon jetzt gescheitert, nur, dass wir es noch nicht wissen. Wir könnten alle sterben. Ist dir das klar?«
Dunn überlegte wieder. »Du hast vermutlich recht. Ich weiß selbst, dass es Schwachsinn ist, dich als normale Frau meiner Welt anzusehen. Hinzu kommt deine - für mich - unverständliche Beziehung zu Brungk, mit dem du dich in besonderer Weise mental verbinden kannst. Soweit der Verstand. Es steht nur nirgends geschrieben, dass Menschen immer nur vernünftig sind. Ist das bei euch anders?«
»Nein, auch wir sind nicht immer vernünftig - meistens aber schon. Unsere Gesellschaft basiert generell auf vernünftigem und logischem Verhalten.«
Dunn nickte. »Das dachte ich mir schon. Aber dein Argument, ich solle mich für dich nicht in Gefahr begeben, ist nicht unbedingt logisch, denn entweder wir gehen beim Versuch drauf, diese Waffe zu entschärfen, oder wir werden durch die Waffe selbst alle ausgelöscht. Was macht den Unterschied? Nur, wenn wir es überhaupt wagen, gibt es eine Chance auf Erfolg.«
»Stimmt«, sagte Sequel nachdenklich. »Das hatte ich nicht bedacht.«
»Sollten wir aber das Glück haben, und unsere Mission hat Erfolg, wirst du dich geistig davon lösen müssen, ein Mensch aus der Zukunft zu sein. Dann musst du dich in eine von uns verwandeln, oder du wirst in deinem Leben nie glücklich werden können.«
»Was meinst du mit glücklich?«
»Du kennst den Begriff Glück überhaupt nicht?«, fragte Dunn fassungslos. »Was ist mit Freude am Leben? Emotionalem oder körperlichem Hochgefühl?«
»Ich glaube, ich kann dir nicht folgen.«
Dunn betrachtete forschend die schöne Fremde. »Manchmal denke ich, dass euch in den Zeitaltern etwas verloren gegangen ist. Wenn wir Erfolg haben, werden du und Brungk eine Menge zu lernen haben. Was verbindet euch wirklich?«
»Brungk ist mein funktionaler Partner. Wir sind zwei Module, die zusammen funktionieren. Wir müssen uns geistig verschmelzen, um unser Potenzial ausschöpfen zu können. Du wirst es erleben, wenn wir gegen die Skrii-Waffe kämpfen werden. Dann wird sich zeigen, ob unsere Wissenschaftler uns richtig konfiguriert haben.«
»Wenn ihr so oft miteinander verschmelzt ... Was löst es emotional in euch aus? Was empfindet ihr dabei?«
Sequel lächelte nachsichtig. »Das scheint dir ungemein wichtig zu sein. Ich bezweifle, dass du es verstehst. Wir sind die Mission. Nur gemeinsam ist es uns möglich, sie zum Erfolg zu bringen. Wir fühlen uns erst in der Verbindung vollständig ... Ich weiß nicht, ob das korrekt ausgedrückt ist. Nur in der Verbindung gibt es überhaupt erst die Mission. Getrennt sind wir nur Menschen ohne besonderen Daseinszweck.«
»Entschuldige, aber das ist für mich eine grauenhafte Vorstellung. Eure Prägung hindert euch doch an allem, was das Menschsein ausmacht. Ihr empfindet demnach füreinander überhaupt nichts.«
»Hast du geglaubt, Brungk und ich hätten reproduktive Ambitionen?« Sie lachte hell auf. »Das ist absurd und durch unsere genetische Konditionierung auch überhaupt nicht möglich.«
Dunns Fassungslosigkeit wurde immer größer. Eigentlich hätte er das Gespräch hier gern abgebrochen, doch die Neugier und auch die auffällige Sachlichkeit Sequels trieben ihn dazu, weitere Fragen zu stellen. Er wollte einfach verstehen, mit wem er es zu tun hatte.
»Was meinst du damit? Wurdet ihr so geschaffen, dass euch Geschlechtlichkeit nichts bedeutet? Oder seid ihr überhaupt nicht in der Lage, euch zu ›reproduzieren‹, wie du es nennst?«
»Wir sind voll funktionsfähige Menschen der Typen A und B. Natürlich sind wir auch reproduktionsfähig, aber Brungk und ich sind diesbezüglich in jeder Hinsicht inkompatibel. Sind deine Fragen damit hinreichend beantwortet?«
Dunn verzog das Gesicht. »Vermutlich nicht, aber wir sollten weitere Fragen vertagen. Es ist spät geworden und ich brauche eine Mütze Schlaf. Wirst du überhaupt nicht müde? Brungk liegt schon seit Langem im Bett.«
»Ich brauche nicht so viel Schlaf, aber du hast recht. Ein paar Stunden könnten nicht schaden. Aber ich hab auch noch eine Frage.«
Dunn sah sie erwartungsvoll an.
»Wenn wir eine Weile hier bei dir wohnen ... Wird dann niemand Fragen stellen, wer wir sind? Cole weiß natürlich Bescheid, aber was ist mit anderen Menschen dieses Ortes?«
»Offiziell werde ich euch als Cousin und Cousine von der Westküste vorstellen. Ihr seid eine Weile hier bei mir zu Besuch. Von der Familie meines Vaters, die von der Westküste stammt, wissen die Wenigsten hier etwas. Man wird es euch abnehmen.«
Sequel nickte, aber er konnte sehen, dass sie noch nicht zufrieden war. »Was sind ein Cousin und eine Cousine?«
»Kinder der Geschwister der Eltern.«
Sie winkte ab. »Heute Abend wird mir das alles zu kompliziert. Vermutlich bin ich tatsächlich müder als ich dachte. Ich werde mich auch ins Bett legen.«
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und stieg die Treppe hinauf, die zu den Schlafräumen führte. Dunn blickte ihr hinterher und fragte sich, was er eigentlich erwartete. Er musste sich eingestehen, dass ihn diese Frau faszinierte. Sie sah toll aus, aber das war es nicht allein. Sie war hochintelligent, entstammte jedoch einer Kultur, die so fremdartig war, dass er sich ihr gegenüber vorkam wie ein Dinosaurier. Und genau genommen lagen zwischen ihnen so viele Jahre, dass dieser Vergleich durchaus angemessen war. Einige Minuten grübelte er und dann entstanden weitere Fragen in seinem Kopf. Brungk und Sequel sahen aus wie Menschen des 21. Jahrhunderts. Okay, sie sahen beide extrem gut aus, aber letztlich wirkten sie wie normale Menschen. Sollte sich der Mensch in zwei Millionen Jahren nicht weiterentwickelt haben? Was war mit Evolution? Offenbar hatten die Menschen die Erde verlassen oder zumindest andere Welten besiedelt. Müssten sie sich nicht ihrer neuen Umgebung angepasst haben? Würde sich das nicht auf das Aussehen auswirken müssen? Er hatte sich schon mit dem Gedanken angefreundet, Besuch aus der Zukunft bei sich aufgenommen zu haben, aber jetzt kamen ihm erneut Zweifel. Er beschloss, die beiden und ihr Verhalten in der nächsten Zeit sehr genau zu beobachten.


1.2    Yellowstone

Ein paar Wochen waren inzwischen vergangen und Dunns Gäste hatten sich alle Mühe gegeben, in der für sie fremden Zeit zurechtzukommen. Sequel hatte sich von dem Geld, das Dunn ihr gegeben hatte, im Ort etwas eigene Kleidung gekauft, die der Mode etwas besser entsprach als die von seiner Schwester zurückgelassenen Sachen. Ihre Vorliebe für kurze Röcke und Shorts hatte sie beibehalten, und wenn sie die kleine Einkaufszone von Thedford entlangbummelte, drehten sich die Männer des Ortes reihenweise nach ihr um. Auch Brungk fiel durch seine auffallend maskuline Erscheinung auf, und viele Frauen verglichen verstohlen ihre eigenen Männer mit ihm.
Man hatte sich daran gewöhnt, dass diese Zwei zum Stadtbild gehörten und jeder wusste, dass Dunn seine Verwandten zu Besuch hatte.
Dunn hatte als Sheriff des Ortes nicht viel zu tun und Cole war gern bereit, zusätzliche Aufgaben zu erledigen, um seinem Chef den Rücken frei zu halten. Oft ging Dunn schon früh nach Hause und brütete mit Brungk und Sequel über den Karten des Gebietes, in dem aller Voraussicht nach die Skrii-Waffe auftauchen würde.
Sequel entschied schließlich, dass sie es etwa in der Mitte des Mirror Plateau im Ostteil des Nationalparks versuchen sollten. Es lag fernab aller Straßen und auch Sehenswürdigkeiten für Touristen gab es im weiten Umkreis nicht. Da man mit dem Erscheinen einer gewaltigen Maschine rechnen musste, die nach Möglichkeit nicht entdeckt werden sollte, war eine weitgehend unerschlossene Gegend ideal für die Skrii.
Dunn deutete auf die Karte. »Wir fahren nach Norden bis zur Interstate 90 und von dort nach Westen bis Sheridan. Von dort müssen wir über kleinere Straßen weiter. Ich schlage vor, wir suchen ein Quartier außerhalb des eigentlichen Parks - also hier in Codi oder Wapiti. Das sind zwar kleine Nester, aber ein Hotel oder Motel werden wir dort sicher finden. Wir können uns als Naturliebhaber ausgeben, die dort durch die Wildnis wandern wollen. In gewisser Weise stimmt das ja sogar.«
Sequel und Brungk nickten.
»Die Entfernung zu unserem Zielgebiet ist nicht sehr groß«, sagte Sequel. »Wir könnten in einem Zug eine Ortsversetzung bis auf das Plateau schaffen. Was meinst du?«
»Kein Problem«, meinte Brungk. »Wir könnten sogar Dunn und unsere Ausrüstung mitnehmen.«
»Was ist, wenn ihr euch mit dem Plateau getäuscht habt und das Ding im Südwesten des Parks auftaucht?«, fragte Dunn. »Bekommt ihr das mit?«
»Das liegt in unserem Radius«, sagte Sequel. »Wir könnten sofort dorthin weiterziehen.«
Dunn schlug mit der Hand auf den Tisch. »Dann sollten wir morgen aufbrechen. Ich hab den Wagen schon vollgetankt und Vorräte für die Reise sind im Kühlschrank. Wir sollten früh schlafen gehen, damit wir morgen frisch und ausgeruht sind.«
Sie trafen noch weitere Vorbereitungen, packten das Fahrzeug und legten zweckmäßige Kleidung bereit.
Mitten in der Nacht wurde Dunn wach. Er hatte normalerweise einen festen Schlaf und wurde in der Regel nicht einfach wach. Er blickte an die Decke, wo durch seinen Projektionswecker die Uhrzeit angezeigt wurde. Es war 02:10 Uhr, also noch eine Menge Zeit bis zum Aufstehen. Er rollte sich von seiner rechten auf die linke Seite und stieß gegen ein Hindernis. Irritiert tastete er mit der Hand danach und zuckte erschreckt zurück. Seine Hand hatte warme, weiche Haut berührt. Der Körper neben ihm bewegte sich leicht und rückte näher an ihn heran.
Dunn wusste nicht, was er davon zu halten hatte. Offenbar war Sequel zu ihm ins Bett geschlüpft. Mehr als einmal hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie alles andere als romantisch veranlagt war und eine Beziehung über die Zeitalter hinweg nicht infrage kam. Was also hatte es zu bedeuten?
»Kannst du mich in den Arm nehmen?«, fragte sie zaghaft.
»Bist du sicher?«
Statt einer Antwort schmiegte sie sich in seinen Arm, sodass ihm keine andere Wahl blieb, als sie an sich zu drücken. Es war ihm natürlich nicht unangenehm, zumal sie nackt war. Er verstand es nur nicht.
»Was ist mit dir?«, fragte er sie.
»Ich weiß nicht«, gab sie unsicher zu. »Es ist wegen der Fahrt morgen, der Mission und ... Ich glaube, ich verspüre Angst. Ich habe Angst vor der Aufgabe, die vor uns liegt. Man hatte uns auf vieles vorbereitet, nur nicht auf Emotionen. Ich kann es nicht einmal konkret fassen. Da ist eine schreckliche Angst, zu versagen, zu sterben.« Sie blickte zu ihm auf und versuchte, im schwachen Licht der Nacht, sein Gesicht zu sehen.
»Hast du keine Angst?«
»Doch. Ich habe auch Angst. Ich wollte es nur nicht zeigen, weil ihr immer so tough gewesen seid. Wie kommt es, dass du zu mir gekommen bist?«
»Mit Brungk würde es nicht klappen. Bei dir hab ich das Gefühl, ich könnte meine Ängste loslassen. Darf ich bei dir bleiben? Ich bin auch ganz ruhig und lass dich schlafen.«
Dunn lachte leise und drückte die Frau fester an sich. »Dir ist schon klar, dass du es mir in diesem Aufzug nicht leicht machst?«
»Muss ich wieder gehen?«, fragte sie enttäuscht.
»Nein, natürlich darfst du bleiben.« Er strich ihr mit seiner freien Hand sanft über das Gesicht und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie versteifte sich einen Augenblick, entspannte jedoch gleich wieder und schlief seufzend ein. Dunn blieb noch eine Weile wach und dachte über die seltsame Situation nach, in der er sich befand. Schließlich schlief auch er ein.
Als er am Morgen wach wurde, fiel ihm gleich ein, dass Sequel sich in der Nacht zu ihm ins Bett geschlichen hatte. Das Gefühl ihres warmen Körpers an seinem war noch angenehm präsent in ihm. Vorsichtig tastete er mit der Hand nach dem Platz neben sich, fand aber nur eine kalte Matratze. Sequel war genauso unbemerkt verschwunden, wie sie auch gekommen war. Dunn fühlte Enttäuschung. Zwar bildete er sich nicht ein, dass der nächtliche Besuch für sie etwas bedeutet hatte, doch hätte er sich gefreut, sie beim Erwachen noch neben sich vorgefunden zu haben.
Er setzte sich auf die Bettkante und versuchte, seinen Kopf klar zu bekommen. Er fragte sich, ob er unbewusst tatsächlich geglaubt hatte, diese Frau aus der Zukunft könnte in ihm mehr sehen als einen unbedeuteten Menschen aus ihrer fernsten Vergangenheit - eine Art von Halbwildem. Andererseits: Wieso war sie in der Nacht zu ihm gekommen? Sie hatte Trost gesucht. War sie wirklich so verschieden von den Frauen, die er kannte? Er schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn, darüber Mutmaßungen anzustellen. Zunächst galt es, die Gefahr für die Menschheit abzuwenden.
Dunn lachte humorlos auf, als er diesen Gedanken hatte. Es war hochgradig lächerlich, sich im Zusammenhang mit der Rettung der Welt zu sehen. Es fühlte sich reichlich eigenartig an.
Die Tür öffnete sich und Sequel trat ein. Sie war bereits vollständig angezogen und trug ein kariertes Hemd aus seinem Schrank, das ihr viel zu groß war, und Shorts, die sie sich im Ort gekauft hatte. Dazu trug sie feste Schuhe. Ihre langen Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten. Wäre nicht ihr weißblondes Haar gewesen ... Er hätte gedacht, Lara Croft wäre von der Leinwand herabgestiegen.
»Ich bin schon reisefertig«, verkündete sie munter. »Das Frühstück wartet in der Küche auf dich. Ich hoffe, ich hab alles richtig gemacht. Oft genug zugesehen hab ich ja.«
Dunn erhob sich und sah sie prüfend an. »Alles in Ordnung, Sequel?«
»Warum fragst du?«
»Wenn ich das heute Nacht nicht geträumt habe, dann ...«
»Ach das. Ja, ich bin wieder in Ordnung. Vermutlich ist mir die Verantwortung einfach über den Kopf gewachsen. Ich bekam einfach Panik, eine Erfahrung, die ich bisher noch nicht kannte. Danke, dass du mir den Halt gegeben hast, den ich brauchte.«
Dunn nickte. »Keine Ursache.« Damit war auch geklärt, dass Sequels Verhalten nichts mit ihm zu tun hatte. Er stand halt zur Verfügung. Das war alles.
Er folgte ihr in die Küche und pfiff anerkennend, als er den gedeckten Tisch sah. Sequel hatte gut aufgepasst, denn es fehlte absolut nichts. Sie hatten am Tag zuvor beschlossen, vor ihrer Abfahrt noch ein reichhaltiges Frühstück einzunehmen, da sie nicht wussten, was in den nächsten Tagen auf die zukommen würde.
»Was ist mit Brungk?«, fragte Dunn. »Er wird doch nicht noch schlafen?«
Sequel verzog das Gesicht, wie er es bei ihr bisher noch nicht gesehen hatte. »Er wollte noch in den Ort laufen und etwas erledigen, wie er es nannte.«
»Etwas erledigen?«
»Brungk ist unprofessionell!«, schimpfte sie. »Hast du es etwa nicht mitbekommen? In den letzten Wochen ist er immer häufiger in den Ort gegangen.«
»Warum auch nicht? Ich muss gestehen, dass ich es begrüßt habe, dass er sich bemüht hat, sich an unsere Gemeinschaft anzupassen. Von dir kann ich das nicht unbedingt behaupten. Du bist in allem, was du tust, schrecklich distanziert. Aber du solltest überlegen, dass du eine von uns werden musst, wenn die Aufgabe erfüllt ist. Für dich wird es keinen Weg zurück in deine Heimatzeit geben. Oder war das gelogen? Werdet ihr wieder verschwinden?«
»Ob ich gelogen habe? Es ist gemein, mir das zu unterstellen. Ich kann aus verschiedenen Gründen nicht mehr zurück. Es wäre selbst dann nicht möglich, wenn es eine Zeitreise zurück in meine Zeit gäbe.«
Dunn stutzte. »Und warum wäre das nicht möglich?«
Sequel setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Ich hatte dir erzählt, dass die Menschen die Erde verlassen haben. Wir waren am Ende so viele geworden, dass ein Exodus unvermeidbar war. Mit der Entdeckung neuer Antriebssysteme und anderen Errungenschaften gelang es, das All zu erforschen. Man fand geeignete Planeten in anderen Sonnensystem, weit entfernt vom heimatlichen Sonnensystem. Die Besiedelung der neuen Welten gelang, forderte aber auch ihren Tribut, denn keine Welt ist wie die Erde. Mal ist die Schwerkraft auf der Oberfläche zu hoch oder zu niedrig. Mal ist die Zusammensetzung der Luft von der irdischen Luft so verschieden, dass man entweder immer mit Luftaufbereitern herumlaufen muss, oder ... man passt sich an. Wir entschieden uns für die Anpassung. Wir sorgten dafür, dass die nächste Generation mit genetischen Veränderungen aufwuchs, die sie an die Gegebenheiten der neuen Heimatwelt anpasste.  Inzwischen sind Millionen Jahre vergangen. Manche der besiedelten Welten sind inzwischen wieder unbewohnt, weil Krankheiten, Katastrophen oder leider auch Kriege ihre Bevölkerung ausgelöscht haben. Auf anderen Welten ist die Adaption an die Natur inzwischen perfekt gelungen. Es gibt in der Zukunft keine einheitliche Menschheit mehr, sondern es existieren zahlreiche Rassen mit zum Teil extrem voneinander abweichenden Körpermerkmalen. Menschen wie Brungk und mich gibt es auf keiner unserer Welten mehr. Diese Linie ist vor vielen Jahren ausgestorben.«
Dunn sah sie ungläubig an. »Und woher stammt ihr dann?«
»Oh, keine Angst. Wir sind echte Menschen, aber wir wurden genetisch nach den ältesten verfügbaren Daten geschaffen, die wir finden konnten. Bis zu unserer Reise mussten wir in speziell geschaffenen Ressorts leben, in denen die Lebensbedingungen der alten Erde simuliert wurden. Wir sollten schließlich auf der alten Erde leben können. Keine der in meiner Zeit lebenden Rassen könnte hier überleben. Als ich sagte, wir wären für die Mission entworfen und geschaffen worden, meinte ich das genau so. Einen Weg zurück gibt es für uns nicht. Ich würde auch gern darauf verzichten, nachdem ich in den letzten Wochen erleben durfte, wie das Leben sein kann, wenn man es nicht in einem künstlichen Gefängnis führen darf.«
Dunn nickte. »Das hab ich verstanden. Ich verstehe aber noch nicht, warum du dich so über Brungk aufregst.«
Sequel verzog wieder das Gesicht. »Was er zu erledigen hat, trägt den Namen Melanie. Er trifft sich mit einer Typ A aus dem Supermarkt. Ich hab sogar den Verdacht, es sind typübergreifende Emotionen im Spiel.«
Dunn verschluckte sich fast. »Typübergreifende Emotionen? Sequel, du bist wirklich eine hoffnungslose Romantikerin! Es macht dir Probleme, dass unser cooler Brungk sich vielleicht in die Kassiererin vom U-Store verknallt hat? Wirklich? Er trifft sich mit Melanie Ryback? Das hätte ich nie vermutet. Und was stört dich daran? Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig sein?«
»Das ist lächerlich. Er gefährdet die Mission, indem er seine Konzentration in Bahnen lenkt, die nicht der Aufgabe dienen.«
»Sequel bleib auf dem Teppich.«
»Warum soll ich auf einem Teppich bleiben?«
Dunn verdrehte die Augen. »Das ist eine Redensart, wenn man sagen will, dass der andere übertreibt. Ich denke nicht, dass Brungk seine Mission gefährdet. Aber im Gegensatz zu dir ist er offenbar bereit, sich zu erden - an ein Leben nach der Mission zu glauben.«
Sie knurrte leise. »Wir sind zunächst nur unserer Mission verpflichtet. Ich halte es für unverantwortlich, Kontakte zu knüpfen.«
»Ich hoffe, du siehst irgendwann ein, dass deine Einstellung nicht gesund ist«, sagte Dunn. Er griff einen Toast und begann, zu frühstücken. Auch Sequel begann zu essen, und eine Weile sagte niemand von ihnen ein Wort.
Sie waren fast fertig, als sie ein Motorengeräusch hörten, das schnell näherkam. Sequel und Dunn erhoben sich und blickten aus dem Fenster. Es war ein alter Honda, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Der Lack wirkte stumpf, und zahlreiche Roststellen zierten die Motorhaube. Vor dem Haus hielt der Wagen an und Brungk stieg auf der Beifahrerseite aus und eine junge Frau kletterte hinter dem Steuer hervor.
»Das ist Melanie«, sagte Dunn. »Sicher hat Brungk ihr gesagt, dass er für eine Weile verreisen muss. Wirst du dich zusammenreißen können und nicht wieder diese Missbilligung ausstrahlen? Melanie ist ein nettes Mädchen. Sie ist die Tochter von Lawrences Schwager, und hat ein paar schlechte Erfahrungen mit Männern hinter sich.«
»Ich hab es verstanden«, zischte Sequel. »Ich bin nicht dumm.«
»Das hab ich auch nie behauptet. Ganz im Gegenteil: Du bist verdammt intelligent, aber im zwischenmenschlichen Bereich hast du Defizite.«
Brungk und Melanie kamen Hand in Hand die Stufen zur Veranda herauf, und Dunn öffnete die Tür. »Kommt herein!«
»Mel wollte mich unbedingt nach Hause fahren«, sagte Brungk entschuldigend. »Ich hab ihr schon gesagt, dass wir gleich starten werden, aber sie meinte, das störe sie nicht.«
»Hallo Wayne«, grüßte Melanie, wandte sich dann an Sequel. »Auch an dich ein Hallo. Es stört euch doch nicht, dass ich meinen Freund nach Hause gefahren habe, oder? Ich wollte mich so spät wie möglich von ihm verabschieden.«
Sequel brachte ein Lächeln zustande und hielt Mel die Hand hin. »Schön, dich kennenzulernen.«
»Wieso habt ihr Wayne nicht schon früher mal besucht?«, fragte Melanie. »Ich hätte mich dann ganz sicher nicht mit diesem Ekel Dexter eingelassen. Und ihr müsst wirklich schon wieder wegfahren? Gerade jetzt, wo Brungk und ich uns kennengelernt haben?«
Brungk griff Melanies Hände und zog sie an sich. »Ja, es muss sein, aber ich verspreche dir, zurückzukommen, wenn Sequel und ich unseren Job erledigt haben. Wir sind leider nicht nur zum Vergnügen hier. Wünsch uns einfach Glück.«
Sie küsste ihn. Anschließend blickte sie ihn fragend an. »Und du willst mir nicht sagen, was ihr tun müsst?«
Er schüttelte den Kopf. »Irgendwann werde ich es dir erzählen. Versprochen. Aber jetzt kann ich es nicht. Vertrau mir einfach. Wir sind keine Kriminellen. Frag Wayne.«
Melanie blickte zu Wayne, der nachdrücklich den Kopf schüttelte. »Sind sie ganz sicher nicht. Sie sind die Guten, das darfst du mir glauben. Gib deinem Freund noch einen Abschiedskuss, denn wir werden sofort starten.«
»Darf ich wenigstens erfahren, wohin ihr fahrt?«
»Bitte Mel«, sagte Dunn. »Bohre nicht nach. Du wirst später alles erfahren.«
Sie zuckte resignierend die Schultern und lehnte sich an Brungk, der sogleich seine Arme um das Mädchen schloss.
Dunn stieß Sequel an. »Komm, wir lassen den beiden einen Augenblick. Wir können auch am Wagen warten.«
Sie liefen zum Wagen, der eine Menge Zeug auf der Ladefläche hatte. Dunn hatte seinen Cherokee-Pick-up mit allem gepackt, das sie in den folgenden Tagen gebrauchen konnten. Er nahm am Steuer Platz und Sequel kletterte auf den Beifahrersitz. Ein paar Minuten später kamen Brungk und Melanie aus dem Haus. Brungk zog die Tür hinter sich zu und kam zu ihnen. Melanie blickte traurig hinter ihm her und hob winkend ihre Hand.
Kaum war Brungk an Bord, ließ Dunn den Motor an und fuhr los.
»Hätten wir nicht noch den Tisch abräumen müssen und das Haus verschließen?«, fragte Sequel. »Sonst hatten wir das immer getan, wenn wir alles das Haus verließen.«
»Lawrence wird sich darum kümmern. Er besitzt einen Schlüssel. Ich hatte es mit ihm abgesprochen.«
Die Fahrt war recht eintönig und langweilig. Brungk legte sich nach einiger Zeit auf die Rückbank und schlief etwas, während Sequel in einem fort die Karten studierte, die im Handschuhfach von Dunns Wagen gelegen hatten.
»Was suchst du in den Karten?«, fragte Dunn. »Bis zum Ziel sind es noch über fünfhundert Meilen.«
»Es gibt eine Sache, die ich dir noch nicht erzählt hatte. Auch wir benötigen noch Ausrüstung. Es gibt eine Kapsel mit Gegenständen, die wir für unsere Arbeit benötigen werden. Diese Kapsel ist schon lange vor uns hier angekommen und ich habe versucht, herauszufinden, wo sie zu finden ist. Offenbar haben meine Leute in der Zukunft ihren Job gut gemacht, denn wir fahren im Grunde daran vorbei.«
»Verdammt Sequel! Was gibt es noch alles, das du mir noch nicht erzählt hast?«
»Nur diese Sache noch. Es sind äußerst gefährliche Gegenstände und ich wollte nicht riskieren, dass irgendwer davon erfährt, nur weil er zufällig zugehört hat. Kannst du das verstehen?«
»Nicht so richtig, wenn ich ehrlich bin. Und was zum Teufel müssen wir noch abholen?«
Sie deutete auf die Karte. »Kurz hinter Sheridan durchfahren wir einen Nationalpark. Irgendwo neben der Route liegt die Kapsel. Ich werde sie spüren, wenn ich in ihre Nähe gelange.«
»Und um was handelt es sich? Waffen?«
Sie presste die Lippen zusammen. »Ja, es sind Waffen, die es in eurer Zeit noch nicht gibt. Sie dürfen nicht in fremde Hände fallen und wir müssen sie auch vernichten, wenn wir sie nicht mehr benötigen.«
»So gefährlich?«
»In den falschen Händen noch gefährlicher ...«
Dunn musste grinsen. Sequel passte sich allmählich an die Verhaltensweisen der Zeit immer besser an, und dieses Typ-A-Typ-B-Gerede würde er ich auch noch abgewöhnen. Aber erst würden sie noch einen Kampf auszufechten haben. Er durfte nicht daran denken, denn im Grunde wusste er noch immer nicht, was auf sie zukam.
Seit Stunden schon führte der Highway durch eine staubtrockene Mondlandschaft und ihre Stimmung sank allmählich. Sheridan lag inzwischen hinter ihnen und sie näherten sich dem Nationalpark, von dem Sequel gesprochen hatte. Ihr Gesicht drückte intensive Konzentration aus, als rechnete sie jeden Moment damit, dass sie die Kapsel spüren könnte. Brungk saß hinten und versuchte ebenfalls, die Kapsel zu orten.
Es dauerte noch einige Zeit und sie steckten schon tief im Park, als beide plötzlich aufschrien. Dunn wäre vor Schreck fast in den Graben gefahren.
»Die Kapsel! Wir spüren die Kapsel! Fahr rechts ran und warte!«
»Ihr habt sie doch nicht mehr alle! Schaut euch mal die Straße an. Wo soll ich hier halten? Wir müssen diesen Serpentinenbereich hinter uns lassen, dann finden wir sicher eine geeignete Stelle.«
»Was, wenn wir sie dann nicht mehr spüren?«
»Dann haben eure Leute ihren Job doch nicht so gut gemacht, wie ihr geglaubt habt.«
Dunn hielt am ersten Halteplatz, den er finden konnte. »Und? Spürt ihr es noch?«
Sequel nickte. »Ja, aber sie steckt irgendwo dort in den Hängen. Ich werde sie mit Brungk holen müssen.«
Sie schnallte sich ab und kletterte über ihren Sitz nach hinten, wo Brungk bereits Platz gemacht hatte. Ohne sich weiter zu verständigen, legten sie ihre Stirn aneinander und leiteten eine Verschmelzung ein. Dunn sah den beiden zu, wie sie sich ineinander versenkten und zu etwas anderem wurden. Für einen Moment schienen sie zu flackern, dann waren sie verschwunden. Mit einem schmatzenden Laut füllte die umgebende Luft den Raum, den eben noch die Körper der beiden eingenommen hatten. So also sah eine Ortsversetzung aus, von der Sequel gesprochen hatte. Ihm war bewusst, dass es eine Weile dauern konnte, bis seine Passagiere zurückkehren würden, doch nach drei Stunden wurde er nervös. Er befürchtete, dass den beiden etwas zugestoßen sein konnte, und er konnte nicht das Geringste tun, weil er nicht einmal wusste, wohin sie sich transportiert hatten. Noch eine weitere Stunde verging und es war bereits nicht mehr damit zu rechnen, dass sie noch bei Tageslicht ihr Ziel in Codi oder Wapiti erreichen würden, als neben dem Auto plötzlich ein merkwürdiges Leuchten in der Luft lag. Kleine Blitze zuckten daraus hervor und schlugen in die Karosserie, den Boden und nahe stehende Bäume ein. Dunn starrte wie gebannt in dieses Leuchten und er hoffte, dass nicht ausgerechnet in diesem Moment ein Auto seinen Standort passieren würde. Es roch nach Ozon und mit einem leichten Knall erschienen Sequel und Brungk, zusammen mit einer schweren Tasche. Sie wankten ein wenig, als sie die Tasche zum Wagen trugen und auf den Rücksitz des Cherokee wuchteten.
»Das war heftig«, sagte Brungk. »Wir sind total ausgelaugt. Die Ortsversetzung mit so schwerem Gepäck hätte uns beinahe das Bewusstsein geraubt.«
»Also habt Ihr die Ausrüstung gefunden?«, fragte Dunn.
»Haben wir«, nickte Sequel. »Das Zeug lag sicher schon seit ein paar Hundert Jahren in der Kapsel hier herum, aber es handelt sich um das Modernste, was unsere Waffentechniker in unserer Zeit zu bieten haben. Wir werden die Sachen allerdings noch auf ihre Funktionsfähigkeit testen müssen, bevor es ernst wird.«
Dunn warf einen neugierigen Blick auf den Rücksitz, wo Brungk bereits dabei war, alles zu begutachten. »Was sind denn das für Waffen?«
Brungk hielt eine handliche Faustwaffe hoch, die entfernt an einen futuristischen Revolver erinnerte. »Das hier ist ein Materie-Destabilisator. Man muss äußerst vorsichtig damit umgehen. Wird man davon getroffen, gibt es keine Rettung mehr.«
Er hielt noch weitere Gegenstände hoch, die zum Teil nicht als Waffen erkennbar waren. »Neuro-Stimulator, Schockwellenbombe, Destabilisatorbombe, Lähmungs-Strahler, Spezialanzüge. Eine gute Auswahl für den Einsatz.«
»Anzüge? Ich sehe keine Anzüge.«
Sequel lachte. »Das war selbst bei uns das absolut Neueste. Man schlüpft nicht mehr mühsam in einen Einsatzanzug hinein, sondern materialisiert ihn um sich herum über einen speziellen Projektor, den man am Gürtel trägt. Er passt sich dabei perfekt an die Gestalt des Trägers an. Solche Anzüge sind kleine Wunderwerke. Sie dienen dem persönlichen Schutz, der Kommunikation untereinander und der Orientierung, da der Helm über eine Vorrichtung verfügt, die jegliche Art von Wellen als sichtbares Licht darstellen kann. Wer so einen Anzug trägt, kann auch in der tiefsten Nacht hervorragend sehen. Müßig, dir alles zu erklären, da der Anzug fast alle notwendigen Maßnahmen automatisch trifft. Die Energiezelle reicht für etwa einen Monat, aber bei extremer Belastung kann das schnell auf wenige Stunden schrumpfen.«
Sie betrachtete ihn. »Du wirst diesen Anzug lieben, glaub mir.«
»Dann habt ihr mir einen solchen Anzug mitgebracht? Ich dachte, ihr zwei wärt die eigentlichen Kämpfer.«
»Sind wir auch, aber du bist nun mal dabei und dann solltest du auch dieselben Möglichkeiten nutzen können wie wir. Sobald wir aus diesem Park heraus sind, sollten wir uns mit unserer Ausrüstung vertraut machen.« Sie griff die Karte und studierte sie einen Moment. »Dieses Fahrzeug kann doch auch durchs Gelände fahren, oder?«
»Ja.«
»Dann sollten wir hinter dem Ort Greybull ein Stück in die Berge fahren, wo uns niemand zuschauen kann.«
Dunn blickte auf die Karte und nickte. »Anspruchsvolles Gelände, aber das bekomm ich hin. Eine halbe Stunde abseits der Straße wird uns niemand mehr beobachten können.«
Sequel lächelte. »Dann los! Ich will sehen, wie du mit Waffen aus der Zukunft zurechtkommst.«
Dunn startete den Wagen und fuhr wieder los. Auf den Straßen in dieser Gegend war nicht viel Verkehr und manchmal kam ihnen eine Viertelstunden lang kein einziges Fahrzeug entgegen. Hinter Greybull verließ Dunn die Hauptstraße und bog auf eine Dirt-Road ab, die in die Berge führte. Die Fahrt wurde schnell sehr holprig und sie wurden arg durchgeschüttelt. Hinzu kam, dass die Lichtverhältnisse allmählich schlechter wurden. Er fuhr eine knappe halbe Stunde, bis er einen kleinen Talkessel erreichte, der von steilen, felsigen Hängen umsäumt war.
»Hier ist es zum Üben ideal!«, rief Sequel. »Lass uns hier bleiben.«
Dunn stoppte und schaltete den Motor aus. Sie stiegen aus und sahen sich aufmerksam um. Wie es schien, waren sie tatsächlich vollkommen allein.
Brungk öffnete die hintere Tür und zog die Tasche mit den Waffen heraus. Er nahm drei Gürtel mit einem kleinen Kasten an der Seite heraus und reichte jedem einen davon.
Sequel legte ihren Gürtel um, der sich automatisch passend einstellte. Sie deutete auf Dunn. »Auch du solltest den Gürtel anlegen. Das Gerät muss dich beim ersten Mal vermessen, damit der Start des Anzuges später auf Knopfdruck erfolgen kann.«
Dunn legte sich den Gürtel um die Taille und spürte, wie sich das Gerät zusammenzog, bis es perfekt passte. »Und was muss ich jetzt tun?«
Brungk sagte: »Pass einfach auf und schau es dir an.« Er drückte einen Knopf auf dem kleinen Kasten an seiner Seite und hielt dann Arme und Beine leicht gespreizt. Vom Kasten schien eine leicht leuchtende Gallertmasse auszugehen, die sich in kurzer Zeit über den gesamten Körper ausbreitete. Brungk war jedoch nicht im Geringsten beunruhigt, selbst als die Masse sein Gesicht erreichte und schließlich seinen Kopf komplett umschloss.
»Diese Masse ist nicht materiell«, sagte er. »Es wirkt nur so, als könnte sie dich ersticken. Es gehört zum Vermessen meines Körpers. Jetzt muss ich mich einmal komplett durchbewegen.«
Im nächsten Moment begann Brungk mit Turnübungen - jedenfalls wirkte es so. Er  vermittelte dem Anzugprogramm dadurch alle wichtigen Informationen zu Bewegungserfordernissen, damit es später nicht zu Behinderungen kam. Als der Anzug genügend Informationen gesammelt hatte, leuchtete die Masse einen Moment lang heller und verwandelte sich daraufhin in ein anderes, undurchsichtiges Material, dass Brungks Körper wie aus einem Guss umschloss. Er wirkte wie eine Puppe ohne Gesicht. Alles an ihm war glatt und abgerundet. Es wirkte unheimlich.
Dunn sah Sequel fragend an. »Was ist mit ihm geschehen? Ist etwas schiefgegangen?«
»Ich bin vollkommen in Ordnung«, drang Brungks Stimme aus dem Anzug. Wie, um seine Behauptung zu beweisen, begann er sich zu bewegen. »Der Anzug ist ein abgeschlossenes System und macht mich von allen äußeren Einflüssen unabhängig. Ich schlage vor, ihr legt auch eure Anzüge an. Nur so ist eine Zusammenarbeit möglich.«
Sequel nickte. »Er hat recht. Wir sollten es ihm gleichtun.« Ohne zu zögern, drückte auch sie den Knopf und die leuchtende Masse trat aus dem Kasten. Dunn sah noch einen Moment zu, holte tief Luft und drückte ebenfalls den Knopf an seinem Gürtel. Ein leichtes Kribbeln lief durch seinen Körper und überall dort, wo das Leuchten seine Haut erreichte, fühlte er eine eigenartige Kühle. Als sein Kopf an der Reihe war, hielt er den Atem an, doch als er es nicht mehr aushielt, stellte er fest, dass diese Masse in Wahrheit nur ein Energiefeld war und ihn nicht behinderte. Sequel war bereits dabei, ihren Körper zu bewegen und so beeilte er sich, es ebenfalls zu tun. Nachdem er das hellere Aufflackern bemerkt hatte, schien nichts mehr zu geschehen. Das Kribbeln seines Körpers hörte auf und er fragte sich, ob sein Gürtel vielleicht defekt war. Er sah zu Sequel und Brungk und konnte sie klar erkennen. Brungks Anzug war nur noch als schwaches Schemen um seinen Körper wahrnehmbar.
Sequel trat auf ihn zu und berührte ihn leicht am Arm.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Wayne?«
Dunn zuckte zurück. Die Frage war direkt in seinem Kopf entstanden. »Was war das?«
»Das muss dich nicht beunruhigen. Die Anzüge verbinden sich mit deinem Gehirn und ermöglichen eine Kommunikation durch Gedanken zwischen den Trägern der Anzüge. Auch die Steuerung der Waffen kann durch Gedankenbefehl vorgenommen werden. Du musst dazu nur einmal eine Waffe in die Hand genommen haben, während du den Anzug trägst. Dadurch verbindest du dich mit deiner Waffe und nur noch du kannst sie benutzen.«
Dunn keuchte auf. »Verdammte Scheiße, was macht ihr mit mir? Muss das wirklich sein, mit Gedanken miteinander zu sprechen? Für euch mag das normal sein, aber ich mag es nicht, jemanden in meinem Kopf zu haben.«
»Wayne, niemand ist in deinem Kopf. Wir empfangen nur, was du an uns richtest, und du empfängst nur, was wir an dich richten. Versuch es wenigstens mal. Es könnte im Einsatz wichtig werden.«
Sequel sah ihn verständnisvoll an. »Ich verstehe dich ja, aber wir haben so wenig Zeit, mit den Systemen zu üben. Du schaffst es ganz sicher.«
Dunn nahm all seinen Mut zusammen und konzentrierte sich darauf, die Antwort nicht laut auszusprechen. »Ich werd mein Bestes geben, mich daran zu gewöhnen.«
Brungk schlug ihm mit der Hand auf den Rücken. »Das war schon sehr gut. Ich denke, du schaffst es.«
Er händigte Dunn eine Handfeuerwaffe aus, die gut in der Hand lag. Sie verfügte über einen kurzen, gedrungenen Lauf mit einer metallenen Spitze und einem Griff, der sich automatisch an seine Hand anpasste. »Das ist ein Materie-Destabilisator. Er ist jetzt auf dich geprägt. Such dir einen Felsen aus, der etwas weiter entfernt ist, und ziele darauf.«
Dunn wog die Waffe in seiner Hand. Sie wirkte überaus handlich. In etwa einem Kilometer Entfernung sah er einen Felsvorsprung. Er hob die Waffe und versuchte, damit zu zielen. Kimme und Korn, wie bei Waffen, die er kannte, gab es nicht. Dafür schien sein Anzug zu bemerken, dass er schießen wollte und blendete vor seinen Augen ein taktisches Display ein. Darauf wurden die Umrisse des Felsvorsprungs durch einen roten Rand hervorgehoben.
»Der Anzug orientiert sich an deinen Augen«, übermittelte Brungk. »Du visierst mit den Augen an. Das Ziel wird vorgeschlagen. Ist es nicht korrekt, ändere deinen Blick, bis es passt. Mit etwas Übung klappt das in Sekundenbruchteilen. Wenn das Ziel ausgewählt ist, übermittelt dein Gehirn es dem System automatisch. Versuch es mal. Den Schießbefehl gibst du auch mit Hilfe der Gedanken. Halte dazu die Waffe locker. Nicht verkrampfen. Um den Felsen ist es sicher nicht schade.«
Dunn hatte noch immer den roten Rand um den Felsen. Konzentriert dachte er daran, dass dies sein Ziel ist und der Rand begann in seinem Display zu blinken. »Schuss!«, dachte er. Sein Arm änderte wie von Geisterhand bewegt, geringfügig den Winkel und ein kurzer Lichtstoß fuhr aus der Waffe in den weit entfernten Felsen. Er spürte nichts dabei, aber der Felsen leuchtete grell auf und schien zu zerfließen. Einen Moment später löste er sich in einer gewaltigen Explosion einfach auf und die Reste zerstoben mit dem Wind.
»Mein Gott!«, entfuhr es ihm. »Diese Waffe ist ja furchtbar!«
Sequel nickte. »Du hast sie gegen einen ungeschützten Felsen abgefeuert. Unser Gegner wird jedoch ein Schutzfeld einsetzen, das nicht ohne Weiteres durch diese Waffe durchdrungen werden kann. Wir werden vermutlich alle destabilisierenden Bomben einsetzen müssen, die wir haben.«
»Und wenn das nicht reicht?«, wollte Dunn wissen.
»Dann haben wir genauso versagt, wie viele vor uns. Dann können wir nur hoffen, dass sie noch weitere Teams schicken können, bevor die Skrii-Maschine ihr zeitliches Ziel erreicht.«
Sie übten noch eine Weile, und einige Felsen wurden noch zerstört. Schließlich machten sie sich wieder auf den Weg, bevor jemand neugierig wurde, wieso in dieser verlassenen Gegend heftige Explosionen erfolgten. Den Anzug wieder loszuwerden, war ein Kinderspiel. Der gedankliche Befehl ›Anzug aus‹ ließ ihn von einem Moment zum anderen verschwinden.
Dunn fuhr zur Hauptstraße zurück und sie setzten ihre Fahrt zum Ziel fort. Es war bereits stockfinster, als sie Cody erreichten. Sie beschlossen hier zu übernachten, bevor sie eine Ortsversetzung in den Yellowstone-Park durchführen wollten.
Sie buchten ein großes Doppelzimmer im Beartooth-Inn, direkt am Ufer des Beck-Lake und beschlossen, sich gut auszuruhen, bevor es weitergehen sollte. Zum Glück standen in amerikanischen Doppelzimmern im Grunde zwei Betten im Doppelbettformat, so dass sie ausreichend Platz zum Schlafen fanden, ohne ein zweites Zimmer buchen zu müssen. Dunn hatte gedacht, dass er und Brungk sich ein Bett teilen würden und Sequel das andere überlassen, doch stellte er überrascht fest, dass Brungk sich kommentarlos in das zweite Bett legte. Sequel zog ihre Sachen aus und stand einen Moment unschlüssig im Raum. Als sie ihre Entscheidung getroffen hatte, wählte sie die rechte Seite von Dunns Bett. Dunn fragte sich, ob das etwas zu bedeuten hatte, oder ob es nur Zufall war. Schon in Thedford war sie zu ihm geschlüpft, als sie Trost gebraucht hatte. Seine Gedanken brachten ihn nicht weiter. Zu sehr hatte ihn die Fahrt ermüdet, und so schlief er nach wenigen Augenblicken fest ein.
Am Morgen erwachte er, als er ein Kitzeln im Gesicht spürte. Als er die Augen öffnete, lag Sequel dicht an ihn gekuschelt und ihre weißblonde Haarmähne hatte sich zwischen ihnen ausgebreitet. Seine Bewegung weckte auch sie und sie hob verschlafen den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, aber Dunn konnte nicht deuten, was in ihr vorging. Offenbar hatte sie in der Nacht seine Nähe gesucht, doch er hatte es nicht bewusst bemerkt.
Sie lächelte kurz und wandte sich dann ab. Mit einem Ruck erhob sie sich und setzte sich auf die Bettkante. Dunn bewunderte ihren makellosen Rücken und spielte einen Moment mit dem Gedanken, mit seiner Hand darüberzustreichen. Doch sie stand auf und lief leichtfüßig ins Bad, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. Dunn wälzte sich auf den Rücken und fragte sich, was ihn eigentlich mit dieser Frau verband. Zu gern hätte er gewusst, was hinter ihrer Stirn vorging. Immer, wenn er glaubte, sie zeige normale Verhaltensmuster, wie er sie von den Frauen kannte, mit denen er mal befreundet war, gab es eine kalte Dusche und sie ließ durch keine Geste erkennen, ob ihr etwas an ihm lag. Vermutlich war das auch nicht der Fall. Vielleicht sollte er in Zukunft darauf achten, dass sie ihm nicht mehr so nah kommen konnte. Etwas mehr Distanz konnte für seine geschundenen Nerven nur heilsam sein.
Als sie mit nassen Haaren aus dem Bad zurückkehrte, trug sie bereits wieder Shorts, Top und dicke Socken in Wanderschuhen. Sie ging zu Brungks Bett und weckte ihn unsanft. »Hey du Schlafmütze! Aufstehen!«
Brungk schlug die Augen auf und setzte sich übergangslos auf die Bettkante. »Wann starten wir?«
»Wir haben Frühstück gebucht«, warf Dunn ein. »Ohne dieses Frühstück geh ich nirgendwo hin.«
Zwei Stunden später fuhren sie mit dem Wagen auf den Park zu und stellten ihn kurz hinter der Wapiti-Lodge auf einem einsamen Wanderparkplatz ab. Ihre Ausrüstung hatten sie bereits zurechtgelegt und ein Zielpunkt für ihre Ortsversetzung war schon seit Wochen ausgewählt.
Dunn war besonders nervös, da Brungk und Sequel beabsichtigten, sie alle zusammen mit der Ausrüstung zu versetzen. Er verstand nicht, wie es funktionierte, und konnte nicht verhehlen, Angst davor zu haben.
Schließlich war es so weit. Die Ausrüstung war kompakt aufgestapelt. Sequel hatte ihm erklärt, dass sie nur Gegenstände und Personen transportieren könnten, die sich innerhalb eines eng begrenzten Radius um ihre Körper befinden. Sie legten sich daher von zwei Seiten auf ihr Gepäck und berührten sich mit der Stirn. Er selbst sollte sich neben einen von ihnen legen und nach Möglichkeit berühren. Wenn sie jemand dabei beobachtet hätte, würde er sich an ihrem Geisteszustand zweifeln, doch sie waren allein. Sequel und Brungk verschmolzen ihren Geist miteinander, während Dunn nervös und heftig atmete. Er lag neben Sequel und hatte ihr seine Hand auf den Rücken gelegt und spürte, dass er zitterte. Sie schien das jedoch nicht wahrzunehmen.
Plötzlich wurde er von einem kurzen Schwindel erfasst. Als er sich wieder gefasst hatte, waren sie bereits an ihrem Ziel. Sequel und Brungk lösten ihre Verbindung und erhoben sich. Dunn brauchte einen Moment länger, da er solche Ortsversetzungen nicht gewohnt war und noch desorientiert war. Sequel kniete sich neben ihn und schaute ihm prüfend in die Augen. »Bist du in Ordnung? So ein Transport ist völlig ungefährlich. Es wird dir gleich besser gehen.«
»Sind wir schon auf dem Mirror Plateau?«, fragte er mit heiserer Stimme.
Sie nickte lächelnd. »Wir müssen nur noch unser Zelt aufstellen und unsere Ausrüstung ordnen. Ab jetzt sollten wir unsere Anzuggürtel ständig tragen. Wir können nicht wissen, wann wir unser Ziel spüren können. Dann müssen wir bereit sein.«
Dunn erhob sich, als die Spinnweben in seinem Kopf verschwunden waren. Brungk stand in der Ebene und blickte in die Ferne. Dunn ging zu ihm. »Suchst du etwas?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich betrachte die Landschaft. Es ist großartig hier. Berge, wie die dort hinten, gibt es auf der Welt, auf der ich bisher gelebt habe, nicht mehr.«
»Ich dachte, ihr hättet nicht im Freien auf eurer Welt leben können.«
Brungk sah ihn an. »Nicht ungeschützt. Wir sind für das hier geschaffen. Insoweit ist dies unsere Heimat, und nicht der Ort unseres Entstehens. Glaub mir, ich tue alles, was nötig ist, um das hier zu erhalten.« Er deutete in die Ferne. »Was sind das für Tiere dort hinten?«
Dunn folgte mit den Augen der Richtung. »Wapitis. Das ist eine Herde Wapitis.«
»Sie alle wären dem Untergang geweiht, wenn wir versagen. Das darf nicht geschehen.«
Dunn warf ihm einen Seitenblick zu. »Und du bist dir sicher, dass es dir um die Tiere geht? Ist nicht eine Frau namens Melanie ein wichtiger Grund?«
Brungk zog seinen Mund schief. »Sie ist der wichtigste Grund überhaupt.«
»Ich werd aus Sequel nicht schlau«, sagte Dunn. »Ich frag mich ständig, was dieses Mädchen denkt oder fühlt.«
»Wie wichtig ist es dir, das zu erfahren?«, fragte Brungk leise.
»Ich weiß es nicht. Ich stelle nur immer wieder fest, dass sie mich irritiert. Sie verhält sich so widersprüchlich.«
»Das gilt für euch beide«, sagte Brungk. Er schaute zu Sequel hinüber, die bereits das automatische Zelt aus ihrer Ausrüstung aufgestellt hatte und dabei war, Iso-Matten und Kissen aus Dunns Garage hineinzulegen. »Sieh sie dir an! Immer in Bewegung, immer aktiv. So war sie nicht, als wir noch in der Zukunft in unserem Ressort lebten. Die Menschen der Zukunft haben nicht mehr viel mit euch gemein. Wir jedoch sind speziell gezüchtete Exemplare. Ich habe das inzwischen begriffen und arrangiere mich damit. Sequel ist das noch nicht gelungen. Sie lässt diese neue Gegenwart noch nicht an sich heran - wehrt sich noch dagegen.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
Brungk lächelte. »Vielleicht alles. Wer weiß? Du hast uns aufgegriffen, uns verhört und hast dich schließlich auf uns eingelassen. Hast du dich nie gefragt, wieso du das getan hast? Aus deiner Perspektive haben wir dir eine Geschichte präsentiert, für die man uns bei euch in eine Einrichtung für geistig gestörte Menschen gebracht hätte. Du aber hast es uns abgenommen und hilfst uns sogar. Es ist ganz sicher nicht mein strahlendes Lächeln, das dich dazu gebracht hat. Du lässt den Gedanken nicht zu, aber wenn du es konsequent zu Ende denkst, muss dir klar sein, dass dir Sequel nicht gleichgültig ist. Wie weit das reicht, kannst nur du dir selbst beantworten. Ich kann nur beobachten und bewerten, was ich sehe. Für mich steht absolut fest, dass du der Schlüssel zu Sequels Verhalten bist.«
Dunn sah ihn ungläubig an.
»Denk darüber nach«, sagte Brungk. »Wenn wir in ein paar Tagen noch leben, sind ein paar Entscheidungen zu treffen.« Er ließ Dunn stehen und ging hinüber zum Zelt.
Dunn blieb noch eine Weile stehen und blickte in die Ferne. Die Luft war erstaunlich mild für diesen Morgen. Er dachte über das nach, was Brungk ihm erzählt hatte. Hatte er recht und es gab ein Band zwischen Sequel und ihm? War sie ihm tatsächlich nicht gleichgültig? Und wenn es so war: Wie empfand es Sequel selbst? Noch nie in seinem Leben war er so unsicher gewesen.


1.3    Tag der Entscheidung

Wäre nicht ihre bedrückende Aufgabe gewesen, hätte man ihren Aufenthalt im Yellowstone-Park wie einen Abenteueraufenthalt empfinden können. Dunn wusste zwar, dass Individualreisen durch den Park grundsätzlich nicht verboten waren, sie wurden in der Realität jedoch meist nur von wenigen Extremwanderern unternommen. Zu nachhaltig wurde vor herumstreunenden Bären und anderen Tieren gewarnt, die durchaus zu einer tödlichen Gefahr werden konnten. Einem Grizzly-Bären ungeschützt gegenüberzustehen war kein Spaß. Er hoffte jedoch, dass sie auf dem Plateau weitgehend vor ihnen sicher waren. Meist hielten sie sich in den Flussbereichen auf, die von vielen anderen Tieren als Tränke benutzt wurden.
Auch vor Park-Rangern waren sie weitgehend sicher, denn die Parkaufsicht hatte nicht das Personal, auch die entlegensten Orte des riesigen Parks zu überwachen. Straßen gab es in dieser Gegend nicht. Das Einzige, das man häufiger finden konnte, waren Pfade, denen abenteuerlustige Wanderer hin und wieder folgten.
Das Hightech-Zelt aus der Zukunft, das Sequel aufgestellt hatte, bot erstaunlich guten Schutz vor der Witterung und hatte bislang nicht einen Tropfen der nächtlichen Regenfälle durchgelassen. Es wärmte automatisch, wenn es draußen kalt wurde und kühlte, wenn die Mittagssonne sich allmählich durchsetzte und das Zelt aufheizte.
Vier Tage verweilten sie inzwischen an diesem Ort und noch immer hatten Brungk und Sequel das Herannahen der erwarteten Waffe der Skrii nicht gespürt. Sie schienen darüber nicht beunruhigt, denn sie waren vollkommen überzeugt davon, dass sie erscheinen würde.
Dunn war schon früh aufgewacht und hatte sich aus dem Zelt geschlichen, um die anderen nicht zu wecken. Obwohl es noch kühl war, genoss er es, den Sonnenaufgang über den Bergen zu beobachten. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Sequel kam aus dem Zelt gekrabbelt. Ihren Schlafsack hatte sie an der Seite geöffnet und sich wie eine Decke umgelegt, in die sie sich einwickelte, sowie sie sich erhoben hatte.
»Wie kannst du so hier in der Kälte stehen, ohne zu frieren?«, fragte sie, als sie sich zu ihm gestellt hatte.
Er sah auf sie herab und musste lächeln. »Ich bin das Klima von Wyoming gewohnt. Das kann in der kalten Jahreszeit schon mal rau sein. Mir macht das nicht so viel aus. Im Grunde liebe ich diese kurze Zeit vor dem Sonnenaufgang, wenn der Atem beim Ausatmen noch dampft. Es macht den Kopf klar.«
»Mich lässt es nur erzittern, wie ich feststelle. Vielleicht sollte ich besser wieder ins Zelt schlüpfen.«
»Bleib ruhig noch da«, sagte Dunn.
Sie sah ihn an, doch er sagte nichts mehr. »Wenn du das möchtest, musst du mich wärmen.«
»Na, komm her«, sagte er und breitete seine Arme aus. Sie trat zu ihm und er legte seine Arme um sie.
Sequel brummte leise. »Ich hätte nicht geglaubt, dass ich in dieser morgendlichen Kälte die Wärme deines Körpers spüren könnte. Es ist angenehm. Wie lange dauert es noch, bis die Sonne aufgeht?«
»Nicht lange.«
Dunn dachte an das Gespräch mit Brungk. Er hielt die schönste Frau, die er je getroffen hatte, in den Armen. Wie fühlte sich das für ihn an? Suchte sie lediglich seine Wärme? Gab sie ihm Zeichen und er war nur zu dämlich, sie zu verstehen? War dies der Moment, sich endlich über verschiedene Dinge klar zu werden?
»Wie kommst du mit den Waffenübungen zurecht?«, fragte sie plötzlich. Die Stimmung war mit einem Moment vorbei.
»Ich denke, ich bin schon recht schnell und sicher damit. Besonders, wenn ich den Anzug aktiviert habe. Wenn es losgeht, werde ich euch sicher unterstützen können.«
Sie nickte. »Gut.«
»Wann, glaubst du, geht es los? Die Warterei geht mir an die Nieren. Ich schlafe schon recht unruhig in den letzten Tagen.«
»Vielleicht wirst du dir die Warterei zurückwünschen, wenn das Ding erscheint. Es kann nicht mehr lange dauern. Wir rechnen jeden Moment mit den ersten Anzeichen.«
Ein erster Lichtschein erschien zwischen den Bergspitzen und leuchtete ihnen direkt ins Gesicht. Die Ebene des Plateaus wurde in goldenes Licht getaucht und es sah einfach fantastisch aus.
»Die Erde ist wunderschön«, sagte Sequel leise. »Soetwas gab es auf Lorana nicht. Dieser Moment zeigt mir deutlich, dass die Erde der Heimatplanet der Menschen ist. Wir habe Vieles durch unseren Exodus zurückgelassen und verloren.«
Sie schmiegte sich enger an Dunn. »Ich danke dir, dass ich diesen Moment erleben durfte.«
Er empfand plötzlich ein irrationales Glücksgefühl und presste sie fest an sich. In diesem Moment versteifte sich Sequel und Dunn erschrak. Hatte er eine unsichtbare Grenze überschritten und Sequel wies ihn zurück? Er blickte ihr ins Gesicht und erschrak nochmals. Ihr Gesicht hatte einen vollkommen abwesenden Ausdruck und ihre Augen waren komplett schwarz.
»Sequel! Was ist mit dir?«
Sie antwortete nicht und lag stocksteif in seinen Armen. Aus dem Zelt drangen unverständliche Laute und nach wenigen Augenblicken kam Brungk aus dem Zelt. Seine Bewegungen wirkten zeitlupenhaft und fahrig, als hätte er Probleme, seinen Körper unter Kontrolle zu bringen. Er benötigte mehrere Versuche, bis er endlich auf seinen Beinen stand. Mit steifen Schritten ging er auf die beiden zu. Auch er hatte schwarze Augen, die auch die Augäpfel mit einschlossen.
»Es geht los«, sagte er stockend. »Ich muss Sequel zurückholen.«
»Zurückholen?«
»Emotionen können unsere Deckung unterlaufen. Die temporale Bugwelle der Waffe hat sie überrascht und gelähmt. Allein kann ich nichts tun. Ich brauche ihre mentalen Kräfte. Ohne sie können wir den exakten Ort nicht orten.«
Brungk blickte in Sequels schwarze Augen. »Ich brauche sie sofort im Zelt. Hier draußen ist es zu kalt, und wenn ich es richtig sehe, ist sie unter ihrem Schlafsack nackt.«
Dunn presste die Lippen zusammen. Nur widerstrebend entließ er die Frau aus seinen Armen. Er hatte das Gefühl, für die Situation verantwortlich zu sein, sah sich aber nicht imstande, etwas zu tun.
»Fass mal mit an!«, forderte Brungk ihn auf. »Allein bekomm ich sie in diesem Zustand nicht ins Zelt.«
Gemeinsam trugen sie das Mädchen zum Zelt und zogen es auf dem Schlafsack hinein. Brungk ignorierte die durch das Aufklaffen des Schlafsacks offengelegte Nacktheit Sequels und beugte sich über sie, bis er mit seiner Stirn ihre berührte. Ein leichtes Zucken lief durch ihren Körper. Dunn beobachtete besorgt die Szene und fragte sich, was Brungk wohl mit ihr anstellte.
Nach mehr als einer halben Stunde ließ Brungk sich zurücksinken und wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Ich hab's geschafft. Sie sollte gleich zu sich kommen.«
Wenige Augenblicke später begann Sequel, sich zu bewegen. Mit einem leisen Stöhnen richtete sie sich auf und blickte mit ratlosem Gesicht umher. Ihre Augen waren noch immer tiefschwarz. »Was ist geschehen? Ich kann mich noch an den Sonnenaufgang erinnern, dann war es, als hätte mich etwas einfach ausgeknipst.«
»Der erste Gruß der Skrii«, sagte Brungk. »Die erste temporale Schockwelle. Sie hat dich überrascht.«
»Dann ist heute der Tag der Entscheidung?«, fragte Dunn.
»Nicht heute«, sagte Brungk kopfschüttelnd. »Voraussichtlich morgen. Wir werden den heutigen Tag nutzen, um den exakten Ort zu bestimmen. Mit etwas Glück gibt es noch eine weitere Schockwelle. Spätestens dann können wir genau sagen, wo das Skriikravkniikth, wie unsere Feinde die Waffe nennen, erscheinen wird, bevor es wieder in die Tiefen des Zeitstroms weiterzieht.«
»Woher wisst ihr eigentlich so genau über diese Waffe Bescheid?«
Brungk und Sequel blickten sich kurz an. Sequel nickte.
»Gut«, sagte Brungk. »Warum solltest du es auch nicht wissen. Für die Situation der Kriegsparteien in der Zukunft ist es sicher nicht relevant. Als wir unsere Reise antraten, befanden wir uns schon viele Jahrzehnte mit den Skrii im Kriegszustand. Ich kann dir nicht einmal sagen, was ursprünglich den Ausschlag dazu gegeben hat. Fest steht, dass Menschen und Insektoide vollkommen unterschiedliche Motivationen haben und von den Moralvorstellungen will ich überhaupt nicht reden. Schon beim ersten Zusammentreffen unserer Rassen war dies von Missverständnissen geprägt und gipfelte in erste kleine Gefechte. Als es eskalierte, gab es furchtbare Schlachten, aber niemandem gelang es, einen endgültigen Sieg zu erringen. Wir glauben, dass der Einsatz einer Roboterschwadron schließlich dazu führte, dass die Skrii uns endgültig auslöschen wollen.«
»Roboterschwadron?«
»Eine riesige Flotte von automatischen Schiffen mit Kampfrobotern, die wir zu einer der Zentralwelten der Skrii geschickt haben. Ihr gelang die Vernichtung des ›Nests‹, dem Mutterstamm der Skrii. Es war jedoch naiv, anzunehmen, dass dies zu einer Kapitulation des Gegners führen würde. Sie bauten das Nest wieder auf und setzten eine neue Königin ein, die bedeutend kompromissloser war als die alte. Nicht nur wir Menschen, sondern auch die Skrii haben hervorragende Wissenschaftler. Sie hatten die Natur der Zeit ebenso erforscht wie wir und die neue Königin befahl den Bau des Skriikravkniikth, um uns aus der Geschichte unseres Universums zu tilgen. Wir lagen lange genug mit dem Gegner im Krieg, dass wir genau über die Vorgänge auf ihren Wissenschafts- und Industriewelten informiert waren. Dennoch kamen wir zu spät, den Einsatz der Waffe zu verhindern. Als unser Einsatzkommando eintraf, um das Gerät zu vernichten, war es bereits nicht mehr dort, und man hatte unserem Team eine Falle gestellt. Nur einer konnte entkommen, aber es gelang ihm, eine der Chefplanerinnen der Skrii zu betäuben und nach Lorana zu entführen. Bei den Befragungen plauderte er viele Einzelheiten aus, die uns nun hoffentlich helfen.«
»Und dieser Skrii hat euch das einfach verraten?«, wunderte sich Dunn.
»Natürlich nicht. Du willst nicht wissen, was geschehen musste, an dieses Wissen zu gelangen.«
»Ihr habt dieses Wesen gefoltert.«
»Vermutlich würdet ihr es so nennen. Unsere Spezialisten nennen es ›nachdrückliche Befragung‹.«
»Ich stelle fest, dass die Menschen der Zukunft auch nicht besser sind als wir.«
»Wir stammen zwar aus der Zukunft, aber wir haben noch immer unseren Selbsterhaltungstrieb«, sagte Brungk. »Ich weise aber darauf hin, dass weder Sequel noch ich an solchen Aktionen beteiligt waren. Ich glaube auch nicht, dass wir das könnten.«
»Okay«, sagte Dunn. »Das war für mich als Hintergrundwissen natürlich interessant, aber wie geht es jetzt weiter?«
»Wir werden jetzt verschmelzen und unsere Orterfähigkeiten einsetzen«, meinte Sequel. »Das kann eine Weile dauern. Für dich bedeutet es nur, dass du uns alles vom Hals halten musst, was uns stören könnte. Schalte eventuell den Anzug ein und aktiviere den Tarnmodus. Es wird dich dann niemand sehen können. Du könntest jeden Neugierigen ablenken oder notfalls ausschalten, wenn es ein gefährliches Tier ist.«
»Denkst du, es dauert so lange?«
»Wir müssen der Temporalschockwelle nachspüren. Die Nachwirkungen sind nur noch schwach spürbar. Wenn in der nächsten Zeit keine weitere Welle kommt, kann es Stunden dauern. Mach dir also keine Sorgen, wenn wir lange in der Verbindung bleiben.«
Sie setzten sich bequem auf den Zeltboden gegenüber und legten ihre Stirn aneinander. Nur wenige Augenblicke später waren sie nicht mehr ansprechbar.
Dunn verließ das Zelt und sah sich um. Nichts deutete darauf hin, dass jemand oder etwas sich für ihr Zelt interessierte. Nicht einmal Wapitis hielten sich in der Nähe auf. Er aktivierte aus purer Langeweile seinen Anzug und experimentierte mit den Kontrollen herum. Es gab tatsächlich einen Tarnmodus, aber aus dem Innern des Anzuges konnte er nicht die Wirkung dieses Modus überprüfen. So übte er weiterhin das Zusammenspiel von Waffensystemen und Anzug, trainierte, das System mit seinen Gedanken zu steuern und bemühte sich allgemein, die Abläufe zu beschleunigen. Ob das letztlich ausreichend war, um den Ernstfall zu überleben, konnte er nur hoffen.
Als er nach einiger Zeit den Anzug abschaltete, war es fast Mittag und sein Magen signalisierte ihm Hunger.
Er schlüpfte ins Zelt, um sich eine Rolle Kekse zu holen. Dabei sah er, dass sich weder Brungk noch Sequel in der Zwischenzeit bewegt hatten. Seit mehreren Stunden hatten sie in dieser Position verharrt. Das konnte nicht gesund sein. Er hoffte, dass die beiden bald aus ihrer Verschmelzung auftauchen würden. Es sollte noch ein paar weitere Stunden dauern, als sie sich plötzlich bewegten und ihre schmerzenden Glieder rieben. »Wasser!«, rief Sequel. »Ich bin völlig ausgetrocknet.«
Dunn eilte sofort mit einer Flasche Quellwasser zur ihr, die sie an einer kleinen Quelle, nur wenige Meter neben dem Zelt, auffüllen konnten. Sequel trank wie eine Verdurstende. Brungk ging es nicht besser, doch er wartete geduldig, bis Sequel fertig war.
Die beiden waren völlig erschöpft. Dunn sah, dass Sequel offenbar Schmerzen verspürte. »Geht es dir nicht gut?«
Sie lachte humorlos auf. »So kann man es nennen. Mir platzt der Kopf und jeder Knochen schmerzt. Aber wir wissen jetzt, wo wir die Waffe erwarten werden.«
»Tatsächlich? Ihr konntet es lokalisieren? Ist es weit von hier?«
Brungk setzte seine Flasche ab und wischte sich über den Mund. »Etwas mehr als drei Kilometer von hier.«
»Wir sollten unser Zelt hier stehen lassen und nur mit unserer Ausrüstung loslaufen«, ergänzte Sequel. »Für diese kurze Strecke sollten wir keine Energie für eine Ortsversetzung vergeuden. Wir werden jedes Quäntchen davon brauchen, wenn das Ding erscheint.«
»Wann brechen wir auf?«
»Wir sollten uns bald auf den Weg machen«, sagte Sequel. »Bereiten wir uns vor.«
Dunn schaute sie verständnislos an. »Welche Vorbereitungen meinst du?«
»Nun. Zieh deine Sachen aus und schalte den Anzug ein. Anschließend heften wir unsere Waffen an den Anzug und los geht es.«
»Und wieso soll ich mich ausziehen? Bei euch scheint Nacktheit normal zu sein. Bei uns ist das etwas anders.«
»Damit hat das nichts zu tun«, erklärte Sequel. »Der Anzug kann sich nur richtig um die Bedürfnisse deines Körpers kümmern, wenn er Kontakt dazu hat. Wenn du unter dem Anzug nackt bist, wird er sich auch um deine Ausscheidungen kümmern. Wir können es uns nicht leisten, deswegen auch nur eine Minute unachtsam zu sein.«
Dunn zögerte noch.
»Worauf wartest du?«, fragte Sequel, die bereits fast vollständig ausgezogen war.
»Nun mal im Ernst: Wenn ich irgendwann den Anzug ausschalte, stehe ich im Adamskostüm vor meinen Gegnern? Das ist doch völlig verrückt!«
Sequel lachte. »Dann schalt ihn halt nicht aus.« Elegant warf sie ihr Höschen als letztes Kleidungsstück auf den Kleiderhaufen am Boden und aktivierte ihren Anzug. Von einem Moment zum anderen verwandelte sie sich in eine graubraune Figur aus einem Guss. Auch Brungk war bereits fertig und schaltete seinen Anzug ein. Dunn begann zögernd, auch seine Kleidung abzulegen. Vielleicht war es seine prüde Erziehung, aber es fühlte sich einfach falsch an, seine Kleidung auszuziehen, wenn es in den Kampf gegen einen mächtigen Gegner ging. Trotzdem tat er es und der Kleiderhaufen auf dem Boden wurde noch etwas größer. Er fühlte sich erst besser, als sein Anzug ebenfalls aktiv war. Aus seinem Helm heraus konnte er die Gesichter seiner Freunde wieder erkennen. Vom Hals an abwärts verbargen die Anzüge allerdings die Körper vor den Blicken der anderen, was ihn beruhigte.
Er spürte, wie sich der Anzug wie eine zweite Haut an seinen Körper anpasste, bis er ihn kaum noch spürte. Brungk nahm die Waffen zur Hand und klebte sie einfach in Hüfthöhe auf die glatte Oberfläche des Anzuges. Sie blieben dort haften wie festgeschweißt. »Wenn du danach greifst, werden sie ganz einfach abgehen.«
»Können wir uns dann auf den Weg machen?«, fragte Sequel ungeduldig. »Wir kennen den exakten Zeitplan des Skriikravkniikth nicht. Wir müssen ganz dicht am Objekt sein, wenn es erscheint. Es wird ein Schutzfeld besitzen, das wir mit unseren Mitteln nur schwer durchdringen können. Daher sollten wir von vornherein innerhalb des Schutzmechanismus sein.«
Dunn spürte, wie ihm heiß wurde. Er begann zu ahnen, dass ihre Mission kein Spaziergang werden würde.
Sie verstauten noch ihre Kleidung im Zelt und liefen los. Durch die Navigationsmodule ihrer Anzüge geführt, war es ihnen unmöglich, sich zu verlaufen, und die kinetische Unterstützung ihrer Körper durch die Anzüge ließ sie den Marsch wie einen Spaziergang empfinden. Keine Stunde später trafen sie am Ziel ein. Nichts unterschied diesen Ort von der Stelle, an der ihr Zelt stand. Es fiel Dunn schwer, sich vorzustellen, dass an dieser Stelle in Kürze eine riesige Maschine erscheinen sollte, die eine tödliche Gefahr für die gesamte Menschheit darstellen sollte. Er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, das Militär auf diese Waffe anzusetzen.
»Das wäre keine Lösung«, übermittelte Sequel.
»Was?«, fragte Dunn.
»Du hast so intensiv gedacht, dass der Anzug es an uns weitergeleitet hat. Euer Militär besitzt keine Waffen, die den Schutz des Skriikravkniikth überwinden könnten. Selbst diese Atomwaffen, auf die ihr so stolz seid, würden nur das Land unbewohnbar machen. Glaub mir, wenn jemand eine Chance hat, dann sind wir es.«
Ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Den ganzen Tag verbrachten sie mit Warten im eingeschalteten Anzug. Inzwischen hatte Dunn sich so daran gewöhnt, in dem Anzug zu stecken, dass er ihn überhaupt nicht mehr bemerkte. Das System versorgte ihn mit allem, was sein Körper benötigte. Als die Sonne versank, wurden Brungk und Sequel unruhig.
»Ich hab was gespürt«, sandte Brungk. »Es kommt.«
»Wir stehen mittendrin!«, rief Sequel laut. »Weg hier!«
Dunn blickte sie ratlos an. Sequel stürzte auf ihn zu und zog ihn am Arm hinter sich her. »Willst du, dass es dich zerquetscht?«
»Ich verstehe nicht. Hier ist doch weit und breit nichts zu sehen.«
In diesem Moment begann die Luft, sich mit Elektrizität aufzuladen. Winzige Blitze zuckten aus der Luft in den Boden, und auf dem Boden zeichnete sich plötzlich eine gerade Linie ab, an der entlang das Gras der Ebene von der Faust eines Titanen niedergedrückt schien. Die Blitze wurden zahlreicher und heftiger. Die Luft stank nach Ozon.
Sequel und Brungk liefen an der Linie entlang. »Es ist ein perfektes Quadrat! Wir müssen uns ganz knapp außerhalb des Quadrats aufhalten!«
Dunn achtete darauf, diesen Hinweis zu befolgen und rannte den beiden hinterher. Er hatte keine Lust, von ihnen getrennt zu sein, wenn dieses Ding plötzlich erschien. Doch nach wenigen Metern musste er stoppen, weil die Blitze inzwischen in großer Zahl rund um sie herum in den Boden schlugen. Sequel und Brungk waren kaum noch zu erkennen. Ständig wurde er durch Blitze geblendet, da die Automatik seines Helms nicht schnell genug regierte.
»Dunn, wo steckst du?«, fragte Sequel. »Warum folgst du uns nicht?«
»Ich kann nicht! Ich müsste durch ein Blitzgewitter laufen. Ich bezweifle, dass der Anzug das aushalten würde.«
»Nein! Versuch das nicht! Warte, bis die Waffe erschienen ist. Die Blitze sollten aufhören, wenn die Waffe materialisiert ist. Nicht erschrecken! Es wird ein riesiger Würfel sein!«
Dunn hatte nicht bemerkt, dass sein Kreislauf auf Hochtouren lief. Heftig atmete er und der Anzug bemühte sich, seine Nerven zu beruhigen, aber das Ergebnis fiel nur dürftig aus. Inzwischen war das Blitzgewitter zu einem regelrechten Dauerfeuer geworden und allmählich wurde aus den strahlenden Blitzen ein gewaltiges würfelförmiges Ding sichtbar. Er wagte kaum, sich zu rühren, da er befürchtete, sonst mit den Entladungen in Kontakt zu geraten. Nie in seinem Leben hatte er solche Angst verspürt, wie in diesen Momenten.
Von einem Augenblick zum anderen hörten die Blitze auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Eine gewaltige schwarze Wand erhob sich vor ihm. Er war zu dicht davor, um das tatsächliche Ausmaß erfassen zu können, schätzte aber, dass sie sich mindestens zwanzig Meter in die Höhe erstreckte. Ein schwacher Schein beleuchtete die Szenerie einen Moment später. Dunn spähte in die Richtung, aus der das Licht kam und sah, dass in wenigen Metern Entfernung ein leuchtender Vorhang erschien, der das gesamte Gebilde einhüllte.
»Sequel!«, dachte er.
»Komm jetzt zu uns«, antwortete sie. »Wir haben eine Art Schleuse gefunden.«
Dunn hastete an der Wand entlang, die völlig schwarz wirkte und leicht dampfte. Er legte versuchsweise eine Hand auf die Oberfläche und erfuhr über die Sensoren, dass die Temperatur der Oberfläche weit unter -100 Grad Celsius lag. Als er um die nächste Ecke des Würfels bog, sah er die beiden, die bereits ihre Destabilisatoren in der Hand hielten.
»Du musst uns helfen«, sagte Brungk. »Das Schott bekommen wir nicht auf. Es ist an die Physiognomie der Skrii gebunden, und damit können wir nicht dienen. Wir werden Gewalt anwenden müssen.«
Sie erhoben ihre Waffen und zielten auf eine Stelle des Schotts, wo sie das Scharnier vermuteten. Dunn hatte schon erlebt, was diese Waffen mit Materie anrichteten und wappnete sich instinktiv gegen eine heftige Explosion. Sie blieb jedoch aus und das Schott war völlig unbeschadet.
»Komm Wayne, wir versuchen es mit Dauerfeuer aus drei Waffen gleichzeitig.«
Dunn zog ebenfalls seine Waffe und gemeinsam nahmen sie das Schott unter Feuer. Minutenlang beschossen sie das Material, als es endlich Wirkung zeigte. Es löste sich zwar nicht in einer Explosion auf, doch wurde es porös und seine Dichte wurde immer geringer, bis es schließlich riss und ein gelbes Gas freigesetzt wurde.
»Weiterschießen!«, befahl Sequel. »Wir kommen da noch nicht durch. Das Loch ist noch zu klein.«
Sie feuerten immer weiter. Dunn wunderte sich, wie lange die Ladung der Waffe ausreichte, aber was wusste er schon von den Möglichkeiten der Menschen in zwei Millionen Jahren? Allmählich wurde das Loch größer. Als es groß genug war, hörten sie auf. Brungk hielt seine Waffe in der Hand und kletterte ohne zu Überlegen durch das Loch ins Innere. Sequel sah Dunn kurz an und folgte Brungk. Als Letzter folgte Dunn.
Im ersten Augenblick herrschte totale Finsternis, doch schon Sekunden später hatte der Anzug diverse Strahlenquellen ausgemacht, die sich eigneten, als sichtbares Licht über die Innenfläche des Helms auf die Augen übertragen zu werden. Es half ihm jedoch nicht weiter, da sein Verstand nicht einordnen konnte, was er sah. Das Innere des Würfels glich einem Bild von Hieronymus Bosch - vollkommen verwirrend und zugleich bedrückend. Sequel und Brungk schien es nicht anders zu ergehen, denn auch sie standen staunend und unsicher inmitten des Chaos, welchem vermutlich lediglich ein Skrii etwas Sinnvolles abgewinnen konnte.
Sie erhielten jedoch nicht viel Zeit, sich auf die Situation einzustellen, denn plötzlich begann dieses Chaos, sich zu bewegen. Gleichzeitig empfingen sie in ihren Köpfen den übermächtigen Befehl, ihre Waffen zu senken und sich zu ergeben. Aus unzähligen Öffnungen, die vorher noch nicht zu sehen waren, drängten sechsbeinige Maschinen in den Innenraum. Sie brauchten nicht zu überlegen, was das zu bedeuten hatte, denn diese Maschinen feuerten sogleich aus winzigen Strahlwaffen auf sie. Dunns Anzug signalisierte mehrere Treffer, die er jedoch neutralisieren konnte. Dunn feuerte auf die Maschinen und einige von ihnen explodierten in einer grellen Explosion. Auch Sequel und Brungk hatten das Feuer eröffnet und überall gab es Explosionen und Feuer.
Anfangs sah es noch so aus, als könnten sie der Roboter Herr werden, doch immer weitere erschienen und nahmen sie unter Feuer. Allmählich signalisierten ihre Anzüge Überlastung und Dunn schoss der Gedanke durch den Kopf, was geschehen würde, wenn sein Anzug ausfallen und er splitternackt vor diesen Maschinenmonstern stehen würde. Wild um sich schießend rief er Sequel. »Das wird nichts! Habt ihr keine anderen Möglichkeiten? Ich dachte, ihr bekommt das hier in den Griff, wenn ihr miteinander verschmelzt!«
»Wir brauchen einen Moment, um das zu tun! Wirf ein paar der Granaten, um sie aufzuhalten! Das verschafft uns die Zeit, die wir brauchen!«
Dunn hechtete zu den beiden hinüber und rollte sich ab. Sofort schoss er wieder und riss zwei der Granaten von seiner Hüfte. Er warf sie und gab dem Anzug den Befehl, sie zu zünden. Die Wirkung war verheerend und die Druckwelle warf ihn von den Beinen.
Als er wieder auf den Beinen stand, näherten sich bereits weitere Roboter von allen Seiten, aber Sequel und Brungk standen beisammen und waren von einem roten Leuchten überzogen. Die sich nähernde Armee kam ins Stocken. Vollkommen desorientiert schossen sie in alle Richtungen und dezimierten sich dabei gegenseitig.
Dunn atmete auf. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, sie könnten diese Mission zu einem guten Ende bringen.
»Gebt auf!«, erschien die Stimme wieder in seinem Kopf. »Die Roboter waren erst der Anfang. Der Auftrag darf nicht gefährdet werden.«
Im nächsten Moment spürte Dunn unerträgliche Schmerzen in seinem gesamten Körper. Er konnte keine Angreifer erkennen, doch irgendetwas wurde mit seinem Gehirn angestellt. Aus tränenerfüllten Augen blickte er zu Sequel und Brungk. Sie befanden sich noch immer in dem roten Schimmer, doch ihre Gesichter drückten ebenfalls Schmerz aus. Er konnte sie nicht hören, doch schien es ihm, als würde Sequel vor Schmerz schreien. Sie mobilisierte zusammen mit Brungk ihre letzten Kräfte und Gegenstände begannen, sich von den Wänden zu lösen. Es war, als risse die Hand eines Titanen planlos schwere Metallteile los, die anschließend wie Geschosse durch den Raum flogen. Dunn war sicher, dass es eine der Erscheinungen der Verschmelzung ihrer Persönlichkeiten war. Allerdings schienen sie in gewisser Weise die Kontrolle verloren zu haben, denn ihre Aktivitäten wirkten erschreckend planlos.
Die Schmerzen ließen jedoch ein wenig nach und auch die Stimme in seinem Kopf hatte nicht mehr die zwingende Autorität, wie zu Anfang.
»Gebt auf, und ihr werdet einen schnellen Tod bekommen!«
Die Stimme hatte nicht mehr die ursprüngliche Intensität und Dunns Gedanken ordneten sich. Immer wieder musste er herumfliegenden Gegenständen ausweichen, um nicht verletzt zu werden. Er versuchte zu erkennen, ob die planlosen Angriffe seiner Freunde beim Gegner Wirkung zeigten, was sich jedoch nicht sicher, ob das der Fall war. Die Helmoptik schaffte es endlich, sich besser an die Lichtverhältnisse innerhalb des Skrii-Würfels anzupassen, und er erkannte im Zentrum des Würfels Öffnungen, die offenbar nicht dazu gedacht waren, weitere Kampfroboter auszuspucken. In geduckter Haltung rannte er zur ersten der Öffnungen uns spähte hinein.
Hinter sich hörte er erneut das verräterische Zischen der Strahlschüsse von Robotern. Das Feuer konzentrierte sich allerdings auf Sequel und Brungk, die ihm direkt ausgesetzt waren. Er hoffte, dass der Schutz durch den Anzug ausreichend sein würde. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Hinter ihm näherte sich ein sechsbeiniger Roboter, der einem anderen Typ angehörte als die Modelle, die sie bisher bekämpft hatten. In den vorderen Gliedmaßen hielt er einen, mit nadelspitzen Stacheln bewehrten Zylinder, mit dem er auf ihn zielte. Im nächsten Moment wurden zahlreiche Stacheln auf ihn abgefeuert, denen er nur durch einen beherzten Sprung entgehen konnte. Hinter ihm krachten die Stacheln mit hellem Klingen in die Wand, vor der er eben noch gestanden hatte, und blieben darin stecken.
Der Roboter schwenkte herum und zielte erneut auf ihn, doch Dunn hatte bereits seinen Destabilisator erhoben und drückte ab. Die restlichen Stacheln zerbarsten in Tausende kleiner Teile und der Roboter war unbewaffnet. Er bewegte sich dennoch blitzschnell auf ihn zu, die leeren Vordergliedmaßen drohend erhoben. Dunn brauchte zahlreiche Schüsse, bevor die Maschine ihren Dienst einstellte. Sie musste aus einem ungemein widerstandsfähigen Material bestehen.
Zum ersten Mal hatte Dunn die Zeit, sich umzusehen. Der Raum, in dem er sich befand, war im exakten Zentrum des Würfels. Die rätselhafte Anlage, die er vor sich hatte, musste demnach die eigentliche Waffe sein - der Auslöser für eine Singularität, die alles verschlingen sollte. Es lief ihm eiskalt über den Rücken, als er daran dachte, das Ende der Menschheit vor sich zu haben. Er versuchte, zu ergründen, wo man Bomben hinterlegen musste, damit sie genügend Schaden anrichteten, um die Waffe außer Gefecht zu setzen.
Kampfgeräusche aus dem Vorraum lenkten ihn ab. Hastig rannte er zur Öffnung zurück und blickte hinaus. Seine Freunde hatten inzwischen ihre Verbindung aufgelöst und jeder von ihnen hielt zwei Waffen in den Händen, die sie ohne Pause abfeuerten. Einige der stachelbewehrten Roboter waren erschienen und kreisten sie allmählich ein. Dunn zielte von hinten auf die Maschinen und eröffnete seinerseits das Feuer. Wie beim ersten Mal half nur Dauerfeuer, sie zu zerstören. Leider gelang es ihnen meist noch immer, ihre Stacheln abzufeuern, und Sequel und Brungk vollführten akrobatische Sprünge, um ihnen auszuweichen.
Von der Decke wurden destabilisierende Strahlen abgefeuert, die überall, wo sie auf Materie trafen, eine Wolke Materiestaub zurückließen. Es schien den Rechner der Skrii nicht zu stören, dass jeder Fehlschuss auch Beschädigungen an der Anlage verursachte. Nur direkt bei der eigentlichen Waffe schien Dunn einigermaßen sicher zu sein, denn weitere Roboter waren nicht erschienen und auch Strahlenbeschuss gab es hier nicht. Das Gerät schien also viel zu empfindlich zu sein, um es durch Waffen zu beschädigen.
Dunn überlegte. Seine Freunde hatten draußen genug mit sich selbst und ihrer Verteidigung zu tun. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie es noch bis zu ihm schaffen würden, war äußerst gering, also musste er selbst etwas tun. Eilig löste er alle Bomben von seinem Anzug. Er wusste nur, wie man sie scharfmachte, nicht aber, was sie anrichten würden. Es blieb keine Zeit, sich damit weiter zu befassen. Er aktivierte eine Bombe nach der anderen und steckte sie in jede Öffnung an der Maschine, die er finden konnte. Als er fertig war, wurde ihm bewusst, dass sie nur noch zwei Minuten Zeit hatten, bevor die Bomben zünden und vermutlich ein Inferno auslösen würden.
Er stürzte zur Öffnung des Vorraums zurück und feuerte, ohne nachzudenken, auf den nächstgelegenen Roboter. Der gesamte Raum war von Materiestaub angereichert und die Sicht schlecht. Sequel und Brungk waren nur noch als Schemen erkennbar. Aus den Augenwinkeln sah er einen der zähen Stachelroboter auf die Schemen seiner Freunde zulaufen.
»Vorsicht!«, brüllte er und schoss sofort. Die vielen Materiepartikel in der Luft beeinträchtigten jedoch die Wirkung und der Roboter konnte seine Stacheln abfeuern. Als das helle Klingen der auftreffenden Stacheln verebbte, sah er Sequel schwanken. Ohne einen Laut sackte sie zusammen und Brungk bückte sich zu ihr.
Dunn war plötzlich nicht mehr zu bremsen. »Seque!l!«, brüllte er und schoss wie ein Wahnsinniger auf den Roboter, der auf das Mädchen geschossen hatte. Er rannte direkt auf den Roboter zu und hörte erst auf, zu schießen, als er nur noch ein Haufen Schrott war. Er hatte Glück gehabt, dass ihn in diesem Moment keine der Waffen in der Decke getroffen hatte. Er lief zu Sequel und kniete sich neben sie. In ihrer Brust steckte einer der Stachel. Ihre Augen waren geschlossen. Er konnte nicht erkennen, ob sie noch lebte.
»Wir müssen sie hier rausschaffen«, sagte er zu Brungk, der hilflos neben ihr hockte.
»Sofort!«, rief Dunn eindringlich. »Fass mit an!«
Brungk schien aus einem Traum zu erwachen und bewegte sich endlich wieder. Er fasste die Beine des Mädchens, während er sie unter den Armen fasste.
»In wenigen Augenblicken ist hier die Hölle los«, erklärte Dunn. »Wir müssen versuchen, sie ins Freie zu bringen.«
Sie erhielten noch immer Treffer aus den Waffen der Skrii-Maschine, doch ihre Anzüge konnten sie neutralisieren. Weitere Roboter schien es nicht zu geben, sonst hätten sie ihnen sicher das Leben schwer gemacht. Sie erreichten die aufgebrochene Schleuse und traten ins Freie. In einiger Entfernung schimmerte der Schirm, der den Würfel vollständig umgab.
»Verdammte Scheiße!«, rief Dunn. »An den Schirm hab ich nicht gedacht.«
»Diese Dinger wirken meist nur in eine Richtung«, sagte Brungk.
»Was heißt das?«
»Sie schützen gegen Gefahren von außen. Aus unserer Richtung sollte er durchlässig sein.«
»Und wenn nicht?«
»Dann sind wir tot. So einfach ist das.«
»Dann los!«, rief Dunn. »Tot sind wir auch, wenn wir hierbleiben.«
Sie mobilisierten ihre letzten Kräfte und trugen Sequel auf den schimmernden Schirm zu. Dunn hätte Angst haben müssen, doch hatte er nur ein einziges Ziel: Sequel in Sicherheit zu bringen. Sie durchstießen den Energieschirm, der ihnen tatsächlich keine Schwierigkeiten machte.
Dunn sah sich verzweifelt nach einer Bodenmulde um, in die sie flüchten konnten, bevor die Bomben zündeten.
»Da vorn!«, rief Brungk und deutete mit dem Kopf voraus. »Eine Bodensenke!«
Das Adrenalin in seinen Adern ließ Dunn Kräfte mobilisieren, von deren Existenz er bisher nichts geahnt hatte. Sequel in seinen Armen blieb völlig bewegungslos. Er hoffte, dass sie noch lebte und nicht zu schwer verletzt war.
Sie hatten eben die Senke erreicht und sich darin tief auf den Boden geduckt, als eine gewaltige Explosion das Innere der Skrii-Waffe erschütterte. Weitere Explosionen folgten und der Würfel schien von innen zu leuchten. Sie spürten einen Hitzeschwall über sich hinwegziehen, der die umliegenden Gräser in Brand setzte. Dunn hatte sich halb über Sequels Körper geworfen, um ihn zu schützen. Er achtete jedoch darauf, den Stachel nicht zu berühren, der noch immer in ihrer Brust steckte.
Dunn wusste nicht, wie viele Bomben er scharfgemacht hatte. Er wusste nur, dass die Zahl der Explosionen weitaus höher war. Die Hitze wurde trotz ihrer Anzüge allmählich unerträglich, als eine letzte Explosion, die sich durch ein tiefes Grollen angekündigt hatte, erfolgte. Der Würfel verging in einer gewaltigen Feuersäule, die bis in die Wolken reichte. Eine Druckwelle fegte über sie hinweg und knickte noch in einiger Entfernung sämtliche Bäume um wie Zahnstocher. Danach wurde es still.
Brungk und Dunn krochen zum Rand der Senke und spähten in die Richtung, in der vorher der Würfel gestanden hatte. Nichts deutete darauf hin, dass dort eben noch eine gewaltige Maschine gewesen war. Einige Brände kündeten davon, dass hier etwas geschehen sein musste.
»Haben wir es geschafft?«, fragte Dunn.
Brungk starrte noch einen Moment auf die Brände. »Es sieht ganz danach aus. Wir haben sie vernichtet. Du hast sie vernichtet.«
Dunn kroch zurück zu Sequel. »Gut. Wenn die Welt jetzt gerettet ist ... wie können wir ihr helfen? Kann man feststellen, ob sie noch lebt?«
»Wir können uns mit ihrem Anzug verbinden. Dann zeigt mir mein eigener Anzug ihre Vitaldaten an.«
Brungk legte sich zu ihr und versuchte, möglichst viel Kontakt zwischen seinem und ihrem Anzug zu erzeugen. Nach einiger Zeit löste er sich wieder. »Sie lebt«, sagte er. »Aber sie ist ohne Bewusstsein. Der Stachel steckt in ihrer Brust, hat aber ihr Herz verfehlt.«
»Wie konnte dieses Ding überhaupt den Anzug durchdringen? Ich dachte, es wäre ein Schutzanzug und wäre absolut sicher.«
»Was ist schon absolut sicher? Wer weiß, was das für eine Legierung ist? Schutzanzüge und Schutzfelder schützen meist nur perfekt vor Energieangriffen. Klassische Waffen und kinetische Energie sind noch immer ein Problem.«
»Kannst du ihr helfen?«, fragte Dunn. »Habt ihr in eurem Gepäck etwas, das ihr helfen würde?«
Brungk schüttelte den Kopf. »Wir sind gegen Krankheiten geschützt und haben schnell heilendes Gewebe, aber solche Verletzungen verlangen nach einem Heiler.«
»Einem Arzt.«
»Gut, einem Arzt.«
Dunn überlegte. Die Explosion war sicher beobachtet worden. Es musste davon ausgegangen werden, dass bald jemand nach der Rechten sehen würde. Vermutlich würde ein Helikopter kommen. Bis dahin musste Sequel normale Kleidung tragen - wie auch sie selbst. Dunn erzählte es Brungk.
»Gut, ich hol die Sachen aus dem Zelt«, sagte Brungk. »Mit dem Anzug schaff ich die Strecke in wenigen Minuten. Ich denke, dir ist lieber, hier bei Sequel zu bleiben.«
Dunn sagte nichts, aber sah besorgt auf die Frau hinab.
Brungk rannte los und war bald am Horizont verschwunden. Dunn kniete neben Sequel und strich ihr mit der Hand über den Helm. Viel lieber hätte er ihr Gesicht gespürt und ihre Haut gestreichelt. »Du darfst nicht sterben«, sagte er leise. »Wochenlang hab ich mich gefragt, was ich eigentlich für dich empfinde. Erst jetzt, wo ich befürchten muss, dich zu verlieren, weiß ich es. Bitte halte durch ...«
Als Brungk eintraf, war noch immer kein neugieriger Ranger oder ein Helikopter erschienen. Er legte das Bündel mit ihren Kleidern auf den Boden und fingerte an seinem Anzug herum, der augenblicklich verschwand. Er suchte seine Sachen heraus und zog sich zweckmäßige Kleidung an. Dunn tat es ihm gleich. Zuletzt befreiten sie Sequel von ihrem Anzug. Als sie nackt vor ihnen lag, konnten sie zum ersten Mal die Wunde mit eigenen Augen sehen. Der Stachel war exakt zwischen ihren Brüsten eingedrungen und steckte in ihrem Brustkorb. Es war nur wenig Blut ausgetreten und es blieb zu hoffen, dass es auch keine inneren Blutungen gegeben hatte. Gemeinsam zogen sie Sequel an, die von alldem nichts mitbekam. Dunn streichelte ihr immer wieder über das Gesicht und hoffte, dass endlich Hilfe eintreffen würde.
Aus der Ferne hörten sie das Näherkommen eines Helikopters.
Dunn blickte auf. »Endlich. Es kommt jemand. Hoffentlich ist ein Sanitäter oder Arzt dabei.«
Brungk sah dem Helikopter mit gemischten Gefühlen entgegen. »Wir werden eine Menge Fragen zu beantworten haben, fürchte ich.«
»Sie können fragen, soviel sie wollen - nachdem sie Sequel gerettet haben!«
Das Fluggerät ging neben ihnen nieder. Es handelte sich um eine Maschine mit dem Wappen des Staates Wyoming. Sie kamen also nicht von der Parkverwaltung.
In geduckter Haltung kamen zwei Männer mit einer schweren Tasche angelaufen. Sie trugen klobige Helme und eine dunkelblaue Kombination ohne Abzeichen.
»Was ist hier geschehen?«, fragte einer der Männer.
Dunn ignorierte die Frage. »Ist einer von ihnen Arzt oder Sanitäter? Wir müssen ihr helfen, sonst stirbt sie vielleicht.«
Einer der Männer beugte sich zu Sequel hinunter. »Oh, verdammt! Ich bin Sanitäter, aber das ist eine Nummer zu groß für mich. Sie muss sofort in eine Klinik.«
Er rief seinen Kollegen zu sich, der sich irritiert umblickte und zu ergründen versuchte, was hier geschehen war. »Wirf den Motor wieder an. Wir müssen sofort starten.«
Er stellte keine Fragen, als er das Metallteil in Sequels Brust entdeckte, und sprintete los.
»Wir müssen sie vorsichtig auf die hintere Bank im Flieger legen.« Der Sanitäter schaute Dunn an. »Sie kommen mit und achten darauf, dass die Frau nicht herumrutscht. Wir sind für Krankentransporte nicht ausgelegt.«
»Ich komme auch mit«, sagte Brungk.
Der Mann nickte. »Umso besser.« Man sah ihm an, dass er liebend gern Fragen gestellt hätte, doch sah er ein, dass das warten musste. Hier ging es um ein Menschenleben.
Sie trugen die Bewusstlose Sequel zum Flieger, wo Dunn sie so gut es ging, auf der Rückbank befestigte. Der Pilot war inzwischen auch startbereit. Unvermittelt hob er ab und Dunn fühlte ein mulmiges Gefühl in der Magengrube, als die Maschine nach vorn kippte und Fahrt aufnahm.
»Wo fliegen Sie mit uns hin?!«, brüllte Dunn gegen den Lärm nach vorn.
»Idaho-Falls! Es ist ein paar Meilen weiter als Billings, aber die Klinik dort hat einen guten Ruf. Wir werden über Funk durchgeben, dass wir kommen. Machen Sie sich keine Sorgen! Wenn man ihrer Freundin helfen kann, dann dort!«
Dunn sah Brungk an, in dessen Augen sich ebenfalls Besorgnis widerspiegelte. Er war im Grunde froh, dass die Turbine des Helikopters durch ihren Lärm jedes Gespräch von selbst verbot. So konnte er sich ungestört um Sequel kümmern, die das Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt hatte. Immer wieder tastete er nach ihrem Puls, der schwach zu spüren war. Die Angst, dass sie womöglich zu spät in der Klinik eintreffen könnten, verursachte ihm beinahe körperliche Schmerzen. Die Zeit schien sich wie ein Gummiband zu ziehen, obwohl der Pilot alles aus dem Flieger herausholte.
Schließlich erreichten sie Idaho-Falls und landeten auf dem Hubschrauberlandeplatz vor dem Gebäude. Sanitäter warteten bereits mit einem fahrbaren Bett auf sie.
Als sie gelandet waren, legten sie die Verletzte darauf und verschwanden im Laufschritt mit ihr im Gebäude. Dunn sah ihnen nach und wäre am liebsten gleich hinterhergelaufen.
»Sie ist in guten Händen«, sagte der Kopilot, nachdem er den Helm abgenommen hatte. »Glauben sie mir. Sie können jetzt nichts tun - abgesehen davon, uns zu erklären, was sich auf dem Plateau im Park ereignet hat. Fangen wir einfach damit an, wer Sie eigentlich sind.«
Dunn hatte bereits erwartet, dass man sie zunächst nach ihren Identitäten fragen würde, und hatte sich etwas zurechtgelegt, von dem er nicht wusste, ob es funktionieren würde.
»Mein Name ist Wayne Dunn«, sagte er. »Ich bin Sheriff in Thedford, Nebraska. Das werden Sie schnell nachprüfen können. Meine Papiere habe ich allerdings nicht bei mir. Sie liegen im Handschuhfach meines Autos, auf einem Parkplatz bei Cody.«
Er nickte. »Gut, das werden wir dann sehen. Wer sind die anderen?«
Dunn wies auf Brungk. »Brungk Porter, ein Freund aus Kansas.«
»Brungk? Was ist denn das für ein Name?«
»Das sollten Sie besser meine Eltern fragen«, sagte Brungk geistesgegenwärtig. »Leider sind sie schon seit ein paar Jahren tot.«
»Können Sie sich ausweisen?«
Brungk schüttelte den Kopf. »Ich hab beinahe alles bei dieser rätselhaften Explosion verloren. Tut mir leid.«
»Aber ich kann für ihn bürgen«, bot Dunn gönnerhaft an. »Darf ich fragen, wer Sie eigentlich sind? Ein einfacher Sanitäter sind Sie gewiss nicht.«
Der Mann grinste. Er zog einen Ausweis hervor und reichte ihn Dunn. »Agent Doyle, Staatspolizei Wyoming. Wir wurden über die Explosion im Park informiert und wollten uns dort umsehen.«
Dunn gab den Ausweis zurück. »Danke. Dann sind wir in gewisser Weise Kollegen.«
»In gewisser Weise. Aber zunächst: Wer ist die junge Dame, die wir notfallmäßig hergeflogen haben?«
»Sequel Bannister.«
»Sequel?«, fragte Doyle und winkte dann ab. »Ich weiß schon. Das sollte man die Eltern fragen. Hat sie irgendwelche Papiere?«
»Ich fürchte nein«, sagte Dunn bedauernd. »Die Explosion, wissen Sie?«
»Zurück zu dieser Explosion. Was haben Sie damit zu tun?«
»Was sollen wir damit zu tun haben? Wir waren auf einem Marsch durch den Park, und haben ganz in der Nähe gezeltet. Das Zelt sollte noch dort stehen. Wir wurden von dieser Erscheinung ebenso überrascht wie sie. Auf einmal waren überall Blitze und Feuer, dann gab es diesen gewaltigen Knall, und den Rest kennen Sie. Ich wüsste nicht einmal, womit man so etwas überhaupt auslösen könnte ...«
Doyle presste seine Lippen aufeinander und überlegte. »Nicht sonderlich überzeugend, Ihre Geschichte, aber aktuell können wir sie auch nicht widerlegen. Wir rätseln auch noch, was eine so gewaltige Explosion ausgelöst haben könnte.«
»Agent Doyle, ich werde mich einer weiteren Befragung ganz sicher nicht entziehen. Sie werden feststellen, dass ich in meiner Heimatstadt als sehr zuverlässig bekannt bin. Aber jetzt würde ich liebend gern in dieses Gebäude gehen, um mich um Sequel zu kümmern.«
Doyle lächelte gequält. »Gehen Sie schon. Der Rest hat Zeit.«
Dunn lief sofort los und Brungk folgte ihm. Sequel war bereits im OP und wurde operiert. Eine Schwester wies ihnen einen Platz im Warteraum zu. Kaffee und Zeitschriften wies er dankend zurück. Er hätte keine Ruhe dafür gehabt. Immer wieder sprang er auf und lief hin und her. Er kam sich vor, wie ein Tiger im Käfig.
»Nun setz dich doch hin«, forderte Brungk. »Das bringt doch nichts.«
Zwei Stunden mussten sie warten, bis schließlich ein Arzt aus dem OP kam und auf sie zu trat. Er nahm den Mundschutz ab. »Sind Sie ein Angehöriger der Patientin?«
»Keine Angehörigen«, sagte Dunn. »Aber wir waren mit ihr zusammen, als es geschah. Wie geht es ihr? Schafft sie es?«
Hoffnungsvoll richtete er seinen Blick auf den Arzt.
»Sie wird leben«, sagte er. »Die Metallspitze hat, wie durch ein Wunder, weder das Herz selbst, noch den Herzbeutel verletzt. Die Aorta wurde knapp verfehlt. Aber die Lunge wurde durchdrungen. Das Lungenfell musste genäht werden, aber sie wird es ganz sicher ohne Nachwirkungen überstehen.«
»Kann ich zu ihr?«, wollte Dunn wissen.
»Sie ist noch nicht aus der Narkose erwacht. Sie müssen noch warten. Eine Schwester wird Ihnen Bescheid geben.«
Dunn drückte den völlig verduzten Arzt und bedankte sich bei ihm. Das weitere Warten war zwar nervtötend, doch wusste er zumindest, dass Sequel wieder gesund werden würde.
Als endlich die Schwester erschien, um ihm zu sagen, dass er jetzt zu der Patientin dürfe, war ihm regelrecht mulmig zumute. Wie würde sie reagieren? Plötzlich hatte er Angst, sie könnte völlig anders empfinden als er. Was, wenn er sich alles nur eingebildet hatte? Sein Blick traf den Brungks.
»Na geh schon«, sagte er. »Und versteck dich nicht wieder hinter einer Maske. Lass sie ruhig wissen, wie es in dir aussieht.«
Dunn folgte der Schwester durch die Gänge der Klinik und hätte sie am liebsten angeschoben, damit sie schneller lief. Als sie auf die Tür zu einem Zimmer deutete, zögerte er sekundenlang, die Klinke niederzudrücken. Er atmete tief durch und öffnete die Tür. Dahinter lag ein typisches Krankenhauszimmer mit einem einzelnen Bett und zahllosen Instrumenten. Im Bett lag eine junge, weißblonde Frau, an der verschiedene Sensoren angebracht waren. Ein dünner Schlauch führte in ein Nasenloch. Auf den zweiten Blick bemerkte er, dass sie wach war. Müde Augen blickten ihn an.
»Wayne«, flüsterte sie. »Schön, dich zu sehen.«
Dunn eilte zu ihrem Bett und beugte sich über sie. Er griff eine Hand und streichelte sie sanft. »Ich bin so froh. Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren.«
Sequel versuchte, zu lächeln, doch es gelang ihr nicht gut. »Ich bin zäh. Sag: Haben wir versagt? Ist uns das Skriikravkniikth entwischt?«
»Nein«, sagte Dunn lächelnd und strich ihr über das Gesicht. »Es ist uns nicht entwischt. Wir haben es ihm gezeigt. Es wurde in einer gewaltigen Explosion vernichtet.«
Sie schluckte. »Dann ist die Mission beendet. Brungk und ich sind endlich frei.«
Tränen erschienen in ihren Augen. »Du ahnst nicht, wie erleichtert ich bin. Und danke, dass du uns so geholfen hast. Ohne dich wären wir vermutlich gescheitert. Du kannst jetzt zurückkehren in deinen Ort und alle Menschen dürfen weiterleben.«
Dunns Gesichtszüge froren ein. »Was meinst du damit? Ich soll in meinen Ort zurückkehren? Und was ist mit dir?«
»Brungk und ich sollen versuchen, in der Welt dieser Zeit Fuß zu fassen. Du bist uns nichts mehr schuldig, Wayne. Ich danke dir für alles.«
»Moment!«, rief Dunn heftiger als beabsichtigt. »So einfach ist das nicht! So einfach wirst du mich nicht los! Nicht, nach allem, was wir gemeinsam erlebt haben. Vielleicht beurteile ich ja alles falsch, aber wenn ich gehen soll - wenn du willst, dass ich nach Thedford zurückkehre und dich hier zurücklassen soll, sag es mir direkt ins Gesicht. Ich kann nicht glauben, dass du so empfindest.«
Sequel sah ihn lange schweigend an, und Dunns Hoffnung schwand allmählich dahin. Dann begann sie zu sprechen: »Willst du mich denn nicht zurücklassen? War es nicht nur dein Versprechen, uns zu helfen, weswegen du bei uns geblieben bist?«
»Das fragst du nicht im Ernst! Verdammt, ich bin zuletzt nur wegen dir geblieben. Vermutlich warst es immer nur du, und ich hab es nur nicht begriffen. Als du dann verletzt wurdest, wurde mir mit einem Mal klar, dass ich dich liebe. Ich könnte dich überhaupt nicht verlassen, verstehst du? Die Frage ist nur, was du willst? Was siehst du in mir?«
Sequels Gesicht überzog ein Lächeln. »Ich bin noch nicht sehr gut darin, Gefühle zu äußern, aber ich empfinde genauso. Ich will, dass du bleibst. Ich möchte mit dir zusammen sein. Könntest du dir das vorstellen?«
Dunn beugte sich zu ihr herab und küsste sie. Sequel war erst überrascht, erwiderte dann jedoch den Kuss leidenschaftlich, bis ein Hustenreiz sie unterbrach.
»Versprich mir, dass du das wiederholst, wenn ich dieses Bett verlassen darf.«
Dunn lachte. »Das muss ich dir nicht erst versprechen. Du wirst dich nicht beklagen müssen.«
Sie lächelte erneut. »Ich freue mich darauf. Aber jetzt fühle ich mich unsagbar müde und würde gern etwas schlafen. Sei mir nicht böse.«
»Ich bin dir doch nicht böse. Ich werde warten, und wenn du erwachst, werde ich gleich da sein. Ich werde dich nicht allein lassen.«
Sie griff seine Hand und sah ihn glücklich an. »Mir geht es gleich etwas besser. Und noch eines: Ich liebe dich auch.«
Er gab ihr noch einen sanften Kuss und ließ sie dann schlafen. Als er den Raum verließ, wartete Brungk draußen auf ihn. »Wie geht es ihr?«
»Ich konnte mit ihr sprechen«, sagte Dunn. »Sie wird wieder gesund, ist aber jetzt noch müde und muss etwas schlafen.«
»Sollen wir etwas essen gehen?«, fragte Brungk. »Ich könnte was vertragen.«
»Mich bekommst du hier nicht weg.«
Brungk grinste. »Du hast es mit ihr geklärt?«
Dunn nickte. »Jep.«
»Dann besorg ich uns mal was zum Essen, okay. Und gibst du mir dein Mobiltelefon?«
Dunn zog es hervor. »Was willst du damit?«
»Melanie anrufen. Sie hat verdient, zu erfahren, dass es uns gut geht, oder nicht?«
»Natürlich. Grüß sie schön.«
Brungk hatte sich schon abgewandt, als ihm noch etwas einfiel. »Sag mal Wayne, hier bei euch braucht man doch für alles Papiere. Wie kommen denn Sequel und ich an solche Papiere? Wir sind doch aus dem Nichts bei euch aufgetaucht.«
Dunn lächelte verschmitzt. »Natürlich hattet ihr Papiere. Brungk Porter und Sequel Bannister haben leider alles bei der Katastrophe verloren, nicht wahr? Sobald wir zurück in Thedford sind, beantragen wir Ersatzpapiere für euch. Das bekomm ich schon hin.«
»Das geht so einfach?«
»Nein, wir müssen lügen, wie gedruckt, das ist alles.«
Brungk schaute ihn erst fragend an, dann lachte er los und verschwand, immer noch lachend, im Gang nach draußen.
Dunn blieb allein auf dem Gang zurück und setzte sich auf einen Stuhl, der neben der Tür stand. Die Ereignisse der letzten Wochen zogen an seinem geistigen Auge vorbei. Er hatte Abenteuer erlebt, die es nicht geben sollte, hatte Menschen kennen und lieben gelernt, die es eigentlich nicht gab und eine Frau gefunden, die im wahrsten Sinne des Wortes nicht von dieser Welt war. Wie oft hatte er in seinem Büro in Thedford gesessen und sich gewünscht, sein Leben wäre interessanter. Jetzt fragte er sich, ob er sich nicht doch lieber die beschauliche Ruhe von Thedford wünschen sollte.
Sequel schlich sich in seine Gedanken, und ihm wurde warm ums Herz. Ganz so beschaulich würde die Zukunft doch nicht werden. Dunn lächelte. Er freute sich auf diese Zukunft.