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Diese Geschichte wurde als Beitrag in der Anthologie STORY CENTER 2009 "Boa Esperanca" von Michael Haitel veröffentlicht.
Unterschätzt
Gora blickte sich verstohlen um. In der Abfertigungshalle des zentralen Raumhafens der Erde nahe der Stadt Moskau herrschte große Aufregung. Bei einer Zusammenkunft der Staatschefs der Vereinigten Planetenliga war ein Attentat verübt worden, bei dem der neue Präsident von Centauri 4 getötet worden war. Er war offenbar vergiftet worden. Die Sicherheitskräfte der Erde waren sich noch mmer nicht im Klaren darüber, wie es bei all den Sicherheitsmaßnahmen überhaupt passieren konnte.
Gora musste unwillkürlich lächeln. Solche Aufgaben waren schließlich ihre Spezialität. Dafür hatte man gerade sie engagiert, denn sie hatte bisher selbst die schwierigsten Aufgaben erledigt und man hatte sie noch niemals gefasst, geschweige denn, sie überhaupt verdächtigt. Es lief immer gleich ab: Sie reiste über einen unverfänglichen Weg zu ihrem Missionsziel, schlüpfte in ihre Tarnung und erledigte ihren Job. Anschließend wählte sie eine passende Tarnung und entfernte sich ebenso unauffällig, wie sie gekommen war. Ein hübsches Sümmchen hatte ihr ihre Arbeit schon eingebracht und sie musste sich eingestehen, dass sie ihre Arbeit liebte, auch wenn es dabei nur ums Töten ging.
Mittlerweile wimmelte es nur so von Sicherheitskräften. Offenbar ging man davon aus, dass der oder die Täter den Planeten verlassen würden, da der Boden hier auf dem Planeten Erde bald zu heiß werden würde. Gora hätte ihnen gern gesagt, dass sie gar nicht so verkehrt mit ihrer Einschätzung lagen, denn genau das würde sie tun – die Erde auf dem schnellsten Weg verlassen. Allerdings hatte sie bisher auch noch nie erlebt, dass sie ihre Kontrollen auf dem Raumhafen derart verschärften, wie sie es nun taten. Gora war jedoch nicht wirklich beunruhigt, denn sie hatte eine Trumpfkarte im Ärmel, von der Niemand etwas ahnen konnte. Gora war ein so genannter Gestaltwandler. Sie konnte nahezu jede Gestalt annehmen und kopieren, die sie durch Berührung gescannt hatte und die in etwa ihrer Körpermasse entsprach. Auf die gleiche Weise konnte sie Substanzen kopieren, die sie einmal berührt hatte, auch wenn es sich dabei um ein hochwirksames Gift handelte. Für sie selbst war ein auf diese Weise hergestelltes Gift nicht gefährlich, wohl aber für jemanden, dem sie die Hand schüttelte, während sie ein Kontaktgift in ihren Handflächen bereithielt. Der Präsident von Centauri 4 war vollkommen ahnungslos, als er einer vermeintlichen jungen Journalistin die Hand schüttelte. Lächelnd hatte sie ihm viel Erfolg und eine angenehme Zukunft gewünscht, ehe sie wieder in der Menge der Reporter und Journalisten untertauchte. Noch bevor Gora den Tatort endgültig verließ, griff sich der Präsident unvermittelt an die Brust und verspürte eine unerklärliche Schwäche. Goras Gift wirkte schnell. Sie hielt nichts davon, ihre Zielpersonen lange leiden zu lassen. Sie war kein Sadist.
Gora hatte diese Gestaltveränderungen in den letzen Jahren so oft vollzogen, dass sie sich schon fast nicht mehr daran erinnern konnte, welches ihre ursprüngliche Gestalt war. Auch jetzt lief sie ungezwungen mit dem Aussehen einer Touristin, die sie wie zufällig gestreift hatte, durch die weite Halle der Abfertigung. Der einzige Nachteil waren die fast unerträglichen Schmerzen, die es ihr jedes Mal bereitete, wenn sie ihre Körperform veränderte. Deshalb zog sie sich meist kurzfristig zurück, um andere nicht durch Schmerzäußerungen misstrauisch zu machen.
Jetzt war es Zeit, sich um ihre Passage nach Wega 3 zu kümmern. Ursprünglich hatte sie vor gehabt, einem anderen Passagier seine Flugtickets zu stehlen und seine Gestalt anzunehmen, doch Gora entschied, dass es zu riskant wäre, einen weiteren Menschen zu töten, um dessen Identität anzunehmen. An sämtlichen Personenabfertigungen hatte man Telepathen eingesetzt, die vor dem Boarding jeden Passagier überprüften. Sie konnte es sich nicht leisten, von einem dieser Telepathen geprüft zu werden. Gora fragte sich, wo sie in der Kürze der Zeit all diese Telepathen aufgetrieben hatten, denn soweit sie wusste, gab es auf der Erde nicht allzu viele von ihnen. Sie ließ ihren Blick durch die Halle schweifen und hatte nach einiger Zeit gefunden, was sie suchte: Einen allein reisenden Mann mit mehreren großen Koffern, der sich mit seinem Gepäck, welches er auf einen kleinen Wagen geladen hatte, zum Check in für den Flug nach Wega 3 bewegte. Gora setzte sich in Bewegung und näherte sich diesem Mann.
„Ist das hier der Schalter für Wega 3?“, fragter sie ihn freundlich.
„Ich hoffe“, antwortete der Mann, „ich bin zum ersten Mal hier auf diesem Raumhafen und finde es sehr verwirrend. Vor allem die vielen Sicherheitsleute finde ich sehr irritierend.“
„Haben sie es nicht mitbekommen?“, fragte Gora unbefangen, „Jemand hat den Präsidenten von Centauri 4 getötet und nun suchen sie überall nach dem Täter. Hoffentlich fassen sie ihn.“
„Sagen sie, sie wollen doch auch nach Wega 3, nicht wahr?“, fragte der Mann, „Ich müsste dringend einmal die öffentlichen Toiletten aufsuchen. Würden sie so nett sein, auf mein Gepäck zu achten?“
Gora konnte kaum fassen, dass sie so viel Glück haben sollte.
„Aber sie kennen mich doch überhaupt nicht“, sagte sie, „und da wollen Sie mir Ihr ganzes Gepäck anvertrauen?“
„Ich glaube, ich kann ihnen vertrauen“, entgegnete der Mann, „sie haben ein ehrliches Gesicht. Ich bin gleich wieder zurück.“
Dann entfernte er sich.
Gora wartete, bis der Mann außer Sicht war, dann wählte sie einen Koffer aus, der ihrer Körpermasse am nächsten kam und zog ihn vom Wagen.
Sie blickte sich um. Niemand beachtete eine junge Frau, die mit ihrem Gepäck beschäftigt war. Beruhigt wandte sie sich wieder ihrem Vorhaben zu.
Schnell schleppte sie den Koffer zu den Schließfächern und verstaute ihn darin. Zwar besaß sie kein Geld, aber sie drückte die Tür soweit zu, dass sie wie geschlossen wirkte. Schnell lief sie zum Gepäckwagen zurück und setzte sich dorthin, wo vorher der Koffer gestanden hatte. Ein schneller Blick genügte, um festzustellen, dass niemand sie beobachtete, daher löste sie die Gestalt der Touristin auf und verwandelte sich in den Koffer, den sie entsorgt und dabei gescannt hatte. Der ganze Vorgang dauerte nur wenige Sekunden und verursachte Gora irrsinnige Schmerzen. Es kostete sie ungeheure Selbstbeherrschung, nicht laut aufzuschreien, doch es gelang ihr, bis auf ein leichtes Stöhnen, jeden Laut zu unterdrücken. Niemand bemerkte etwas von dieser Verwandlung und als der Mann wenig später zurückkehrte, blickte er nur irritiert umher und war verblüfft, dass die junge Frau, die ebenfalls nach Wega 3 wollte, nicht mehr da war. Er prüfte sein Gepäck und fand alles so vor, wie er es verlassen hatte. Mit einem Achselzucken schob er den Wagen zum Counter der Raumfluggesellschaft. Gora beobachtete die Szene über winzige Sehorgane, die sie nahezu unsichtbar überall über den Koffer verteilt hatte. Sauerstoff nahm sie über eine Reihe von Poren auf. Sie verhielt sich absolut still und sah aus, wie ein Stück Gepäck. Das Einchecken verlief ohne weitere Probleme und sie wurde auf ein Förderband geworfen. Hätte sie einen Mund besessen, hätte sie laut aufgeschrien, doch in ihrer jetzigen Form musste sie still erdulden, wie die automatischen Verladeeinrichtungen mit ihr und dem übrigen Gepäck umsprangen.
Innerlich triumphierte sie, als sie sah, wie sie mit vielen anderen Gepäckstücken in den Bauch des Schiffes transportiert wurde. Sollten sie doch nach ihr suchen, mit all ihren Sensoren und Telepathen. Diese Menschen waren einfach nicht clever genug, einen Killer wie sie zu fassen.
Kommandant Dariusz Vacek sah von seiner Konsole auf. Seit mehreren Jahren flog er nun schon die Route Erde-Wega 3 und es langweilte ihn von Mal zu Mal mehr. Den Gesichtern seiner Cockpit-Crew konnte er entnehmen, dass die anderen nicht anders empfanden. Die Computer erledigten die ganze Arbeit und sie waren nichts weiter, als Relikte einer Zeit, in der noch echte Menschen diese Raumschiffe flogen. Sie waren noch in der Beschleunigungsphase, deshalb hatten sie noch ein Empfinden von oben und unten. Vacek erhob sich und griff nach der Passagierliste, die er mit wenig Interesse überflog. Sein Blick blieb an einem Hinweis der Abfertigung hängen.
„Auch das noch!", stöhnte er, "Wir haben eines dieser Mutantengören mit seiner Mutter an Bord. Sicherlich wieder eines von diesen übersensiblen Kindern, die auf solchen Flügen gern Ärger machen.“
„Was für ein Mutant ist es denn?“, wollte der Navigator wissen.
„Telepath und Empath, steht hier“, antwortete Vacek, „sie schreiben, die Kleine sei extrem sensibel und ich soll mich persönlich um sie kümmern.“
Vacek seufzte und warf die Liste auf den Tisch zurück.
„Ich schau' mir dieses Wunderkind 'mal an. Wie ich das hasse. Mir würden Kinder an Bord schon reichen – und jetzt auch noch ein Mutant.“
Vacek versuchte, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, während er sich durch die Kabine der Standardpassagiere bewegte. Mutanten waren ihm nicht geheuer und verursachten ihm Unbehagen. So ein Telepathenkind schnüffelte sicher in seinen Gedanken herum. Er hatte keine Lust, zu viel von sich durch unbedachte Gedanken preiszugeben. Er atmete noch einmal durch und öffnete dann die Tür zur Privatkabine, in der die beiden besonderen Fluggäste untergebracht waren. Vacek war überrascht, ein ganz normales, knapp zehn Jahre altes Mädchen und ihre attraktive Mutter vorzufinden.
„Ich bin Kommandant Vacek“, stellte er sich vor, „ich wollte mich persönlich vergewissern, dass bei ihnen alles in Ordnung ist.“
„Das ist nett“, sagte die Frau, „aber es ist nicht notwendig, dass sich die Schiffsleitung persönlich um uns kümmert. Wir sind ganz normale Passagiere.“
„Meine Gesellschaft ist da anderer Meinung. Es heißt, ihre Tochter sei sehr sensibel.“
An das Kind gewandt, fragte er:
„Wie ist denn dein Name?“
„Ich heiße Ina“, sagte das Mädchen, „und du musst keine Angst vor mir haben.“
„Wie kommst du darauf, dass ich Angst vor dir habe, Ina?“, fragte Vacek.
„Ich spüre das“, sagte Ina, „und ich werde deine Gedanken nicht lesen. Alle haben sie immer Angst, dass ich ihre Gedanken lese. Dabei ist es ganz anders. Die Leute drängen mir ihre Gedanken förmlich auf. Dabei will ich einfach nur mit meinen Gedanken im Kopf allein sein.“
„Wir fliegen zur Wega, damit Ina dort zur Telepathin ausgebildet werden kann“, erklärte Inas Mutter, „sie haben dort Spezialisten, die Ina helfen können, ihre Fähigkeit beherrschen zu lernen.“
„Weißt du, dass ich Gedanken aus dem Gepäckraum empfange?“, fragte Ina plötzlich.
„Das Gepäckabteil ist versiegelt, Ina“, sagte Vacek, „dort kann während des Fluges niemand sein. Du musst dich irren.“
„Ich irre mich nicht!“, beharrte Ina, „Ich habe einen stillen Ort gesucht, auf den ich meine Sinne richten konnte, um nicht dauernd die Gedanken der anderen Passagiere zu hören. Da habe ich den Gepäckraum gefunden, aber auch von dort kommen Gedanken.“
„Und du bist dir da auch ganz sicher?“, fragte Vacek noch einmal nach. Ina nickte.
„Es sind böse Gedanken“, sagte Ina, „eben sagten die Gedanken, dass jemand getötet worden ist.“
„Ina, niemand ist getötet worden“, sagte Vacek beruhigend, „wir befinden uns hier an Bord eines Passagierraumschiffs und wir sind schon weit entfernt von der Erde. Wenn jemand getötet worden wäre, dann wüsste ich das. Du hast bestimmt etwas falsch verstanden.“
Ina riss die Augen weit auf.
„Ich habe Recht. Es ist ein Mörder. Ich habe es ganz deutlich gehört.“
Inas Mutter nahm sie in den Arm.
Vacek wurde nachdenklich. Er dachte plötzlich daran, was auf dem Raumhafen los gewesen war, weil man nach dem Mörder des Präsidenten von Centauri 4 gefahndet hatte. Er hatte nicht erwartet, dass sich der Täter vielleicht ausgerechnet auf seinem Schiff verstecken würde, zumal alle Passagiere von Telepathen vor dem Betreten der Schiffe überprüft worden waren.
„Wenn das stimmt, was Ina gesagt hat, müssen wir einen blinden Passagier an Bord haben, auch wenn ich mir nicht erklären kann, wie er an Bord gekommen ist“, sagte er dann.
Vacek ging zur Wand und drückte eine Taste, um das Kommunikationssystem zu aktivieren.
„Vacek hier!“, rief er hinein, „Ich brauche ein komplettes Sicherheitsteam an der Schleuse zum Gepäckraum – in fünf Minuten. Wir haben möglicherweise einen blinden Passagier – einen gefährlichen blinden Passagier.“
Gora langweilte sich. Die von ihr gewählte Gestalt ließ ihr nicht viele Möglichkeiten der Betätigung. Sie hatte schon überlegt, wieder eine menschliche Gestalt anzunehmen, entschied sich aber dann dagegen, da sie den versiegelten Gepäckbereich doch nicht verlassen konnte. Außerdem bestand immer die Gefahr, dass die Gepäckabteilung auch durch Kameras überwacht wurde.
Also begann sie Pläne zu schmieden, wie sie weiter vorgehen wollte, wenn sie ihr Ziel, Wega 3, erreicht hatten.
Plötzlich hörte sie Geräusche. Sie fuhr ihre Sehorgane aus, um besser sehen zu können und erstarrte vor Schreck. Eine Gruppe bewaffneter Sicherheitsleute kam langsam den Gang hinunter und untersuchte jeden Bereich des Gepäckraums. Sie mussten etwas wissen. Hatte sie einen Fehler gemacht? In Gedanken ging sie alles noch einmal durch. Nein, ihre Flucht war perfekt verlaufen. Trotzdem musste etwas geschehen sein. Vielleicht hatten sie doch einen Tipp erhalten oder man hatte die Reisetasche im Schließfach zu früh bemerkt? Sie wusste es nicht, aber es war ihr absolut klar, dass man nach ihr suchte. Einer der Sicherheitsleute trat von Zeit zu Zeit mit dem Fuß gegen einen der Koffer. Sie wussten es! Sie musste etwas tun. Gora bedauerte, dass sie keine Waffe besaß. Sie wartete, bis einer der Wachen an ihr vorbei war, dann wappnete sie sich gegen die Schmerzen einer Wandlung und nahm in wenigen Sekunden wieder die Gestalt der Frau an, die sie auch vorher inne gehabt hatte. Von hinten griff sie die Wache an und zertrümmerte dem Mann einen Nackenwirbel. Bevor Gora sich dem Nächsten zuwenden konnte, reagierte ein Kollege des Getöteten, den sie nicht gesehen hatte und schoss das ganze Magazin seiner Betäubungswaffe leer. Gora wurde von zahllosen Geschossen getroffen. Mit einem erstickten Aufschrei brach sie zusammen. Auch der Metabolismus eines Gestaltwandlers war nicht in der Lage, diese Menge von Betäubungsmitteln zu verkraften.
Als Gora ihr Bewusstsein wieder erlangte, stellte sie fest, dass sie sich in einer Zelle befand. Sie blickte umher, um den Raum zu untersuchen. Möglicherweise handelte es sich um eine Arrestzelle, denn außer einem kleinen Tisch, einem Stuhl einer einfachen Liege und einem offenen Sanitärbereich gab es nichts in diesem Raum.
Ihre Gedanken rasten. Man hatte sie überwältigt, nachdem sie eine der Wachen getötet hatte. Sie fragte sich, ob man sie wohl als die Verantwortliche des Attentats auf der Erde identifiziert hatte, verwarf diesen Gedanken jedoch wieder. Es gab keinerlei Verbindung zwischen der nun von ihr genutzten Gestalt und der Gestalt der Journalistin, die ihre Tarnung während des Jobs gewesen war. Selbst wenn man die sicherlich vorhandenen Videoaufzeichnungen studierte, würde nichts auf ihre Person hinweisen. Man hatte sie lediglich hier eingesperrt, weil sie eine Wache getötet hatte. Sie würde versuchen, es als Notwehr hinzustellen. Sie war ein blinder Passagier und hatte Angst gehabt, als die bewaffneten Männer erschienen waren. Sie musste weiter auf ihre Chance warten und Gora war sicher, dass bald eine Chance kommen würde, aus dieser Situation zu entkommen, denn sie glaubte nicht, dass man sie bei der Aufgabe ihrer Koffertarnung beobachtet hatte.
Gora lächelte. Die Menschen waren so leicht zu manipulieren. Sie war inzwischen wieder absolut ruhig und empfand es als sportliche Herausforderung, aus dieser Situation zu entkommen. Es hieß nur, sich in Geduld zu üben und zu warten.
Stunden später betrat Kommandant Vacek mit 2 Wachen den Raum.
„Warum werde ich hier festgehalten?“, fragte Gora sogleich aggressiv.
Vacek zog erstaunt seine Augenbrauen hoch.
„Vielleicht weil Sie sich unrechtmäßig an Bord meines Schiffes aufhalten und einen meiner Männer getötet haben?“, fragte er zurück.
„Es war doch nur Notwehr!“, ereiferte sich Gora, „Stellen Sie sich meine Situation vor: Ich habe mich als blinder Passagier an Bord geschlichen und wurde von Ihren bewaffneten Männern entdeckt. Ich hatte einfach Angst. Schließlich hatte ich bereits schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht.“
„Sie haben meinem Mitarbeiter einen Nackenwirbel zertrümmert!“, sagte Vacek, „Woher hat eine junge Frau wie Sie die Fähigkeiten, einen erwachsenen Mann – einen Wachmann – auf diese Weise auszuschalten?“
Gora sprang von ihrer Liege auf und fasste Vacek an den Aufschlägen seiner Uniform.
„Kommandant, Angst befähigt einen manchmal zu den verrücktesten Dingen“, sagte sie eindringlich, „Sie müssen mir glauben, dass ich niemals vorhatte, jemanden zu töten.“
Vacek versteifte sich innerlich. Er ergriff Goras Handgelenke und stieß sie von sich. Die beiden Wachen hoben leicht ihre Waffen und richteten sie auf Gora. Vacek deutete ihnen, sie wieder zu senken.
„Sie bleiben unter Arrest, bis wir Wega 3 erreichen“, sagte Vacek, „und fassen Sie mich nie wieder an.“
Gora lächelte Vacek offen an und meinte:
„Warum sollte ich das jetzt auch noch tun?“
Vacek sah sie fragend an. „Was meinen Sie damit?“
Gora hatte Vaceks Körper in dem Moment gescannt, als er ihre Handgelenke umfasst hatte. Sie erkannte, dass die Wachen nervös waren. Sie glaubte nicht, dass sie im Kampf sonderlich geübt waren. Es waren Wachen an Bord eines Passagierschiffes, da würden sie in der Regel wenig Gelegenheit haben, sich im Kampf zu üben. Die Zelle, in der sie sich befanden, war relativ eng. Gora entschied, dass es an der Zeit war, diese Wesen in ihre Schranken zu weisen.
Unvermittelt machte sie einen Ausfallschritt in Richtung der ersten Wache und zertrümmerte ihm mit einem gezielten Schlag den Kehlkopf. Dem zusammensackenden Körper entriss sie die Waffe und löste sie sofort aus, noch bevor die zweite Wache begriff, was geschah. Ein haarfeiner Laserstrahl drang in seine Brust ein und tötete ihn auf der Stelle.
Vacek hatte sich erstaunlich schnell von seinem ersten Schreck erholt und sprang aus der Zelle in den Gang hinaus. Mit keuchendem Atem schlug er die schwere Metalltür zu und rastete sie ein, bevor Gora hinter ihm den Raum verlassen konnte. Durch die kleine Sichtscheibe blickte er in den Raum, in dem Gora mit angeschlagener Waffe stand und ihn kalt musterte.
Der Kommandant war sich sicher, dass die Waffen der Wachen nicht geeignet waren, die schwere Tür nachhaltig zu beschädigen, also wandte er sich ab um in der Zentrale weitere Wachen zu alarmieren und selbst eine Waffe zu nehmen. Er fragte sich, was das für eine Frau war, die er da gefangen hatte. Sie machte einen absolut harmlosen Eindruck, war aber eine regelrechte Mordmaschine. Wieder fielen ihm die Sicherheitsmaßnahmen im Raumhafen auf der Erde ein. Hatte er vielleicht die Attentäterin an Bord, die den Präsidenten getötet hatte?
Vacek kam bei der Zentrale an.
„Ab sofort gilt erhöhte Alarmbereitschaft!“, rief er, „Fünf bewaffnete Männer werden ab sofort die Arrestzelle bewachen. Und Vorsicht! Die Frau ist absolut gefährlich. Sie hat schon drei Männer getötet.“
Er steckte sich eine Laserhandwaffe ein. Er hasste es, Waffen zu tragen, aber allein der Gedanke, dieser merkwürdigen Frau noch einmal begegnen zu müssen, bewog ihn, dies lieber bewaffnet zu tun. Er verließ wieder die Zentrale, um sich selbst zu vergewissern, dass die Zelle auch tatsächlich gut bewacht war.
Gora wartete, bis Vacek gegangen war. Es war ihr klar, dass er in Kürze wieder mit weiteren Wachen zurück sein würde. Bis dahin musste sie hier weg sein. Sie betrachtete die Waffe und beurteilte die Stärke der Tür, die Vacek hinter sich versperrt hatte. Gleichgültig warf sie sie weg, da sie hier nichts nützen würde.
Als nächstes beugte sie sich über die Leichen der Wachen, um deren Anzugtaschen geschickt zu durchsuchen. Bald hatte sie gefunden, was sie suchte: Einen kleinen Codegeber, wie man ihn an Bord von Raumschiffen gern benutzte, um Türschlösser zu bedienen. Sie probierte etwas mit dem kleinen Gerät herum und bereits beim siebten Versuch fand sie den Code für ihre Tür. Mit einem leichten Klicken sprang das Schloss auf.
Gora lachte laut und warf ihren Kopf in den Nacken. Niemand würde sie auf Dauer fangen. Nun würde sie es sein, die die Initiative ergriff. Dann konzentrierte sie sich auf den Scan des Körpers von Vacek und wappnete sich gegen den Schmerz der Verwandlung. In letzter Zeit hatte sie sich schon zu häufig verwandelt, daher trieb ihr der Schmerz die Tränen in die Augen, die nun nicht mehr die einer jungen Frau, sondern die eines Mannes waren – des Kommandanten des Schiffes. Um den Schmerz zu vertreiben, schüttelte sie heftig mit dem Kopf. Als sie noch einen Blick in den Spiegel an ihrer Sanitärzelle warf, sah ihr aus dem Spiegel das Gesicht des Kommandanten entgegen. Zufrieden ergriff sie die Waffe, die sie weggeworfen hatte. Mit wenigen Schritten war sie draußen auf dem Gang und verschloss die Tür wieder hinter sich. Noch war keine der Wachen erschienen, die sicherlich in Kürze wieder hier sein würden, also machte Gora sich auf den Weg, das Schiff zu erkunden. Sie musste sich orientieren können, wenn sie einem Besatzungsmitglied über den Weg lief, denn sie konnte niemandem vorspielen, der Kommandant zu sein, wenn sie offensichtlich nicht wusste, wo sie sich befand.
Gora besaß ein hervorragendes Gedächtnis. An jeder Gangkreuzung prägte sie sich die Beschriftungen an den Wänden ein. Von Zeit zu Zeit begegnete ihr ein Besatzungsmitglied und grüßte freundlich. Gora grüßte zurück. Sie hatte oft genug beobachtet, wie die Besatzungen auf irdischen Raumschiffen miteinander umgingen, das kam ihr jetzt zugute. Niemand schien Verdacht zu schöpfen. Sie begann, einen Plan zu schmieden, wie sie dieses Schiff übernehmen konnte, ohne dass es jemandem auffallen würde, als sie Schritte hörte. Es waren andere Schritte, als die von erwachsenen Männern. Vorsichtig spähte sie um die Ecke und stellte verblüfft fest, dass dort ein kleines Mädchen stand. Sie hatte ein Stofftier unter ihrem Arm und sah Gora an.
„Wer bist du denn?“, fragte Gora sie, „Und was machst du hier?“
„Sie müssen mich doch kennen“, sagte das Mädchen, „Sie sind doch der Kommandant. Ich wollte mir in der Bordkantine etwas zu naschen holen, aber ich habe mich verlaufen. Können Sie mir sagen, wie ich zur Kantine komme?“
Gora überlegte. Die Kantine war ihr noch nicht unter gekommen. Sie wollte nichts Falsches sagen. Kommandant Vacek schien dieses Menschenkind zu kennen. Wenn es berichtete, dass der Kommandant ihr falsche Auskünfte gegeben hatte, würde ihre Tarnung kippen können. Sie überlegte einen Moment, ob sie die Kleine beseitigen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Gora war im Grunde weiblich, daher widerstrebte es ihr, Kinder zu töten. Während sie noch überlegte, was sie dem Mädchen sagen sollte, hörte sie weitere Geräusche. Eine Gruppe von Männern kam um die Ecke und im nächsten Moment sah sie sich selbst ins Gesicht.
Vacek war vollkommen überrascht, als er seinen Doppelgänger entdeckte. Die Wachen blickten von einem zum anderen und es war ihnen anzusehen, dass sie die Situation überforderte. Gora reagierte zuerst. Sie riss die Waffe heraus und zielte auf Vacek.
„Nehmt meinem Doppelgänger sofort die Waffe ab!“, forderte sie.
Die Männer zögerten. Vacek zog nun ebenfalls seine Waffe.
„Ich bin echt. Das ist der Doppelgänger!“, rief er.
„Wir sind uns nicht sicher ...“, begann einer der Wachen.
„Hört nicht auf diesen Mann!“, rief Gora, „Er will das Schiff an sich reißen! Nehmt ihn fest, sofort!“
Ein Teil der Männer zielte nun auf Gora, der andere Teil auf Vacek. Niemand hatte auf das Mädchen Ina geachtet, die noch immer im Gang stand und die Szene ängstlich verfolgte. Sie hatte sich fest vorgenommen, während dieses Fluges keine Gedanken mehr zu lesen, doch gegen diese Intensität in ihrer unmittelbaren Nähe konnte sie sich nicht wehren. Entsetzt stellte sie fest, dass einer der Kommandanten, die im Gang standen, der Mörder war, dessen Gedanken sie aus dem Gepäckraum gehört hatte.
Voller Entsetzen zeigte sie mit ihrer Hand auf Gora, die dies aus den Augenwinkeln bemerkte. Sie wandte sich dem Kind zu, das sie mit weit geöffneten Augen ansah.
„Du bist es“, sagte Ina, „du hast die bösen Gedanken. Du hast Menschen umgebracht.“
Gora hatte nicht vorgehabt, dieses Kind zu töten, aber sie konnte nicht ahnen, dass dieses kleine Mädchen eine Telepathin war. Jetzt konnte sie keine Rücksicht mehr nehmen. Mit einer Spur von Bedauern richtete sie ihre Waffe auf Ina.
Vacek war schneller. Immer wieder drückte er auf den Auslöser seiner Laserwaffe, bis diese signalisierte, dass das Magazin verbraucht war.
Gora begann zu schwanken. Mit einem gequälten Grinsen schwenkte sie ihre Waffe zu Vacek hinüber. Bevor sie abdrücken konnte, entfiel sie ihren Händen.
Ein Gestaltwandler kann zwar seine Gestalt frei bestimmen, doch ist er immer so empfindlich, wie die Gestalt, die er gewählt hat. Ein Mensch kann es nicht überleben, wenn er von über einem Dutzend Laserschüssen getroffen wurde, genau so wenig kann es ein Gestaltwandler, der in menschlicher Gestalt umher läuft. Langsam brach Gora zusammen. Ihr Blick trübte sich. Sie spürte, dass sie die Gewalt über ihren Körper verlor.
Ihre Körperformen begannen sich aufzulösen und kurze Zeit später lag ein humanoides Wesen mit geschuppter Haut und geschlitzten roten Augen vor ihnen. Es atmete röchelnd und man sah ihm an, dass es mit dem Tode rang.
Gora wusste, dass sie verloren hatte. Die Verletzungen waren einfach zu groß. Die Schmerzen waren zwar auszuhalten, doch sie spürte, wie ihre Kraft mit jedem Atemzug schwächer wurde. Gern hätte sie ihren Artgenossen noch eine Nachricht zukommen lassen, um sie zu warnen. Diese Menschen waren cleverer, als sie es immer gedacht hatten. Niemals hätte sie gedacht, dass es ausgerechnet die Menschen waren, an denen sie einmal scheitern würde. Sie hatte sie vollkommen unterschätzt. Sie hoffte, dass es ihren Artgenossen, die sich unter die Menschen gemischt hatten, nicht ebenso erging.
„Diese dummen Menschen“, dachte sie noch, „jetzt haben sie mich doch noch erwischt.“
Dann wurde es dunkel um sie.
„Was ist das für ein Wesen?“, fragte Vacek, „Hat irgend jemand von euch schon einmal ein solches geschupptes Wesen gesehen?“
Die Männer verneinten. In dem von Menschen bewohnten Teil des Weltraums war man noch nie einer solchen Spezies begegnet.
Ina hielt sich am Bein Vaceks fest und starrte auf das tote Geschöpf am Boden.
„Sie hieß Gora“, sagte sie, „und sie dachte an andere Wesen ihrer Art, die unter uns leben sollen. Mehr weiß ich nicht.“
Vacek nahm Ina beiseite.
„Ina, du musst dir das jetzt nicht ansehen“, sagte er, „es war ein böses Wesen, aber es kann uns nun nicht mehr gefährlich werden – dank dir, Ina und dafür möchte ich dir danken. Ich bin froh, dass du im entscheidenden Moment bei uns warst.“
Ina strahlte ihn an.
„Danke. Das hat mir bisher noch niemand gesagt, dass er froh war, dass ich da war. Die Meisten haben Angst vor mir.“
Vacek nahm Ina kurz in den Arm. „Ich habe keine Angst vor dir, Ina. Ich habe Dich gern. Aber jetzt sollten wir wieder zu deiner Kabine zurückgehen. Deine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen, weil du so lange weg bist.“
Ina lächelte und ergriff Vaceks Hand.
Hand in Hand liefen sie zurück in den Passagierbereich – Vacek, der Kinderhasser und Ina, die Außenseiterin mit der besonderen Begabung.
Michael Stappert, Alle Rechte vorbehalten (C) 2008