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Wenn einer eine Reise tut ... Iguaçu
Ich schrecke aus meinem Schlaf auf. Immer wieder fallen mir die Augen zu. Ich bin einfach schon viel zu lange unterwegs. Die Sitze in der kleinen Propellermaschine lassen selbst mir nur begrenzte Beinfreiheit. Trotzdem versuche ich, mich etwas zu strecken, die Glieder etwas zu beleben.
Der Prospekt, in dem ich gelesen habe, ist heruntergefallen. Als ich ihn aufhebe, bemerke ich, dass der Fluggast neben mir mich anstarrt. Es ist mir unangenehm und ich tue so, als hätte ich es nicht bemerkt.
Wieder frage ich mich, wann diese Reise endlich zu Ende geht. Freiwillig wäre ich sicher niemals allein hierher geflogen, doch was tut man nicht alles für die Liebe. Unwillkürlich muss ich lächeln. Bald würde ich endlich Peter wiedersehen. Peter, mit dem ich nun schon seit zwei Jahren zusammen bin. Trotzdem haben wir uns schon seit Monaten nur über Videochat gesehen, und das nur, weil er Water-Science studiert hat und die wirklich gut bezahlten Jobs für Masterabsolventen im Ausland liegen.
Wie habe ich mich für ihn gefreut, als er mir erzählt hat, er habe einen Job angenommen und würde damit so viel verdienen, dass wir bald unsere gemeinsame Zukunft planen können. Doch dann ist er damit herausgerückt, dass die Arbeitsstätte in Itaipu ist.
Itaipu! Ich habe erst googeln müssen, um herauszufinden, wo es ist und was es damit auf sich hat. Es ist sicher nicht gerecht gewesen, aber es war der erste richtige Streit zwischen uns, und ja, er ist von mir ausgegangen. Zu diesem Zeitpunkt ist Peter etwas über ein Jahr mein Freund gewesen und er hat von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen. Und dann will er in Itaipu arbeiten? Das ist - verdammt nochmal – irgendwo in Brasilien, an der Grenze zu Paraguay. Muss mir das gefallen? Ich denke nicht.
Und Peter erzählt mir leuchtenden Augen davon, dass es eines der größten Wasserkraftwerke der Welt ist und der Job ihm Aufstiegschancen biete, die er in Deutschland so schnell nicht bekommen würde.
Was soll ich sagen? Am Ende habe ich ihm sogar zugeredet, den Job anzunehmen. Wehgetan hat es trotzdem, ihn längere Zeit nicht sehen, ihn zu spüren ...
Wie habe ich mich gefreut, als er angerufen und mir erzählt hat, er habe Flüge für mich gebucht, damit ich ihn in Brasilien besuchen kann. Meine Eltern sind ausgerastet, als ich ihnen davon erzählt habe. Vater hat sogar versucht, es mir zu verbieten. Allein als junge Frau in diese Gegend reisen? Aber schließlich bin ich schon erwachsen und habe es mir nicht ausreden lassen.
Inzwischen bin ich seit mehr als vierundzwanzig Stunden unterwegs. Erst von Frankfurt nach Madrid, von dort weiter nach Buenos Aires und jetzt auch noch mit einer kleinen Propellermaschine der Aerotraffico Argentina nach Foz do Iguaçu, direkt am Paraná. Peter wohnt dort in einer kleinen Pension, die ihm von seiner Firma zur Verfügung gestellt wird.
Ich schaue aus dem Seitenfenster. Zum Glück habe ich wenigstens einen Fensterplatz. Die ganze Zeit über fliegen wir über dicht bewaldeten Regenwald. Die Schwüle und Feuchte der Luft kriecht bis in die Passagierkabine des Flugzeugs. Das Atmen ist anstrengend und jede Bewegung ist schweißtreibend. Ich wende mich vom Fenster ab zum Mittelgang und blicke direkt in die Augen meines Sitznachbarn, der mich anlächelt. Oder ist es eher ein Grinsen? Will er mich anmachen? Der Kerl geht mir auf die Nerven. Wann immer mein Blick in seine Richtung geht, bemerke ich, wie er mich anstarrt. Oder bilde ich mir nur ein, dass er mir dauernd auf meine nackten Beine und meine Bluse starrt? Ich mache ein abweisendes Gesicht und wende den Blick ab.
Obwohl es so heiß ist, wünsche ich mir jetzt, ich hätte körperbedeckende Kleidung angezogen. Wäre die Maschine nicht voll besetzt, hätte ich mir am liebsten einen anderen Sitzplatz zuweisen lassen. Demonstrativ blicke ich wieder aus dem Fenster, auch wenn dort nur eine weite grüne Fläche zu sehen ist. Soweit ich gelesen habe, führt die Flugroute direkt über die Fälle des Iguaçu. Der Anblick soll überwältigend sein. Aktuell ist davon jedoch noch nichts zu sehen.
Der Gaffer neben mir spricht mich plötzlich an. Es ist portugiesisch und ich verstehe kein Wort. Ich schüttele den Kopf und hoffe, dass er seine Kontaktversuche endlich aufgibt.
Die Flugbegleiterin kommt vorbei und bietet Erfrischungen an. Ich deute auf eine Coke und nehme sie dankend entgegen. Erfreut stelle ich fest, dass sie gekühlt ist. Der Mann mustert mich wieder.
»Você é alemão?«, fragt er, überlegt einen Moment und fragt noch einmal: »Du sind deutsch?«
Jetzt bin ich verblüfft. Eben noch hätte ich ihn auf den Mond gewünscht, doch ich bin einfach zu neugierig. »Sie sprechen deutsch?«
Er zeigt mit Daumen und Zeigefinger einen kleinen Abstand. »Nur eine kleine Stück. Ich habe studiert etwas in Munich … äh, München. Sie sehr schön, sie wissen?«
Meine Miene verhärtet sich sogleich wieder. Der Kerl ist einfach unmöglich. Hoffentlich sind wir bald am Ziel.
»Ich bin nicht interessiert!«, sage ich unfreundlich. »Lassen Sie mich in Ruhe!«
»Oh, Sie mich nicht missverstehen«, sagt der Mann und ich muss bei dieser Formulierung unwillkürlich lachen.
»Nicht oft blonde junge Frau in diese Gegend. Was Sie machen hier?«
»Wenn Sie es genau wissen wollen – ich besuche meinen Freund, der hier beim Kraftwerk in Itaipu arbeitet.«
»Deutscher Freund?«
»Sicher, deutscher Freund«, antworte ich.
»Als was arbeiten Freund?«
»Er hat in Deutschland Water-Science studiert und arbeitet als Ingenieur beim Kraftwerk.«
Der Mann überlegt kurz. »Da mir nur fällt ein Peter Sowinski.«
»Sie kennen meinen Peter?«, frage ich aufgeregt.
»Sicher. Guter Kollege. Wasseringenieur. Hat erzählt, er warten auf Besuch. Muss gestehen, auf dir ich hätte auch gerne gewartet.«
Ich schmunzle. So ein Ekel, wie ich zunächst gedacht habe, ist mein Sitznachbar gar nicht. Gut, er wirft mit Komplimenten um sich, aber er scheint zumindest nichts von mir zu wollen.
»Wie heißen Sie?«, frage ich ihn, »Mein Name ist Lena – Lena Topmöller.«
Der Mann strahlt mich mit breitem Lächeln an und reicht mir seine Hand.
»Carlos Montega, Ingeniero eléctrico aus Sao Paolo. In Augenblick ich wohnen aber in Foz do Iguaçu – in selbe Haus wie Pedro … Peter.«
Ein Schlag scheint das Flugzeug zu erschüttern und das Motorengeräusch verändert sich.
»Was war das?«, frage ich erschreckt.
»Kein Ahnung«, sagt Carlos beunruhigt, »vielleicht Luftloch. Wir fliegen über Fälle von Iguaçu.«
Ein weiterer Schlag trifft die Maschine und für einen Moment macht sich ein unangenehmes Gefühl des Fallens im Magen breit. Carlos greift nach meiner Hand. Ich will sie ihm entziehen, doch er hält sie mit eiserner Kraft fest. Ich blicke in seine Augen und sehe, dass er Angst hat.
»Nicht böse sein«, sagt er. »Ich haben schon immer Flugangst. Jetzt Nähe brauchen.«
»Ist schon gut. Halten Sie ruhig meine Hand«, antworte ich, während Carlos an mir vorbei aus dem Fenster blickt. Auch ich bin beunruhigt, wage aber nicht, ihm das jetzt zu zeigen.
Er deutet mit dem Kopf. »Nein, ist nichts gut.«
Ich drehe mich herum und mein Blick folgt seinem. Sofort weiß ich, was er meint. Der rechte Propeller stottert und dichter Qualm dringt aus dem Gehäuse des Motors. Auf einmal bin ich froh, dass Carlos meine Hand hält.
Die Flugbegleiterin läuft hektisch durch die Reihen und versucht, die Fluggäste zu beruhigen. Sie macht dabei allerdings selbst keinen zuversichtlichen Eindruck.
»Wir sind in einen Vogelschwarm geraten«, erklärt sie auf englisch, als sie bei uns angelangt ist. »Der rechte Motor könnte ausfallen, aber der Captain sagt, dass wir es auch mit einem Motor bis Puerto Iguazú schaffen. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist nicht mehr weit.«
»Und wenn der andere Motor auch noch ausfällt?«, fragt Carlos ängstlich.
Die Flugbegleiterin legt ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich bin diese Route schon so oft geflogen, aber es ist das erste Mal, dass wir dabei in einen Vogelschwarm geraten sind. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn ...«
Ein weiterer Schlag trifft die kleine Maschine und lässt die Frau beinahe in den schmalen Gang stürzen. Nur mühsam kann sie sich auf den Beinen halten. Hektisch blickt sie aus dem linken Fenster, wobei ihr ein »Madre mia« herausrutscht.
Ich verstehe kein Spanisch oder Portugiesisch, aber bei diesem »Madre mia« richten sich meine Härchen im Nacken auf und es läuft mir eiskalt über den Rücken. Ich schaue Carlos an und sehe nur noch Angst. Auch ich fühle mich wie gelähmt.
Das Flugzeug schüttelt sich in einem fort. Beide Motoren sind angeschlagen und der Rechte läuft allmählich aus, qualmt aber noch immer stark. Aus dem Cockpit, dessen Tür offen steht, hören wir den Piloten fluchen und hektisch reden. Vermutlich versucht er, die Bodenstation des nahegelegenen Flughafens zu informieren.
Carlos und ich schauen ängstlich aus dem Seitenfenster. Es ist mir völlig gleich, dass er mir dabei sehr nahe kommt. Dem grünen Dach der Bäume sind wir schon um einiges näher gekommen. Ich drücke nun fest Carlos Hand und bin froh, einen Gleichgesinnten bei mir zu haben. Die Landschaft verändert sich plötzlich und ein Flusslauf taucht unter uns auf. Der Pilot passt seinen Flug dem Flusslauf an, bei dem es sich nur um den Iguaçu handeln kann.
»Wir es nicht schaffen bis Puerto Iguazú«, sagt Carlos, »Maschine zu tief.«
»Meinen Sie?«
Er nickt. »Ich fliege oft diese Route. Wir zu tief und Motoren kaputt.«
Ich sehe ihn an. »Ich hab auch Angst.«
Carlos drückt verständnisvoll meine Hand und nickt. »Wir gegenseitig uns aufpassen, okay?«
»Ja, das machen wir«, flüstere ich mit erstickter Stimme.
Die Flugbegleiterin, die kurz im Cockpit gewesen ist, stürzt heraus und fordert uns alle auf, die Schwimmwesten überzuziehen, da wir auf dem Iguaçu wassern müssten. Alle sollen sich anschnallen und den Kopf auf die Knie legen.
Carlos beginnt, leise zu murmeln.
»Was tun Sie da?«, frage ich.
»Ich bete«, antwortet Carlos, »Sie sollten auch tun.«
Ich habe nie viel mit Glauben und Kirche zu tun gehabt, doch vielleicht hat Carlos ja recht. Unhörbar formen meine Lippen die Gebete aus meiner Kindheit, von denen ich geschworen hätte, sie längst vergessen zu haben.
Das Flugzeug gleitet inzwischen fast antriebslos knapp über der Wasseroberfläche dahin und setzt dann auf. Es gibt einen gewaltigen Ruck und der Sicherheitsgurt schneidet mir schmerzhaft ins Fleisch. Für einen Moment habe ich den Eindruck, als habe sich das Gefühl für oben und unten verschoben, doch dann normalisiert es sich wieder. Der Pilot hat es geschafft, dass sich der Rumpf im Fluss nicht zu sehr aufrichtet und dadurch zerbricht. Trotzdem werden wir heftig durchgeschüttelt und ziehen uns einige Prellungen zu. Dann wird es still. Die Maschine ist zum Stillstand gekommen. Das alles beobachte ich wie durch einen Nebel, irgendwie unbeteiligt. Das passiert doch nicht wirklich mir ...
»Bitte schnallen Sie sich jetzt ab«, fordert die Flugbegleiterin uns auf und reißt mich damit aus meiner Lethargie. »Wir werden zunächst abwarten, ob die Maschine sich mit Wasser füllt. Wenn nicht, werden wir hier auf die Hilfe warten, die uns von Puerto Iguaçu zugesagt wurde. Wenn das Flugzeug allerdings versinkt, müssen wir aussteigen.«
»Wo genau sind wir eigentlich?«, fragt ein Mann aus den hinteren Reihen.
»Das ist genau das Problem. Wir sind hier schon sehr nah an den Katarakten und wenn wir still sind, können wir das Tosen sogar schon hören. Die Strömung ist an dieser Stelle bereits recht stark. Wenn wir aussteigen, haben wir nur eine Chance, wenn wir einen der Felsen anpeilen, die hier überall aus dem Wasser ragen, und uns daran irgendwie festhalten, bis Hilfe kommt.«
»Wir sollen uns an Felsen festhalten?«, frage ich entgeistert. »Wie sollen wir das denn machen?«
Nachdem die Maschine jetzt nicht mehr in der Luft ist, erscheint mir Carlos deutlich ruhiger zu sein, obwohl wir noch lange nicht aus dem Schneider sind und ... Ich darf gar nicht darüber nachdenken. Da fliege ich um den halben Erdball, um Peter endlich wiederzusehen und dann ... Scheiße ich bin doch erst dreiundzwanzig. Mir wird lähmend bewusst, dass ich vielleicht meine letzten Minuten oder Stunden erlebe. Ich sollte jetzt Pläne schmieden, irgendetwas tun, aber es geht nicht. Ich hocke in meinem Sitz und starre leer vor mich hin, zu nichts fähig.
Carlos beugt sich zu mir herüber. »Ich werde aufpassen auf dich, Lena. Du werden Peter treffen. Ich verspreche.«
»Wie willst du mir so etwas versprechen?«, fahre ich ihn an. »Erzähl mir doch nicht so einen Scheiß! Wenn wir aussteigen müssen, brauchen wir einen Felsen, an dem wir uns festhalten können! An einem Felsen? Hallo? Wir werden draufgehen!«
»Du musst glauben.«
»Was soll ich denn glauben?«, frage ich ihn.
»Ich gehört, dass du auch hast gebetet«, sagt er sanft. »Vorhin, vor Notlandung. Du musst glauben und wir müssen vertrauen. Ich dir. Du mir. Wir schaffen zusammen.«
Ich schüttle den Kopf und hoffe, dass wir in der Maschine abwarten können, bis die Rettungsmannschaften eintreffen.
Bereits nach wenigen Minuten wird klar, dass Wasser ins Flugzeug eindringt, als meine Füße nass werden. Kurz darauf gibt der Captain das Kommando zum Aussteigen. Einer nach dem anderen lässt seine Schwimmweste automatisch aufblasen und springt in die Fluten. Schnell werden sie von der Strömung fortgetragen. Ob sie wirklich einen Felsen finden, an dem sie Halt finden? Ob ich einen solchen Felsen finden, ihn auch noch treffen werde? Meine Knie sind weich wie Pudding. Ich wünsche mir, dass alles nur ein Alptraum ist, doch ich wache einfach nicht auf.
Als ich an der Reihe bin, reicht Carlos mir ein Seilende. »Hier, um Körper binden – so wir uns nicht verlieren und haben bessere Chancen.«
»Wo hast du das her?«, frage ich.
»Ich nicht weiß, wieso, aber ich immer schleppe etwas Seil, Draht und Werkzeug mit mir in Tasche«, antwortet er. »Ist Tick von mir.«
Schnell binde ich es um meinen Körper und Carlos prüft den Knoten, den ich mache. Anerkennend nickt er und reckt den Daumen nach oben.
»Ich hab mal einen Segelkurs gemacht«, erkläre ich.
Wir fassen uns an den Händen und springen gemeinsam. Das Wasser ist zwar nicht warm, aber auch nicht so kalt, dass wir eine Unterkühlung fürchten müssen. Unser einziger Gegner ist die Strömung, die uns unerbittlich zum Wasserfall trägt. Die Schwimmwesten sorgen zwar dafür, dass wir nicht untergehen, sie verhindern aber nicht, dass uns ständig Wasser ins Gesicht schwappt und wir dauernd Wasser schlucken müssen.
»Wir brauchen ein Hindernis, an dem wir uns festhalten können!«, brülle ich so laut ich kann, damit Carlos es versteht. An mehreren Felsen sind bereits vorbeigetrieben, ohne eine Chance, dort Halt zu finden. Mit jedem Augenblick, den wir länger im Fluss sind, erhöht sich unsere Geschwindigkeit und sinkt unsere Chance, irgendwo Halt zu finden.
Einige der übrigen Reisenden haben Glück gehabt und sind vor einen Felsen gespült worden. Manche hocken oben auf einem solchen Felsen und warten auf Rettung. Nur uns beiden will es einfach nicht gelingen. Nach kurzer Zeit nimmt die Zahl der Felsen ab und die Strömungsgeschwindigkeit steigt. Es ist nicht mehr weit bis zum Katarakt. Wenn es uns nicht gelingt, doch noch irgendwo Halt zu finden, würden die Fälle des Iguaçu unser Ende bedeuten.
Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das Leben in einer solchen Situation wie ein Film an einem vorbeizieht. Schwachsinn! Ich bin nur mit Luftholen, herumbrüllen und panischer Suche nach einem Halt beschäftigt. Kein Plan, keine Idee, keine Hoffnung. Hin und wieder sehe ich Carlos, wie er hektisch nach Luft schnappt. Ich weiß, dass es das Ende ist.
Aus dem Augenwinkel entdecke ich den ersten Helikopter über uns kreisen. Carlos wedelt mit seinen Armen, so gut er kann, doch der Hubschrauber fliegt weiter.
Als wir schon aufgegeben haben, geschieht das Unglaubliche: Wir treiben links und rechts an einer Baumwurzel vorbei, die aus dem Wasser ragt, und verfangen uns mit unserem Seil daran. Die Strömung treibt uns hinter dem Baum zusammen, doch das Seil hält. Wasser klatscht uns mit einer Kraft gegen unsere Körper, die es fast unmöglich macht, die Köpfe oben zu halten. Nach einer Weile kann ich einfach nicht mehr und verliere das Bewusstsein.
Als ich wieder zu mir komme, höre ich gleich einen ohrenbetäubenden Lärm. Es ist die Turbine eines Helikopters, wie ich sehe, als ich die Augen öffne. Jemand hält mich im Arm. Ich lege meinen Kopf in den Nacken und blicke nach oben. Es ist Carlos, der mich hält, als wolle er mich gegen alles verteidigen und mich beschützen.
Ein Mann in einem orangefarbenen Overall kniet sich neben mich und fühlt meinen Puls. Er fragt irgendetwas, doch ich kann ihn nicht verstehen. Carlos übersetzt. »Er will wissen, ob Schmerzen.«
Ich schüttle den Kopf. »Nein, ich bin nur erschöpft und mir ist kalt.«
Carlos spricht mit dem Mann im Overall eine Weile und schließlich wendet er sich ab und kümmert sich um eines der anderen Opfer. Erst jetzt sehe ich, dass noch eine Reihe weiterer Menschen an Bord sind.
»Was hat der Mann noch gesagt?«, will ich wissen.
Er lächelt mich sanft an. »Er sagt, ich habe dir Leben gerettet. Aber er übertreiben.«
Ich versuche, mich etwas aufzurichten, doch es ist keine gute Idee. Ich spüre ein Stechen in meinem Kopf. »Du hast mich gerettet? Was ist geschehen? Ich weiß noch, dass wir an diesem Baum hängen geblieben sind. Danach weiß ich nichts mehr.«
»Du hast Bewusstsein verloren«, sagt er. »Ich immer wieder deinen Kopf über Wasser gehalten. Dann endlich kam Hubschrauber und hatte Rettungsschlinge für mich. Aber du bewusstlos. Also hab ich dich gehalten, bis wir beide sind in Hubschrauber. Konnte und wollte Lena nicht loslassen. Das ist alles.«
»Das ist alles?«, frage ich. »Carlos, ich verdanke dir, dass ich noch lebe.«
»Ist übertrieben. Habe gemacht, was nötig ist. Bin kein Held. Viel zu viel Angst für Held.«
»Für mich bist du ein Held«, sage ich und richte mich ein Stück auf, setze mich neben ihn. »Haben wir es tatsächlich geschafft?«
Carlos nickt und lächelt. »Du bist bald bei deinem Peter.«
»Ja«, sage ich und lehne mich gegen ihn. »Und du kannst es nennen, wie du willst, aber ich habe dir mein Leben zu verdanken.«
»Weiß nicht«, antwortet er, »Hatten Glück. Und Peter hat Glück, dich zu haben. Se eu tivesse um desejo, seria conhecer uma mulher que fosse como você.«
»Was bedeutet das?«, frage ich.
Er lächelt. »Wenn ich einen Wunsch hätte, dann irgendwann eine Frau treffen, die ist wie du.«
Ich beuge mich zu ihm hinüber und küsse ihn. Es wird ein langer, zärtlicher Kuss und ich verspüre keinerlei schlechtes Gewissen dabei. In diesem Augenblick fühlt es sich einfach richtig an. Carlos erwidert diesen Kuss und ich fühle mich bei ihm einfach nur geborgen.
»Halt mich fest«, bitte ich ihn und Carlos legt behutsam seinen Arm um mich.
So sitzen wir, bis der Flughafen in Sicht kommt und wir zur Landung ansetzen.
»Wie geht es jetzt weiter?«, frage ich.
»Wie schon? Du gehst zu Peter. Du liebst ihn. Er liebt dich. Er macht glücklich dich. Und wenn nicht, dann großen Ärger mit Carlos.«
Ich lache. »Du bist schon ein verrückter Kerl. Ich mag dich. Dabei hab ich erst gedacht, du wärst ein zudringlicher Kerl, der mir an die Wäsche will.«
»Ich ganz sicher nicht zudringlich. Aber ich bin ein Mann und bin mir bewusst, wenn neben mir ist eine schöne Frau. Nicht böse sein.«
»Ich bin dir nicht böse.«
Carlos wird auf einmal ernst. »Gleich wir werden landen. Ich werde dann verschwinden. Einer von den Rettungswagen wird sicher mich mitnehmen über Brücke nach Foz do Iguaçu auf brasilianische Seite. Aber du musst suchen Peter. Ich wünsche dir schönen Urlaub mit ihm. Du bist toll.«
Er gibt mir noch einen letzten Kuss, als der Helikopter aufsetzt und die Rotorblätter allmählich zum Stillstand kommen. Ich fühle mich verwirrt und irgendwie zwiegespalten. Die Ereignisse überschlagen sich auf einmal. Die Tür wird geöffnet. Menschen springen aus der Maschine, Sanitäter kommen herein. Es ist ein furchtbares Gewimmel und wir werden getrennt. Ich springe ebenfalls aus dem Helikopter und halte Ausschau nach Carlos, mit dem ich ein unfreiwilliges Abenteuer geteilt habe, das uns nun verbindet, kann ihn jedoch nicht mehr entdecken.
Auf einmal werde ich von hinten gepackt und herumgeschleudert. »Lena, mein Schatz! Ich hatte solche Angst um dich!«
Es ist Peter und ich falle ihm spontan um den Hals. Die monatelange Trennung, das eben überstandene Abenteuer ... alles tritt in diesem Augenblick in den Hintergrund. Ich spüre ihn, fühle seine Küsse und es ist wie ein Nachhausekommen.
Ich löse mich aus seinen Armen und blicke ihn an. »Wo kommst du eigentlich so schnell her?«
Peter strahlt mich an. »Als ich vom Absturz hörte und man im Radio berichtete, dass man in Puerto Iguazú eine Sanitätsstation am Hubschrauberlandeplatz einrichtet, bin ich gleich über die Grenze gefahren. Ich musste hier sein, wenn du ankommst.«
»Ich bin so froh, dass ich das überstanden habe«, sage ich und blicke mich suchend um. Carlos kann ja noch nicht weit gekommen sein. Ich entdecke einige Krankenwagen, die sich auf den Weg zur Brücke nach Brasilien machen.
»Was hast du, Liebes?«
»Ein Mann hat mir geholfen«, sage ich. »Ohne ihn hätte ich den Iguaçu sicher nicht überlebt. Ich weiß gar nicht, wo er geblieben ist. Er sagte, er kennt dich.«
»Er kennt mich?«, fragt Peter verblüfft. »Kennst du seinen Namen?«
»Carlos Montega heißt er. Er war sehr nett.«
Peter schüttelt ungläubig den Kopf. »Carlos hat dich gerettet? Das ist ein guter Freund von mir. Wir arbeiten zusammen im Kraftwerk. Er wohnt in derselben Pension wie ich. Mensch, das müssen wir zusammen feiern. Ich muss dich unbedingt mit ihm bekannt machen.«
In diesem Moment entdecke ich ihn. Er sitzt auf dem Beifahrersitz eines der Krankenwagen und scheint mich direkt anzusehen. Ich hebe wie zufällig meinen Arm und mein Herz macht einen Satz, als er dasselbe tut, bevor sein Wagen die Brücke erreicht.
»Ja, das musst du unbedingt machen«, sage ich leise und blicke gedankenverloren zur Brücke über den Fluss, über den soeben ein Krankenwagen nach Foz do Iguaçu rollt. »Ich würde ihn gern näher kennenlernen.«