Harmonie

 

Als die Packung mit den Schokoladenstreuseln zu Boden fiel und sich die feinen Streusel über den gesamten Boden der Küche verteilten, warf Lisa einen erschreckten Blick zur Wanduhr, die über der Tür zur Diele hing. Nur noch zehn Minuten, bis Markus nach Hause kam, vielleicht auch weniger. Sie wusste, dass Markus es hasste, wenn die Wohnung unordentlich war, wenn er von der Arbeit heimkam. Sie hatte keine Lust auf die Szenen, die er ihr wieder machen würde, wenn er ihr Malheur mitbekam.
In Windeseile fegte sie alles zusammen und beseitigte den Rest mit dem Sauger. Durch den Lärm bekam sie nicht mit, wie ihr Mann die Wohnungstür öffnete und hereinkam.
»Was ist denn hier schon wieder los?«, polterte er los. »Hast wohl den Hintern heute Morgen nicht aus dem Bett bekommen, dass du jetzt noch staubsaugen musst!«
Lisa spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen. »Ich bin aber gleich fertig. Du kannst auch gleich essen. Ich hab uns was Leckeres gekocht. Du kannst dich schon mal ins Wohnzimmer setzen und entspannen.«
»Na ja«, knurrte er. »Wenigstens das Essen hast du fertig. Ich will hoffen, dass es nicht wieder so ein Fraß ist wie neulich.«
»Schatz, wie kannst du so was sagen? Der Braten war doch genau auf den Punkt, und auch das Gemüse noch richtig bissfest.«
Markus winkte ab. »Ach lass mich mit deinem ’Schatz' in Ruhe. Du weißt genau, dass ich mit diesem ganzen Grünzeug nichts anfangen kann. Na, ich werd dein Zeug schon irgendwie runterbekommen. Ist noch Bier da?«
»Ich hab dir extra eine Flasche in den Kühlschrank gestellt.« Lisa lächelte ihn an.
Er nickte. »Gut. Ich bin dann im Wohnzimmer. Du kannst mir das Bier dann gleich bringen. Und leg mir die Tageszeitung dazu.«
»Kannst du dir das Bier nicht mitnehmen? Du stehst doch direkt neben dem Kühlschrank ...«
»Das ist wohl ’n Witz, oder? Wozu bin ich denn verheiratet? Da kann ich als Mann doch erwarten, dass meine Frau mir nach einem langen Tag mein Bier und meine Zeitung bringt. Oder taugst du dazu etwa auch nicht? Den ganzen Tag auf der faulen Haut liegen und mich dann mit solchen Nichtigkeiten belästigen. Du bringst mir mein Bier und fertig ... und die Zeitung nicht vergessen. Du willst doch nicht, dass ich mich aufrege, oder?«
Lisa schüttelte stumm den Kopf. Nein, sie wollte gewiss nicht, dass er sich noch zusätzlich aufregte. Erst kürzlich hatte er ihr eine Ohrfeige gegeben, weil sie eine seiner Anweisungen missachtet hatte. Es hatte wehgetan. Sie verstand ihn ja. Er hatte keinen leichten Job und er brauchte eben einen Ausgleich dazu. Markus war nie ein romantischer Typ gewesen - auch nicht, als sie noch nicht verheiratet gewesen waren. Aber er hatte gut ausgesehen und sich für sie interessiert. Wenn man nicht mit dem Aussehen eines Models gesegnet ist, hat man als Frau nicht sehr viele Gelegenheiten, sich einen Mann zu angeln, und es war für sie immer klar gewesen, irgendwann zu heiraten.

Markus war ein ’Macher'. Immer hatte er ganz klare Vorstellungen davon, wie etwas zu laufen hatte. Diese Sicherheit hatte sie immer bewundert, und mit ihm an ihrer Seite fühlte sie sich ... irgendwie vollständiger. Ihre beste Freundin Angela hatte ihr damals den Rat gegeben, Markus nicht zu heiraten, aber damals hatte sie gedacht, sie wäre nur eifersüchtig.
»Wo bleibt mein Bier?«, tönte es aus dem Wohnzimmer. »Und ich hab Hunger! Bring mir was von dem Zeug aus der Küche, bevor es nicht mehr genießbar ist.«
Lisa beeilte sich, ihm Fleisch, Gemüse und Kartoffeln ansprechend auf einem Teller zu präsentieren und öffnete eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Anschließend brachte sie Markus beides.
»Hier dein Essen. Ich wünsche dir einen guten Appetit. Möchtest du, dass ich dir beim Essen Gesellschaft leiste?«
Markus sah sie an. »Ist mir egal.«
Sein Blick wanderte suchend über den Tisch. »Soll ich das Zeug etwa mit den Fingern essen? Hol mir gefälligst Besteck ... und ein Glas. Oder soll ich etwa aus der Flasche trinken?«
»Entschuldige Schatz, hab ich vollkommen vergessen. Ich bringe es dir gleich.«
»Du meinst wohl ’sofort'. Oder soll der Fraß etwa kalt werden?«
Eilig hastete sie in die Küche und holte die fehlenden Sachen. Markus nahm sie ihr grob aus der Hand und schaltete mit der Fernbedienung das TV-Gerät ein. »Wurde auch Zeit. Irgendwann vergisst du noch deinen eigenen Kopf.«
Lisa kehrte in die Küche zurück und atmete ein paar Mal tief durch. Es tat ihr nicht gut, dass Markus sie oft behandelte wie ein Stück Dreck. Andererseits hatte er seinen Job und sie war ’nur' Hausfrau. Eigentlich hätte sie gern einen Beruf ausgeübt, aber Markus war dagegen gewesen. Er hatte eine Frau gewollt, die ihm ein gemütliches Heim bereitete und so hatte sie darauf verzichtet, arbeiten zu gehen. Wie sich herausstellte, war die Arbeit innerhalb der Wohnung ausreichend genug, um die Ansprüche ihres Mannes zu erfüllen.
»Das wäre mir nicht genug«, sagte Angela immer wieder, bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sich trafen. Meist geschah das in einem nahe gelegenen Café, da Markus es nicht gern sah, wenn Lisa Gäste hatte. Er reagierte einfach ausgeglichener, wenn außer ihr niemand da war. Sie liebte es, wenn er ausgeglichen war. Dann war er manchmal auch nicht so grob zu ihr, und wenn es richtig gut lief, kamen sie unter Umständen auch mal im Bett zusammen.
»Willst du das Geschirr nicht langsam abräumen? Oder muss ich den ganzen Abend hier vor diesen Trümmern sitzen?«
Lisa eilte ins Wohnzimmer. »Entschuldige, ich hab nicht mitbekommen, dass du mit dem Essen fertig bist. Hat es dir geschmeckt?«
»Schlecht geworden ist mir davon nicht, wenn du das meinst. Aber ich weiß ja, dass du keine besonders gute Köchin bist. Ich bin satt geworden.«
Sie griff den Teller und war froh, dass er wenigstens aufgegessen hatte. So war er zumindest nicht ganz unzufrieden mit ihr. Es war nicht leicht, ihn zufriedenzustellen, aber sie hatte sich daran gewöhnt. Sie hatte sich die Ehe damals ganz anders vorgestellt. Manchmal fragte sie sich, warum so viele junge Menschen so wild darauf waren. Okay, man gewöhnte sich daran. Man war nicht allein. War es nicht das, was zählte?«
»Ich will noch ein Bier!«, tönte es aus dem Wohnzimmer. »Hoffentlich steht hier bald noch eine Flasche ...«
Erschreckt überlegte Lisa, dass sie nur eine Flasche gekühlt hatte. Das würde ihm nicht gefallen. Schweigend öffnete sie eine ungekühlte Flasche und brachte sie ins Wohnzimmer.
»Das wurde auch Zeit«, sagte er und schüttete sich ein Glas ein, setzte es an die Lippen und trank einen Schluck. Seine Augen weiteten sich und er erhob sich von der Couch. Er versetzte Lisa eine schallende Ohrfeige. »Willst du mich vergiften, du Schlampe? Das ist kein Bier, sondern Pisse. Besorg mir vernünftiges Bier. Bier muss kalt sein!«
Er setzte sich wieder hin und starrte in den Fernseher. Lisa hielt sich die Wange, die höllisch brannte. Tränen traten ihr in die Augen. Sie hätte es wissen müssen. Markus hasste warmes Bier. Es war ihre eigene Schuld. Jetzt hatte sie nur eine Chance, die Stimmung wieder in Ordnung zu bringen: Sie musste ihm wenigstens eine gut gekühlte Flasche besorgen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass der Supermarkt an der Ecke noch geöffnet war. Im Bad betrachtete sie ihr Gesicht im Spiegel. Eine Wange war stark gerötet. Vorsichtig trug sie etwas Abdeck-Creme auf die gereizte Stelle, damit niemand sehen konnte, was mit ihr geschehen war.
Sie machte sich auf den Weg.

»Hey Lisa!«
Sie drehte sich um und vor ihr stand Angela, ihre beste Freundin.
»Dich hätte ich um diese Zeit nicht mehr im Supermarkt erwartet. Solltest du nicht bei deinem Mann sein?«
Die Bemerkung war sicherlich lustig gemeint, doch Angela schien zu bemerken, dass sie nicht gut ankam. »Lisa, was ist mit dir?«
Sie schüttelte den Kopf. »Was soll mit mir sein? Schön, dich zu sehen. Wir haben uns sicher seit zwei Monaten nicht mehr unterhalten.«
»Das stimmt«, sagte Angela nickend. »Du hast unsere Termine abgesagt, weil du Bedenken hattest, wegen Markus.«
»Genau. Er macht im Moment eine schwere Zeit durch. Der Job, weißt du?«
Angela presste die Lippen zusammen und sah Lisa einen Moment forschend an. »Was hältst du davon, wenn wir eine Tasse Kaffee zusammen trinken? Gleich um die Ecke ist doch ein Café. Ich lad dich ein.«
»Nein, ich muss zurück. Ich wollte nur ein Bier für Markus ...«
»Ein Bier.«
Lisa nickte. »Er trinkt abends immer ein Bier zum Entspannen. Ich hatte vergessen ...«
»Lisa, lass es ... Wir trinken jetzt einen Kaffee und reden. Ich hab das Gefühl, du hast es wirklich nötig.«
Sie setzten sich ins Café, und als die Bedienung ihnen die Getränke gebracht hatte, sagte Angela: »Du bist unglücklich. Das sehe ich dir auf zehn Meter Distanz an.«
»Wie kannst du das sagen?«
»Ich seh es dir halt an. Ich konnte Markus nie leiden - das weißt du. Ich hab dir damals schon gesagt, dass du ihn nicht heiraten darfst. Er behandelt dich nicht gut.«
»Ich weiß nicht, was du hast«, sagte Lisa. »Die Schmetterlinge im Bauch sind eben irgendwann weg. Oder fühlst du etwa noch dasselbe für Sven wie damals, als du ihn geheiratet hast?«
Angela wiegte ihren Kopf hin und her. »Nun, sicher nicht genauso wie damals, aber anders. Die erste Verliebtheit ist zwar weg, aber etwas Tieferes, Dauerhafteres ist entstanden. Bei dir habe ich allerdings den Eindruck, als wärst du mit Markus eigentlich noch nie richtig glücklich gewesen. Sag mir, dass es anders ist.«
»Was heißt glücklich? Ich versuche, ihm eine gute Frau zu sein. Ich bereite ihm ein gemütliches Heim und ich fühle, dass er mich braucht. Das kann nicht jede Frau von sich behaupten.«
»In der Ehe braucht jeder den Anderen. Das meine ich nicht. Ich spreche vom Glücklichsein. Macht Markus dich glücklich?«
»Angela, er hat es nicht leicht. Ich versuche, es ihm wenigstens zu Hause angenehm zu machen. Oft gelingt mir das, und dann geht es auch mir gut.«
Angela lachte freudlos. »Lisa, du warst schon immer harmoniesüchtig. Wärst du etwas mehr wie ich, hättest du deinen Pascha längst zum Teufel gejagt, oder hättest ihn verlassen.«
»Angela!«
»Was denn? Du verbiegst dich pausenlos für ihn. Ich darf nicht zu dir nach Hause kommen, weil Markus das nicht mag. Unsere Treffen fallen dauernd aus, weil Markus das nicht mag. Du tust alles, um es ihm recht zu machen. Und? Was tut er? Du bist harmoniesüchtig, meine Liebe. Kündige ihm die Freundschaft. Zwinge ihn, auch mal etwas zu tun. Dann wirst du erleben, wie er ist - ob ihm etwas an dir liegt.«
Lisa schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee. Markus ist ja jetzt schon ...«
»Was?«
»Ach nichts ...«
»Nein komm, jetzt sag schon: Behandelt er dich schlecht? Sag nicht, er schlägt dich auch.«
Lisa zögerte.
»Lisa? Er tut es wirklich?«
»Man kann es nicht schlagen nennen. Ich bin es ja auch selbst Schuld. Ich weiß ja genau, was er von mir erwartet und wenn ich dann schon mal etwas vergesse, wird er eben sehr ärgerlich.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Süße. Gewalt in der Ehe, das ist ... ich hab gar keine Worte dafür! Würde Sven mich auch nur ein einziges Mal schlagen, wäre ich weg, das garantiere ich dir. Du bist doch nicht sein Eigentum, an dem er seine Launen auslassen darf. Ich sag’s dir: Du bist harmoniesüchtig, und es ist höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.«
Lisa blickte ihre Freundin ungläubig an. »Du würdest Sven wirklich verlassen?«
Sie nickte. »Ohne zu zögern.«
»Aber ich kann doch nicht einfach ... Ich hab doch nur Markus. Dann wäre ich ganz allein.« Lisa blickte gedankenverloren an Angela vorbei. »Und du meinst wirklich, mein Verhalten wäre eine Art Sucht? Wenn man nach Harmonie strebt, nennt man das Sucht?«
»Nein, natürlich nicht. Auch ich will natürlich mit meinem Mann harmonisch zusammenleben. Aber bei dir ist es vollkommen einseitig. Du gibst dich selbst auf, um dieses Ziel zu erreichen. Du erduldest alles dafür. Und? Was bekommst du dafür? Erniedrigungen und Schläge.«
»Das verstehst du nicht«, sagte Lisa.
»Oh, ich verstehe das sehr gut. Markus hat dich so vollständig im Sack, dass er dich wie seine Sklavin halten kann, die ihn bedienen muss. Du musst ihm unbedingt Grenzen aufzeigen, wenn du schon bei ihm bleiben willst. Kämpfe gegen deine Sucht an. Entdecke, dass du eine eigene Persönlichkeit mit eigenen Wünschen bist. Vielleicht stellt Markus ja dann sogar fest, dass seine Frau für ihn sogar als Partnerin interessant ist. Im Moment sehe ich das jedenfalls nicht. Vielleicht hasst du mich jetzt dafür, dass ich das so unverblümt ausspreche, aber ich hatte schon lange das Gefühl, dass das mal fällig war.«
»Ich hasse dich doch nicht!!«, sagte Lisa. »Du bist immer noch meine beste Freundin. Aber wie soll ich denn diese ’Sucht' deiner Meinung nach bekämpfen? Wenn ich seine Wünsche und Forderungen nicht mehr erfülle, wird er sicher wieder ärgerlich ...«
»Und das macht dir Angst? Schätzchen, dann musst du da unbedingt raus. Ich kann mal mit Sven sprechen, vielleicht ...«
Lisa winkte ab. »Lass gut sein, Angela. Wir haben schon viel zu lange hier miteinander geredet. Ich muss zurück nach Hause, sonst ist der Ärger sowieso vorprogrammiert. Ich will heute Abend nicht noch Stress provozieren.«
Angela schlug mit der Hand auf den Tisch. »Genau diese Haltung meine ich doch, Lisa! Das ist deine Harmoniesucht! Du musst aus dieser Mühle ausbrechen, sonst gehst du dabei vor die Hunde. Ich mach mir Sorgen um dich.«
»Das musst du nicht. Ich schaff das schon. Ich ruf dich in den nächsten Tagen an, wenn Markus nicht da ist. Wir werden schon einen Termin für eine längere Aussprache finden.«
Angela lächelte. »Das würde mich ehrlich freuen.«
Lisa verabschiedete sich und lief nach Hause. Das Gespräch mit Angela hatte sie mehr bewegt, als sie für möglich gehalten hatte. Offenbar gab es auch Ehen, in denen es anders ablief als bei Markus und ihr. Speziell die Aussage, dass sie Sven sofort verlassen würde, wenn er sie auch nur ein einziges Mal schlagen würde, ging ihr im Kopf herum. Markus hatte sie während der letzten Monate wiederholt geohrfeigt, wenn sie etwas nicht zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte. Sie hatte das für normal gehalten, hatte sich die Schuld dafür stets selbst gegeben. Sollte es überhaupt nicht an ihr gelegen haben? Und das mit der Harmoniesucht ... War sie wirklich süchtig danach? War es eine Sucht, wie Alkohol- oder Drogensucht? Konnte sie tatsächlich etwas dagegen tun? Wenn ja - was? Markus würde ausrasten, wenn sie ihm nicht sein Bier brachte, oder die Wohnung nicht bis ins Kleinste aufgeräumt und geputzt war, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Er würde sie wieder ohrfeigen und beschimpfen.
Was also konnte sie tun? Wollte sie überhaupt, dass sich etwas änderte?
Angela hatte leicht reden. Sie war mit einem sehr verständnisvollen, sanftmütigen Mann verheiratet und hatte zwei nette Kinder.
Der Gedanke ließ sie innehalten. Markus und sie hatten keine Kinder, obwohl sie immer gern welche haben wollte. Markus hatte immer gesagt, Kinder machten nur Arbeit und brachten Unruhe. Aus diesem Grund wollte er auf keinen Fall welche haben. Wieso hatte sie damals eigentlich nachgegeben und auf eigene Kinder verzichtet? Markus hatte sich fürchterlich aufgeregt, als sie ihm von ihrem Kinderwunsch berichtet hatte. Er hatte sich erst wieder beruhigt, nachdem sie nachgegeben hatte. Harmoniesucht? Vielleicht hatte Angela ja recht mit ihrer Vermutung.
Inzwischen hatte sie die Wohnungstür erreicht und schloss sie auf.
»Wo hast du so lange gesteckt?«, fuhr Markus sie an. »Es kann doch nicht so lange dauern, an der Ecke ein Bier zu kaufen. Wenn man sich auf dich verlässt, ist man eher verdurstet.«
Sein Blick wanderte über ihre leeren Hände. »Und? Wo ist es jetzt?«
»Was?«, fragte Lisa verständnislos.
»Mein kühles Bier!« Er tippte ihr mit dem Zeigefinger grob gegen die Stirn. »Schon vergessen, du dummes Ding? Also?«
Lisa schluckte. Sie hatte ganz in Gedanken die Tragetasche im Café vergessen, als sie aufgebrochen war. »Ich muss sie vergessen haben. Ich hab Angela getroffen und da ...«
»Du hast Angela getroffen? Und da hast du bei eurem Weibergetratsche mein Bier vergessen?« Seine Hand klatschte ihr ins Gesicht und ließ sie zwei Schritte zurückweichen. Sie wandte sich um und rannte in die Küche, den einzigen Raum, wo sie meist Ruhe vor Markus Ausrastern hatte. Die Küche war ein Arbeitsraum für Frauen. Dort musste sich ein Mann nicht unbedingt aufhalten.
Lisa stemmte sich mit beiden Händen auf die Spüle und atmete hektisch ein uns aus. Das Gesicht brannte wieder, doch Tränen hatte sie keine mehr übrig. Ihre Gedanken rasten. Harmoniesucht. Was musste sie jetzt tun, um Markus zu besänftigen? Was konnte sie überhaupt tun? Wollte sie nach dem Gespräch mit Angela eigentlich noch etwas tun?
»Ich warte immer noch auf mein Bier! Lass dir was einfallen, sonst setzt es gleich noch mehr, du Schlampe!«
Markus war im Wohnzimmer. Ihre einzige Chance war, ihm sofort ein Bier zu bringen - schön gekühlt und im Glas serviert. Sie hatte aber keins. Das Café hatte inzwischen geschlossen und auch der Supermarkt hatte nicht mehr geöffnet. Sie konnte sich vorstellen, wie Markus sich gleich hochschaukeln würde. Er würde in die Küche kommen und ...
'Lisa denk nach.' Sie betrachtete sich selbst auf einmal eigentümlich distanziert. Harmoniesucht. Eine Sucht war nie etwas Gutes. Sie musste etwas dagegen unternehmen. Angela hatte vollkommen recht. Sie war auch eine Persönlichkeit. Sie hatte eigene Wünsche und Träume. Doch was konnte sie tun? Sie wurde immer nur durch ihre Ängste beherrscht. Und was half ihr das? Sie schlug mit beiden Fäusten auf die Spüle, dass ihr die Gelenke schmerzten. Fast genoss sie diesen Schmerz, der sie von ihrer Angst ablenkte.
Auf einmal fiel ihr Blick auf den Messerblock auf der Anrichte. Es war, als würde in ihr ein Schalter umgelegt. Ihr Zittern hörte plötzlich auf.
»Ich warte nicht mehr lange, alte Schlampe! Ich will jetzt mein Bier!«
Lisas Hand wanderte zum Griff des großen Kochmessers und zog es aus dem Messerblock. Gedankenverloren betrachtete sie die glänzende Klinge. Langsam drehte sie sich herum und blickte zur Tür zum Wohnzimmer. Ihre Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen und sie holte tief Luft. »Dann komm und hol es dir doch!«