Josie

 

Der Blick aus dem Fenster war noch immer genauso trostlos wie vor einer Stunde, als ich hinausgesehen hatte. Der Himmel war einfach nur bleigrau und der Nebel in den Straßen hatte sich noch mehr verdichtet. Ich konnte kaum mehr die gegenüberliegende Straßenseite erkennen, geschweige denn die Menschen. Ich stutzte. Menschen? Ich sah auf meine Armbanduhr. Um diese Zeit hätte eigentlich das geschäftige Treiben des Feierabendverkehrs die Straßen füllen sollen. Stattdessen war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob ich überhaupt jemanden gesehen hatte. Ich starrte noch einmal konzentriert in die grauen Nebelschleier hinein, doch ich war mir nicht sicher. Meine Wohnung lag im vierten Stock und der Nebel wurde immer schlimmer.

 Ich zog meine Gardine wieder vor das Fenster und wandte mich ab. Ich fragte mich, wann ich eigentlich zuletzt die Sonne gesehen hatte. Ich konnte mich nicht erinnern. Überhaupt überkam mich in den vergangenen Tagen stets dieses eigenartige Gefühl, das ich nicht so recht fassen konnte. Immer, wenn ich glaubte, es greifen zu können, löste es sich wieder auf - fast wie die Nebel draußen in den Straßen die Welt auszublenden schienen.
 Ich wusste ja, dass es absoluter Blödsinn war, doch schloss dieses Gefühl die Ahnung mit ein, dass diese Wohnung, in der ich lebte, mir im Grunde fremd war, obwohl ich sicher war, dass die Einrichtung meine eigene sein musste. Ich blickte mich um. Da war die braune, abgwetzte und etwas speckige Ledercouch, der gemütliche Ohrensessel und der langflorige Wollteppich unter dem niedrigen Glascouchtisch. Ich betrachtete die Bilder an den Wänden. Sie zeigten Fotos, die ich im Urlaub geschossen hatte. Allerdings wollte mir nicht mehr einfallen, wo genau es gewesen war. Es wirkte alles vollkommen normal. Das hier war meine Wohnung. Warum also erschien sie mir so fremd?
 

Ich beschloss, mir erst einmal etwas zum Essen zuzubereiten. Ich liebte es, zu kochen. War das wirklich so? Ich grübelte darüber einen Augenblick. Hatte jemand anderes gern gekocht oder war ich das? Es wollte mir nicht einfallen. Lebte ich allein oder gab es da noch jemanden? Ich machte einen Umweg über das Bad und studierte die Gegenstände unter dem Spiegel, der über dem Waschbecken hing. Da stand meine Zahnbürste in einem Glas und mein Rasierer lag daneben. Der Rest erschien mir verschwommen und unscharf – fast als hätte der allgegenwärtige Nebel von draußen seine Finger bis in meine Wohnung ausgestreckt. Ich wischte mir über die Augen, doch ich konnte nichts erkennen. Irritiert und auch verwirrt lief ich ins Schlafzimmer, doch auch hier kam ich nicht weiter. Dort stand ein Doppelbett, doch konnte ich nicht erkennen, ob dort eine oder zwei Personen schliefen. Der Kleiderschrank war nicht zu öffnen, so sehr ich auch an den Knöpfen zog. Es war, als wolle etwas oder jemand verhindern, dass ich etwas über mich herausfand. Resigniert kehrte ich dem Schlafzimmer den Rücken.

 Der Kühlschrank in der Küche war eine einzige Enttäuschung. Außer einer Tüte Milch und einem Paket Butter enthielt er überhaupt nichts. Ich musste wohl einkaufen gehen, wenn ich heute noch etwas Anständiges in den Magen bekommen wollte. Meine gefütterte Lederjacke, die ich so liebte, hing an der Garderobe. Ich griff sie und zog sie über. Ich musste lächeln, als ich daran dachte, dass nicht jeder diese alte Jacke liebte.
 Dieser Gedanke ließ mich innehalten. Wie kam ich darauf? Wer mochte diese Jacke nicht? Ich spürte, wie ein eisiger Schauer über meinen Körper zog. Es war ein irritierendes Gefühl, wenn einem bewusst wurde, dass da etwas Wichtiges war, man sich aber beim besten Willen nicht daran erinnern konnte. Ich beschloss, erst einmal zum Supermarkt in der Hauptstraße zu laufen und verließ meine Wohnung. Das Licht im Hausflur brannte trübe und flackerte leicht. Aus irgendeinem Grunde beruhigte mich das, denn ich konnte mich daran erinnern, dass das schon lange so war und ich mich deswegen schon mit der Hausverwaltung angelegt hatte.
 Unten auf der Straße war das Gefühl dann wieder da. Kein Auto war auf der Straße zu sehen, keine Passanten. Das war doch nicht normal! Der Nebel war inzwischen so dicht, dass ich den gegenüberliegenden Bordstein nur noch erahnen konnte. Lediglich die orangefarbenen Lampen der nahegelegenen Kreuzung erzeugten in dem Nebel einen diffus-gespenstischen Schein. Ich schlug den Kragen meiner Jacke hoch, steckte meine Hände in die Taschen und lief los. Ich würde froh sein, wenn ich wieder oben in meiner Wohnung sein konnte, also beeilte ich mich, zum Supermarkt zu kommen. Gerade, als ich bemerkte, wie leise es heute in den Straßen war und zügig um die nächste Straßenecke bog, stand sie vor mir: Eine hübsche Frau von vielleicht fünfundzwanzig Jahren mit etwa schulterlangem, braunem Haar. Sie trug einen kurzen Wollmantel, Jeans und Stiefel. Fast wäre ich mit ihr zusammengestoßen und erschreckte mich fürchterlich. Obwohl die Situation eigentlich eher lustig war, sah sie mich mit ernster Miene an.
 "Wie lange soll das jetzt noch so gehen?", fragte sie mich.
 "Meinen Sie mich?", fragte ich verblüfft. "Was meinen Sie? Kennen wir uns?"
 "Das fragst du mich jeden Tag", antwortete sie und ihre Augen bekamen einen traurigen Ausdruck. "Ja, wir kennen uns, aber nicht an diesem Ort. Es kann nicht mehr so weitergehen. Du musst dich endlich entscheiden."
 Diese Frau musste mich mit jemandem verwechseln. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie überhaupt sprach und sie schien meinen ratlosen Blick auch richtig zu deuten, denn sie richtete ihren Blick kurz nach oben und ich konnte eine kleine Träne sehen, die sich ihren Weg über ihre Wange bahnte. Irgendwie tat sie mir leid. Ich suchte in meinen Taschen nach einem Taschentuch, trat zu ihr und reichte es ihr.
 "Hier bitte", sagte ich. "Sie müssen mich mit jemandem verwechseln. Ich weiß wirklich nicht, wer Sie sind. Vielleicht kann ich Ihnen ja helfen."
 Sie schluckte ein paar Mal.
 "Ich verwechsle dich nicht mit jemandem", sagte sie leise. "Ich meine genau dich und ich versuche es immer wieder, dich dazu zu überreden, endlich dein Schicksal in die Hand zu nehmen. Du musst es einfach tun - mir zuliebe. Uns zuliebe."
 Ich schüttelte den Kopf. "Sie müssen sich wirklich irren. Ich weiß weder Ihren Namen, noch sind wir uns schon einmal begegnet - jedenfalls nicht bewusst."
 "Ich bin Josie", sagte sie. "Josie. Deine Frau."
 Dieser eiskalte Schauer überkam mich wieder. Ich kannte keine Josie und ich war ganz gewiss nicht verheiratet. Trotzdem hatte ich das Gefühl, als müsste mir irgendetwas einfallen, das ich dieser Frau erwidern konnte, um ihr klarzumachen, dass sie sich irrte. Offenbar interpretierte sie mein Zögern falsch, denn sie fragte:
 "Du beginnst dich zu erinnern? Dann solltest du dich auf den Weg machen."
 "Jetzt hören Sie doch auf!", sagte ich, nun etwas ärgerlich.
 Diese Frau machte ja einen netten Eindruck, aber allmählich begann es zu nerven, immer wieder diese merkwürdigen Andeutungen zu hören.
 "Auf welchen Weg soll ich mich denn machen?"
 "Du weißt es wirklich nicht, was? Du musst doch den Nebel sehen."
 "Es fällt wirklich schwer, ihn nicht zu sehen", sagte ich. "Und ich mag ihn nicht. Ich werde mir jetzt etwas zum Essen kaufen und dann wieder in meine gemütliche Wohnung zurückkehren."
 "Bitte tue das nicht!", sagte Josie beschwörend. "Du darfst nicht wieder zurückkehren. Du hast es schon zu oft - zu lange getan. Du darfst den Nebel nicht fürchten. Du musst hindurchgehen. Bitte ..."
 Ich hatte keine Ahnung, was sie wirklich von mir wollte. Allerdings stellte ich fest, dass der Gedanke, direkt in diesen dichten Nebel hineinzulaufen, mir Unbehagen bereitete. Ich hatte den Eindruck, als wollte diese Frau mich damit quälen, dass ich mich bei dem Gedanken an diesen Nebel unwohl fühlte.
 "Sagen Sie, wer schickt Sie?", fragte ich. "Die Vorstellung, Sie wären meine Frau, ist doch lächerlich. Wer hat Ihnen verraten, dass ich in dichtem Nebel Angstgefühle habe? Wer will mich ärgern?"
 "Niemand will dich ärgern! Am allerwenigsten ich! Aber du musst durch diesen Nebel gehen. Du musst einfach. Aber du selbst musst es tun. Du musst es entscheiden und ich würde mir nichts lieber wünschen, als wenn du es tun würdest. Ich warte schon so lang."
 "Dieses Gespräch beginnt allmählich, mich zu ermüden", sagte ich. "Wir drehen uns doch im Kreis und ich habe auch keine Lust mehr, noch länger hier in der Kälte zu stehen. Der Nebel wird immer dichter und ich habe keine Lust, mich nachher noch an den Häusern entlangtasten zu müssen, um zurück nach Hause zu finden."
 "Doch!", rief Josie energisch. "Genau das musst du tun!"
 Sie deutete die Straße entlang, die nach knapp zehn Metern förmlich aufzuhören schien, als erwartete sie, dass ich dort in diese trübe Brühe eintauchen würde. Kopfschüttelnd sah ich in diese Richtung und als ich mich ihr wieder zuwenden wollte, war sie verschwunden. Verblüfft und irritiert sah ich mich in alle Richtungen um, aber sie blieb verschwunden. Ich beschloss, dieses rätselhafte Zusammentreffen zunächst zu vergessen und ging weiter, doch bereits nach wenigen Metern blieb ich wieder stehen. Dieser verdammte Nebel legte sich wie eine bleierne Decke über alles um mich herum. Bereits jetzt konnte ich kaum noch etwas erkennen und begann mich besorgt zu fragen, wie ich wohl zurückfinden würde, wenn ich die Hand vor meinen Augen nicht mehr sehen konnte. Ich spürte ganz allmählich, wie mein bisher mühsam aufrecht erhaltenes Gleichgewicht zu schwinden begann. Diese Frau hatte Recht gehabt, als sie mir sagte, dass ich eine unterschwellige Angst vor dem Nebel hatte. Woher - verdammt noch Mal - hatte sie das gewusst? Und wer war sie überhaupt? Hätte ich sie wirklich kennen müssen? Nun war es sowieso zu spät, das zu klären, denn sie war weg.
 Ich hatte auf einmal überhaupt keine Lust mehr, einzukaufen. Ich wollte nur noch zurück in die Sicherheit meiner Wohnung. Als ich mich umwandte, schienen sich die Straße und der Bürgersteig hinter mir aufgelöst zu haben. Das war natürlich Blödsinn, doch das Auge suggerierte mir, dass es sich so verhielt. Leichte Panik machte sich in mir breit, als ich bemerkte, dass ich selbst die Häuserwand nicht mehr sehen konnte, die ja nur wenige Meter von mir entfernt sein konnte. Mit weit vorgestreckten Händen tastete ich mich vorwärts und wieder überzog mich ein eiskalter Schauer, als ich nach den erwarteten Metern keine Wand ertasten konnte. In einiger Entfernung nahm ich den orangefarbenen Schimmer der Kreuzungsbeleuchtung wahr, der schwach den Nebel durchdrang. Ich wandte mich dem Licht zu und lief los. Einmal stolperte ich über einen Bordstein, den ich nicht gesehen hatte. Ich merkte, wie meine Knie zittrig wurden. Die Orientierung hatte ich vollends verloren, als schemenhaft die Gestalt einer Frau aus dem Dunst vor mir auftauchte.
 "Komm", sagte die Gestalt. "Komm weiter. Du bist auf dem richtigen Weg. Nur noch ein kurzes Stück. Ich warte auf dich."
 "Josie?", rief ich.
 "Ich bin es. Komm einfach her."
 Ich war inzwischen so verwirrt und verängstigt, dass ich lieber dieser Josie hinterherlief, als allein hier im Nichts zu stehen. Also lief ich immer schneller, doch die Gestalt vor mir wurde nicht deutlicher. Nach ein paar Minuten - ich hatte bereits starke Seitenstiche - gab ich auf.
 "Weiter!", forderte Josie. "Du hast es bald geschafft. Nur noch wenige Schritte."
 Auch wenn ich nicht wusste, wovon sie sprach, mobilisierte ich meine letzten Reserven und schritt aus, um ihr zu folgen. In meinem Kopf begann sich alles zu drehen. Ich hielt meine Hände nach vorn und tastete halbblind einem Schatten hinterher, der sich wieder zu entfernen schien. Der Schwindel wurde stärker und schließlich wurde mir schwarz vor den Augen.
 Als ich die Augen wieder aufschlug, ließ grelles Licht meine Augen tränen.
 "Kein Nebel mehr", waren meine ersten Gedanken. Eine wahre Flut von Farben und Licht stürmte  auf mich ein. Ich versuchte, meinen Kopf zu drehen, um zu erkennen, wo ich mich befand. Offenbar lag ich in einem Bett, aber es war nicht mein Bett. Es war ein ... Krankenbett und dies war auch ein Krankenzimmer. Mein Blick fiel auf meinen rechten Arm und ich sah einen Infusionsschlauch. Was war geschehen?
 Mein Blick ging zur anderen Seite des Bettes und ich erschrak. Dort saß eine junge Frau in einer Art Liegestuhl und schlief. Sie war vielleicht Mitte Zwanzig und hatte schulterlanges, braunes Haar. Es war Josie. Ganz allmählich dämmerte mir, dass ich diese Frau sehr wohl kannte. Ich versuchte, mich aufzusetzen, aber mein Körper war einfach zu schwach.
 Ich musste wohl ein Geräusch gemacht haben, denn Josies Kopf ruckte hoch und sie sah mich an. Erst sah ich Unglauben in ihrem Blick, doch dann riss sie ihre Augen weit auf und sprang auf, wobei sie fast ihren Stuhl umstieß.
 "Mein Gott, du bist wach!", rief sie aus. "Du bist wirklich wach! - Endlich!"
 Sie kam an mein Bett und fasste meine Hand.
 "Wie sehr habe ich gebetet und gehofft, dass du zurückkehrst. Immer wieder habe ich hier gesessen und dir gesagt, dass du zu mir zurückkehren sollst. Ich habe aber nicht gewusst, ob du mich überhaupt hören kannst."
 Sie beugte sich über mich und gab mir viele kleine Küsse auf Stirn, Augen und Mund. Es tat unendlich gut.
 "Josie", flüsterte ich. "Was ist geschehen?"
 Mehr bekam ich im Moment nicht heraus, da mich der Schlauch der Magensonde noch sehr behinderte.
 "Weißt du es nicht mehr?", fragte Josie. "Unsere Heimfahrt im dichten Nebel? Der Unfall mit dem Lieferwagen? Er hatte uns genau auf deiner Seite erwischt. Mir ist fast nichts passiert, aber du warst jetzt fast drei Wochen ohne Bewusstsein. Ich bin so glücklich, dass du wieder da bist."
 "Unfall? Nebel?", fragte ich flüsternd.
 Sie nickte und Tränen rannen ihr über die Wangen. Doch diesmal waren es Tränen des Glücks. Sie sah so unendlich glücklich aus und konnte es noch immer nicht fassen, dass ich endlich wach geworden war. Auch ich weinte, ohne, dass ich es verhindern konnte, denn mir wurde bewusst, dass ich es nur der Liebe dieser Frau zu verdanken hatte, dass ich zurückgekehrt war - ihr und ihrer Hartnäckigkeit.
 "Ich bin so müde", sagte ich krächzend. "Sei mir nicht böse, aber mir fallen die Augen wieder zu."
 "Ich bin dir doch nicht böse", sagte sie mit warmer Stimme und strich mir sanft mit der Hand über die Stirn. "Jetzt weiß ich, dass es normaler Erschöpfungsschlaf ist. Ich werde hier sein, wenn du wieder aufwachst. Ich werde dich nicht alleinlassen."
 Seufzend ließ ich mich wieder in den Schlaf gleiten. Den Eindruck ihrer warmen Hand auf meiner Stirn nahm ich mit in meine Träume, die diesmal nichts mit Nebel zu tun hatten. Meine Ängste waren komplett verschwunden und ich wusste nun, dass Liebe wirklich zu allem fähig war - selbst über die Grenzen unserer Wahrnehmung hinaus.