Geschicklichkeitsprüfung

 

Lukas war zwar erst dreizehn Jahre alt, doch er war ein heller Kopf und darüber hinaus bei seinen Freunden überaus beliebt. Beim Fußball war immer einer der Ersten, der gewählt wurde, wenn es darum ging, Mannschaften zu bilden. Er war gut darin und oft genug schon hatten seine Freunde ihn gefeiert, wenn er ein entscheidendes Tor geschossen hatte. Lukas hatte eben ein hervorragendes Körpergefühl, war sportlich und äußerst geschickt.
In der Schule war er zwar nicht unbedingt der Fleißigste und daher kämpfte er ständig dagegen an, nicht versetzt zu werden, doch das störte ihn nicht weiter, wenn er nur weiter mit seinen Freunden Fußball oder andere Spiele spielen konnte und er weiter seinen Job machen konnte.
Lukas war sicher der Einzige in seiner Klasse, der bereits einen Job hatte, beziehungsweise dafür ausgebildet wurde. Es sprach auch nie darüber - nicht einmal mit seinem besten Freund. Er hatte es seinem Onkel versprechen müssen.
Onkel Thomas war der tollste Onkel, den man sich als Junge vorstellen konnte. Immer, wenn er kam, zeigte er ihm kleine Tricks und brachte ihn zum Lachen. Onkel Thomas war der Bruder seines Vaters, der auch große Stücke auf seinen jüngeren Bruder hielt. Er sagte immer, dass Thomas in seinem Fach der Beste sei, den er jemals gesehen habe - und das sollte schon etwas bedeuten.
Vor ein paar Monaten hatten sich die Brüder dann darüber unterhalten, dass es vielleicht nicht schaden könne, Lukas langsam auszubilden. Es könnte zu spät sein, seine Fertigkeiten voll zu entfalten, wenn man zu lange damit wartete, ihn zu fördern.
Lukas hatte seine Ohren gespitzt, als er mitbekam, dass es um ihn ging und er war umso interessierter, als er hörte, dass es sein Onkel Thomas sein würde, der ihm etwas beibringen sollte. Er hatte Lukas anschließend zu sich gerufen und mit ihm ein richtiges "Erwachsenengespräch" geführt, an dessen Ende Lukas versprach, niemals mit jemandem darüber zu sprechen, dass er schon in diesem Alter eine Ausbildung bekommen sollte.
Die folgenden Monate waren nicht einfach. Morgens die Schule, die Hausaufgaben und an den meisten Nachmittagen die unzähligen Übungen und Trainingseinheiten bei Onkel Thomas. Er konnte es am Gesicht seines Onkels erkennen, wenn er seine Aufgabe gut gemacht hatte oder nicht. Je länger er bei ihm war, umso häufiger sah er die zufriedene Miene in Onkel Thomas' Gesicht.
Lukas war sich absolut sicher, dass sein Vater und Onkel Thomas auch über ihn sprechen würden, doch meist taten sie es wohl, wenn er nicht dabei war. Nur einmal hatte er einen Gesprächsfetzen mitbekommen und gehört, wie Onkel Thomas gesagt hatte, dass er selten ein Talent wie Lukas gesehen habe und sie sich beglückwünschen könnten, dass sie ihn entsprechend förderten.
Lukas hatte gelächelt, als er das gehört hatte. Es machte ihm Spaß, diese vielen Dinge und Fertigkeiten zu lernen, auch wenn er dadurch nicht mehr so viel Zeit für seinen Fußball aufbringen konnte.
Jetzt war es soweit und sein Vater fuhr mit ihm und Onkel Thomas in die Nachbarstadt, wo es seit ein paar Tagen einen großen Weihnachtsmarkt gab. Sein Onkel hatte oft genug gesagt, dass er nun soweit wäre und es an der Zeit sei, seinen Job auch in der Praxis anzuwenden. Sie parkten etwas außerhalb, da es in unmittelbarer Nähe des Weihnachtsmarktes sowieso keine freien Plätze gab. Außerdem konnte es nicht schaden, wenn der Wagen ein Stück entfernt stehen würde. Sie schlenderten gemeinsam an den ersten Holzbuden vorbei und Lukas betrachtete die Auslagen mit glänzenden Augen. Je weiter sie vorankamen, umso enger wurde das Gedränge und schließlich schoben sich die Massen nur noch langsam durch die Gänge zwischen den Reihen mit den Weihnachtsbuden.


"So, da wären wir, mein Junge", sagte Onkel Thomas. "Ich hoffe, du hast alles dabei."
Lukas nickte ernsthaft. Er konnte nicht verbergen, dass er nervös war. Bisher waren es immer nur Übungen gewesen. Das Schlimmste, das geschehen konnte, war ein kleines Versagen und ein tadelnder Blick seines Onkels, doch jetzt war es anders. Die vielen Menschen, das Gedränge, die Gerüche und bunten Lichter - das alles schuf eine Atmosphäre, wie er sie bisher bei seinen Übungen nicht kennengelernt hatte. Trotzdem nahm er all seinen Mut zusammen und bestand darauf, bereit zu sein.
Sein Vater zwinkerte ihm zu und meinte: "Ich weiß, dass du es kannst, Lukas. Du bist ja auch nicht allein. Wir sind immer bei dir und in deiner Nähe."
Er gab ihm einen Kuss auf die Stirn und schob ihn ein Stück vor. Ab jetzt würde es nur auf ihn ankommen. Es war gut zu wissen, dass der Vater und sein Onkel hinter ihm sein würden, doch das half nur wenig, seine Nervosität zu beherrschen. Er tastete in seiner Tasche nach seinen unverzichtbaren Hilfsmitteln und fand alles an seinem Platz. Langsam ging er weiter und beobachtete. Sein Onkel hatte ihm gründlich beigebracht, worauf er zu achten hatte, und er begann sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Es war lustig, aber es war tatsächlich genau so, wie Onkel Thomas es gesagt hatte. Die Menschen fühlten sich, bei allem Misstrauen, absolut sicher, wenn sie nur ihre Hände dort hatten, wo sich alles Wichtige befand. Schnell hatte er einen Mann ausgemacht, der krampfhaft bemüht war, seine rechte Hand in seiner Hosentasche zu behalten, obwohl seine Daunenjacke über weite Außentaschen verfügte. Der Mann musste Rechtshänder sein. Lukas war sicher, dass er seine Geldbörse in seiner rechten Hosentasche hatte. Er heftete sich an dessen Fersen und ließ ihn nicht mehr aus den Augen. An einem Wurststand kam ein kleines Mädchen zu dem Mann und bettelte, dass er ihr eine Wurst kaufen sollte. Lange hielt der Mann den bettelnden Augen seiner Tochter nicht stand und er holte seine rechte Hand aus der Tasche. Er hielt seine Geldbörse in der Hand und gab dem Mädchen ein paar Münzen. Mit sachkundigem Blick sah Lukas, dass es nicht Münzen waren, die diese Geldbörse dick erscheinen ließen. Es waren Scheine.
Lukas wartete, bis der Mann sein Geld wieder in der rechten Hosentasche verstaut hatte und weiterging, dann schob er sich näher an ihn heran. Seine rechte Hand holte einen kleinen Stift für Bleistiftminen aus der Tasche und ließ eine kleine Nadel, die statt einer Mine dort drinnen steckte, ein Stück weit herausschauen. Das alles tat er in einer fließenden Bewegung. Sein Herz schlug ihm nun bis zum Hals, so aufgeregt war er. Er stieß dem Mann diese kleine Nadel von hinten in den rechten Oberschenkel, sodass dieser zusammenzuckte und mit seiner rechten Hand instinktiv an die Stelle fasste, an der es schmerzte.
Im selben Moment rempelte Lukas' Vater den Mann leicht von links an, worauf dieser sich verärgert umwandte.
"Verzeihung", meinte Lukas' Vater. "Es war meine Schuld."
Lukas hatte in diesem kurzen Moment seinen Stift in seiner Tasche verschwinden lassen und mit seiner Linken in der Tasche des Mannes nach dessen Geldbörse geangelt. Er hatte diesen Bewegungsablauf so häufig geübt, dass sein Opfer keine Chance hatte, diesen Diebstahl zu bemerken. Lukas wollte gerade die Geldbörse nach hinten zu seinem Onkel weiterreichen, der - wie er wusste - unmittelbar hinter ihm stehen würde, als er selbst angerempelt wurde. Die Geldbörse, die er nur mit zwei spitzen Fingern gehalten hatte, entfiel seinen Händen und landete klatschend auf dem Boden. Der Mann hatte sich inzwischen wieder umgewandt und entdeckte seine Geldbörse auf dem Boden und Lukas, der ihn mit vor Schreck geweiteten Augen ansah. Für einen kurzen Moment starrten sich die beiden nur an und niemand reagierte. Dann war der Moment vorbei und Lukas zwängte sich blitzschnell zwischen den Beinen seines Onkels hindurch und verschwand in der Menge.
"Haben Sie das gesehen?", fragte der Mann Lukas' Onkel. Schnell bückte er sich und hob seine Geldbörse auf. "Diese kleine Ratte hat mich doch tatsächlich bestehlen wollen!"
"Na ich weiß nicht", erwiderte Thomas. "Wo hatten Sie sie denn vorher? Kann es nicht sein, dass Sie sie versehentlich eben selbst aus Ihrer Tasche gezogen haben?"
"Aber dieser kleine Kerl ist doch getürmt!", regte sich der Mann auf. "Wenn das kein Schuldeingeständnis ist ...!"
"Ich denke, ich wäre auch weggelaufen, wenn mich einer so wie Sie angestarrt hätte", mischte sich Lukas' Vater ein. "Sie hätten sich selbst sehen sollen."
Der Mann stand grübelnd - seine Geldbörse in der Hand - da und steckte sie dann wieder ein.
"Es ist ja auch nichts passiert", fügte Thomas noch hinzu. "Lassen Sie sich doch nicht Ihre gute Laune verderben. Es ist Advent."
"Eigentlich haben Sie recht", meinte der Mann und entspannte sich wieder. Er entdeckte seine Familie einige Meter weiter, wo eine kleine, schwarzhaarige Frau ihm zuwinkte.

Als sie zum Auto zurückkehrten, fanden sie dort Lukas vor, der wie Espenlaub zitterte und offenbar auch geweint hatte. Sein Vater nahm ihn in den Arm und drückte ihn fest an sich.
"Du hast das ganz toll gemacht, Junge", sagte er. "Ich bin stolz auf dich."
"Stolz?", fragte Lukas. "Ich hab's versaut. Ich habe die Beute fallen gelassen. Wie kann man darauf stolz sein?"
"Wir haben beobachtet, wie du dein Opfer ausfindig gemacht hast, wie du es abgelenkt hast und wie geschickt du die Beute gezogen hast. Das war toll - ohne Zweifel."
"Ja aber ..."
"Kein aber. Es war dein erstes Mal. Die Bedingungen waren ganz anders, als bei den Übungen. Es gibt so viele Störfaktoren, die man nicht planen kann. Dir fehlt einfach noch die Erfahrung. Du ahnst nicht, was dein Onkel und ich früher für Mist gebaut haben, als wir anfingen. Es war einfach nur dein erstes Mal."
"Ich habe dir etwas mitgebracht", sagte Thomas und lächelte.
Lukas zog seine Nase hoch und sah seinen Onkel an. "Du hast mir etwas mitgebracht?"
"Ja", sagte Thomas und lachte. Er warf Lukas etwas zu und er fing es instinktiv auf. Es war die Geldbörse, die er fallen gelassen hatte. Die beiden Männer amüsierten sich über Lukas' ratloses Gesicht.
"Aber jetzt: Das Ding leeren und wegwerfen - wie wir es besprochen hatten."
Lukas strahlte, als er die bunten Scheine in der Hand hielt.
"Davon kaufe ich aber auch ein Weihnachtsgeschenk für Mama", sagte er.
Sein Vater fuhr ihm mit der Hand durch die Haare. "Das solltest du auch, Lukas. Schließlich sind wir ehrliche Diebe."
Die Männer lachten über diesen Scherz, bis ihnen die Tränen kamen. Als sie sich wieder gefangen hatten, stiegen sie wieder in ihren Wagen und fuhren nach Hause. An diesem Abend würden die Besucher des Weihnachtsmarktes zumindest vor ihnen sicher sein.