Genesis?
Es konnte so langweilig sein. Leshag hasste zwar die Schule, doch Ferien ohne eine Urlaubsreise waren einfach das Letzte, was er sich gewünscht hatte. Alle seine Freunde waren weggefahren und nur er musste hier ausharren und hoffen, dass ihm etwas einfiel, womit er sich beschäftigen konnte. Er sah auf seinen unaufgeräumten Schreibtisch und erblickte die Bücher, die ihm seine Mutter gegeben hatte.
„Lies dies“, hatte sie gesagt, „sie sind lehrreich, spannend und lustig. Ich habe sie als junges Mädchen förmlich verschlungen.“
Das stelle man sich nur vor! Was würden die anderen sagen, wenn sie erfuhren, dass er Mädchenbücher liest. Leshag griff nach einem der Bücher, ließ die Seiten durch seine Finger gleiten und warf es zurück auf den Stapel der anderen Bücher. Wer las denn heute noch Bücher? Wenn er – was selten genug vorkam – einmal etwas lesen wollte, dann rief er sich das Passende im Netz auf und lud es sich auf seinen Lesecomputer.
Computer! Das wäre noch eine Idee. Leshag schaltete seinen Weblink ein und wartete, bis sich das Bild auf seiner Projektionswand aufbaute. Schnell klinkte er sich in alle Messenger und Communities ein, die er überlicherweise aufsuchte, doch wie er schon befürchtet hatte, war niemand von seinen Freunden dort. Er wollte schon wieder abschalten, als er ein blinkendes Signal entdeckte. Jemand wollte Kontakt zu ihm aufnehmen. Leshag aktivierte das Signal und wartete, bis er erkennen konnte, wer ihn rief. Ein kleines Icon mit dem Gesicht einer Klassenkameradin erschien. Lenoma! Sie war so ziemlich das langweiligste Mädchen in seiner Klasse. Er wollte schon wegklicken, als er es sich anders überlegte. Lenoma war vielleicht langweilig, aber sie wollte mit ihm sprechen. Er wurde neugierig. Er konnte sich nicht erinnern, im letzten Jahr mehr als zwei Worte mit ihr gewechselt zu haben und die waren nicht einmal besonders freundlich gewesen.
Leshag zog seinen Kommunikator über und nahm den Ruf an.
Sofort wechselte das Bild auf der Projektionswand und zeigte ein rothaariges Mädchen mit vielen Sommersprossen. Sie lächelte ihn an und offenbarte eine silberne Zahnspange.
„Hallo Leshag!“, sagte sie freundlich, „Seid ihr auch nicht weggefahren?“
„Nein.“
„Wir auch nicht. Ich finde das total öde. Niemand ist da, mit dem man reden oder etwas unternehmen kann. Dann entdeckte ich auf einmal deine Ident-Nummer. Wie geht es dir, Leshag?“
„Geht so. Eigentlich cool.“ Leshag fühlte sich irgendwie unbehaglich. Er wünschte sich bereits, den Ruf nicht angenommen zu haben, doch dazu war es nun bereits zu spät. Es war ja nicht, dass man sich mit Lenoma nicht unterhalten konnte. Sie war eben bei seinen Kollegen so absolut nicht angesagt. Hoffentlich würde sie nicht herumerzählen, dass sie privat miteinander gesprochen hatten.
„Was ist mit dir?“, wollte Lenoma wissen, „Warum sagst du nichts? Störe ich dich bei irgendwas? Dann will ich dich nicht aufhalten.“
„Genau so ist es“, log Leshag, „ich wollte eigentlich weg.“
„Schade“, sagte Lenoma, „ich dachte, ich könnte dir 'was Tolles zeigen. Ich wünsche dir noch schöne Ferien.“
Die Projektionswand wurde dunkel und zeigte das Symbol des Weblinks.
Was hatte sie gemeint? Sie wollte ihm etwas Tolles zeigen? Leshag wurde neugierig. Er wählte Lenomas Ident-Nummer und wartete. Die Projektionswand wurde wieder hell und zeigte wieder das rothaarige Mädchen.
„Ja?“, fragte sie, „Was gibt es noch?“
„Was wolltest du mir denn zeigen?“, fragte Leshag neugierig.
„Ich denke, du musst weg.“
„Na ja, nicht wirklich“, druckste er herum, „eigentlich ...“
„Ich verstehe schon! Mit einem Mädchen wie mir gibt man sich nicht ab – das ist uncool!“
Lenomas Gesicht hatte einen wütenden Ausdruck bekommen.
„Es war ein Fehler“, sagte sie und Leshag konnte sehen, dass sie abschalten wollte.
„Warte Lenoma!“, rief er, „Es tut mir leid!“
Das Mädchen hielt inne.
„Es tut dir leid. Was genau tut dir leid?“
Leshag blickte hilflos in die Kamera seines Weblinks und suchte verzweifelt nach Worten.
„Ich warte ....“
„Ich weiß auch nicht“, sagte Leshag, „eigentlich bin ich gar nicht so grantig. Es tut mir leid, dass ich dich so mies behandelt habe und dich angelogen habe, dass ich wegmüsste.“
Die Worte waren ihm nur sehr schwer über die Lippen gekommen. Er fühlte sich unwohl dabei und hoffte, dass Lenoma diese Sitzung nicht mitschnitt. Nicht auszudenken, wenn seine Freunde Wind davon bekämen. Trotzdem war er froh, dass er Lenoma offenbar besänftigen konnte.
„War das jetzt wirklich so schwer?“, fragte sie.
„Nein“, quetschte sich Leshag heraus, „aber was wolltest du mir denn nun zeigen?“
Er war froh, das Thema wechseln zu können. Lenomas Miene hellte sich auf.
„Ich habe hier ein neues Spielzeug“, sagte sie.
„Spielzeug!“, wiederholte Leshag skeptisch, „was ist daran so toll? Mein ganzes Zimmer ist voll davon.“
„Na ja, es ist eigentlich kein Spielzeug. Es hat mit dem Job von meinem Vater zu tun, aber der ist mit meiner Mutter für zwei Tage nicht da.“
„Dann bist du ganz allein zu Hause?“, fragte Leshag.
„Ja, und ich platze, wenn ich dieses Ding niemandem zeigen kann. Ich habe meinem Vater heimlich über die Schulter gesehen und kann es bedienen“, sagte Lenoma und war ganz begeistert.
„Was ist es denn nun?“, wollte er wissen.
„Kannst du hier her zu uns kommen?“, wollte Lenoma wissen, „Ich sende dir die Adresse. Es ist nicht sehr weit von euch. Aber ...“
„Was aber...?“
„Du darfst níemandem davon erzählen, hörst du?“
„Ich werde nichts erzählen“, versprach Leshag.
„Du musst schwören!“, verlangte das Mädchen.
Genervt hob Leshag seine rechte Hand und sprach die notwendigen Formeln. Erst dann war Lenoma zufrieden.
„Gut, ich schicke dir jetzt die Adresse. Komm' bitte schnell, aber du musst ein bisschen Zeit haben.. Es ist so großartig.“
Leshag sah, dass er inzwischen die Adresse von Lenoma erhalten hatte.
„Ok, ich komme dann gleich“, sagte er, „dürfen meine Eltern wissen, wohin ich gehe, oder muss ich ihnen eine Geschichte erzählen?“
„Warum sollen sie nicht wissen, wo du bist?“, fragte Lenoma, „Du darfst ihnen nur nichts von der Maschine erzählen.“
„Maschine?“
„Komm erst einmal her, dann wirst du es sehen.“
Leshag grüßte noch einmal mit einem Kopfnicken und schaltete dann ab.
Leshag musste sich eingestehen, dass Lenoma ihn neugierig gemacht hatte. Eigentlich wäre er niemals auf die Idee gekommen, sie zu besuchen, aber jetzt wollte er auch wissen, was sie ihm zeigen wollte und außerdem war ihm langweilig. Er überlegte noch, was wäre, wenn ihn jemand beobachten würde, wie er Lenoma besuchte. Seine Kollegen würden ihn sicherlich wochenlang aufziehen, wenn sie davon erfuhren. Nach kurzem Zögern entschied er, dass sie ihm gestohlen bleiben konnten. Was wussten denn sie davon, wie man sich langweilen konnte, wenn man in den Ferien zu Hause blieb? Er griff nach einer dünnen Jacke und verließ sein Zimmer.
Leshag hatte fast die Wohnungstür erreicht, als eine Stimme ihn zurückrief.
„Halt, mein Freund!“, rief seine Mutter, „Du willst noch weg? Haben wir darüber gesprochen?“
„Es ist doch noch früher Nachmittag“, antwortete er, „ich bin auch zum Abendbrot wieder zurück.“
„Wo willst du denn hin? Ich möchte wenigstens wissen, wo du dich herumtreibst.“
„Ich treibe mich nicht herum, Mama!“, protestierte Leshag, „Ich gehe nur auf 2-3 Stunden zu Lenoma, einer Klassenkameradin. Sie wollte mir etwas zeigen.“
„Lenoma? Ein Mädchen? Ist sie deine Freundin?“
Leshag rollte mit den Augen. „Eine Klassenkameradin!“, stellte er klar. Er hoffte, dass seine Mutter nicht ihren Freundinnen als nächstes berichten würde, ihr Sohn habe eine Freundin.
„Kann ich dann gehen?“, fragte er.
Seine Mutter nickte. „Aber um 9 bist du wieder zu Hause.“
„Geht klar“, sagte er erleichtert und gab seiner Mutter noch einen leichten Kuss auf die Wange. Schnell verließ er das Haus, bevor noch weitere Fragen kommen konnten. Leshag beeilte sich, zu Lenoma zu kommen. Er konnte seine Neugier inzwischen kaum noch bändigen.
Am Ziel angelangt, öffnete ihm Lenoma die Tür und sah sich schnell in alle Richtungen um, dann zog sie Leshag mit einem Ruck ins Haus.
„Was soll der Quatsch?“, wollte er wissen, „Du musst nicht gleich über mich herfallen.“
Lenoma lachte hell. „Was du dir nur wieder einbildest. Ich wollte nur nicht, dass jemand beobachtet, dass ich dich hineingelassen habe. Mein Vater würde es nämlich nicht so gern sehen, dass Fremde im Haus sind, wenn ich allein bin. Außerdem würde er nicht gutheißen, was ich dir gleich zeigen werde.“
„Nun mach' es nicht so spannend“, forderte Leshag, „dann zeig' mir auch, weswegen du mich hier her gebeten hast.“
Lenoma warf ihre langen, roten Haare über die Schulter zurück und biss sich auf die Unterlippe.
„Es muss aber wirklich unter uns bleiben“, mahnte sie, „du darfst es auch nicht deinen blöden Freunden erzählen.“
„Na hör mal!“, begehrte Leshag auf, „Meine Freunde ...“ „...haben einen IQ, der gerade mal reicht, um einem Mädchen wie mir an den Haaren zu ziehen, es in den Klassenschrank zu sperren und seine Schultasche zu verstecken“, vollendete Lenoma seinen Satz.
„Also, wenn du so über uns denkst ...“
„Wer sagt denn, dass ich über euch so denke? Ich sprach nur von deinen blöden Freunden. Meinst du, ich habe nicht erfahren, dass du es warst, der den Schlüssel wieder umgedreht hatte, damit ich aus dem Schrank klettern konnte und dass du es warst, der meine Tasche wieder an ihren Platz gestellt hatte?“
Leshag spürte plötzlich eine Hitze in sich aufsteigen und fürchtete, dass man sehen konnte, dass er rot wurde. Das Gespräch war ihm peinlich.
„Na ja ...“, stammelte er. Lenoma lächelte ihn an und griff nach seiner Hand.
„Ich finde, du hast es überhaupt nicht nötig, dich an diese Schwachköpfe zu hängen“, sagte sie und zog ihn hinter sich her zur Kellertreppe.
„Wo willst du denn mit mir hin?“, fragte Leshag, „Was wollen wir denn im Keller?“
„Du wirst schon sehen.“
Leshag wusste nicht, was er eigentlich erwartet hatte, doch das, was Lenoma ihm im Keller zeigte, hatte er nicht erwartet. Der gesamte Raum war mit Unmengen von Projektionswänden und 3D-Monitoren angefüllt. Im Zentrum befand sich ein halbkreisförmiges Pult mit zahllosen Tasten und Reglern. Alles wirkte unglaublich futuristisch. Leshag wandte den Kopf in alle Richtungen.
„Wow!“, rief er dann aus, „Das ist wirklich beeindruckend!“
Er wandte sich Lenoma zu, die ihn erwartungsvoll ansah.
„...und was ist das alles?“, fragte er.
„Es gehört meinem Vater“, erklärte Lenoma, „er arbeitet hier, wenn er nicht im Institut sein kann. Ich muss dir nicht erklären, dass wir überhaupt nicht hier sein dürften, oder?“
„Na ja, ich muss gestehen, dass ich nicht so recht begreife, was das hier für eine Anlage ist“, sagte Leshag, „mir ist schon klar, dass es eine ungeheuer leistungsfähige Computeranlage ist, doch kann ich mir nicht vorstellen, wofür dein Vater so ein Ungetüm benötigt.“
„Mein Vater ist Physiker und Evolutionsforscher“, sagte Lenoma, „diese Anlage hier ist an den Großrechner im Institut angeschlossen und nutzt dessen Kapazitäten. Mein Vater redete nicht gern über seine Arbeit, aber ich habe mich oft genug hier unten aufgehalten, und habe gelauscht, wenn er mit Kollegen gesprochen hat. Er ahnt nicht, dass ich mir Notizen gemacht habe und genau weiß, wie ich es einschalten kann.“
„Was genau macht dieser Computer denn?“, wollte Leshag wissen.
Lenoma setzte sich auf einen Hocker vor der Konsole und begann, etwas in die Tastatur zu tippen, worauf nacheinander die Monitore zum Leben erwachten.
„Du kennst doch sicher noch diese kleinen Spielzeugdinger, die ein virtuelles Tier enthielten, das man füttern musste und so weiter, nicht wahr?“
Leshag nickte. „Ja, so eines hatte ich auch. Es ist irgendwann kaputt gegangen. Eine zeitlang war es spannend, aber dann fand ich es nachher langweilig.“
„Jetzt stell' dir vor, du hättest so ein Spielzeug, nur, dass du dich nicht nur um ein Tier kümmern musst, sondern“, sie machte eine alles umfassende Geste, „um eine ganze Welt.“
„Du willst mich verscheißern!“, stellte Leshag fest.
„Will ich nicht!“, protestierte Lenoma, „Dieser Computer kann wirklich geschichtliche Entwicklungen und Evolution simulieren. Er dient Forschungszwecken. Das ganze ist äußerst geheim.“
„Das will ich sehen!“, sagte Leshag interessiert, „Kannst du mir zeigen, woran dieser Computer zur Zeit arbeitet?“
„Das könnte ich, aber ich traue mich nicht“, sagte sie, „man weiß nie, ob diese Jobs nicht mitgeloggt werden. Mir wäre wohler, wenn wir ein völlig neues Projekt anlegen.“
„Ach, das kann man auch machen?“
„Aber sicher. Setz dich zu mir. Dann können wir überlegen, was wir machen. Wir werden komplett neu anfangen müssen.“
„Gibt es keine Schablonen oder Layouts, die man verwenden könnte?“, fragte Leshag.
„Wo denkst du hin? Vor dieser Maschine sitzen in der Regel Profis, die sich alle Parameter selbst ausdenken. Diese Arbeit nimmt uns keiner ab. Also, was sollen wir programmieren?“
Leshag überlegte.
„Du sagtest, man könne eine ganze Welt damit simulieren? Dann mach das doch mal. Erschaffe uns eine Welt.“
„Zunächst brauchen wir einen Container“, erklärte Lenoma und drückte ein paar Tasten, „so, ein Container ist nun vorhanden. Man braucht das als Rahmen für das Simulationsobjekt. Wenn du eine Welt haben willst, stellt der Container in Etwa das Universum dar. Was nun?“
Leshag war nun Feuer und Flamme. „Dann mach' auch Sterne und das ganze andere Zeug.“
„Du stellst dir das alles so einfach vor, Leshag. Ich muss erst einen Eintrag für jede Objektgattung machen. Also Sterne ... Planeten ...Wie viele Planeten soll dein System haben?“ „Zwölf“, sagte er, „nein neun. Das müsste reichen.“
Lenoma tippte wie besessen auf der Tastatur herum. Die Monitore begannen, ein Abbild der Welt zu zeigen, wie sie soeben von ihr vorgegeben wurde. „Ich habe die Planeten zufällig anlegen lassen. Ist das in Ordnung?“
„Sicher“, sagte Leshag und sah fasziniert auf die Monitore, „diesen blauen da. Den möchte ich entwickeln lassen.“
„Den dritten?“, fragte Lenoma und markierte ihn mit dem Cursor, „Okay, dann verknüpfe ich seine Bahndaten mit dem internen Zeitsystem. Ich denke, es ist nicht schlecht, wenn wir eine unserer Minuten als ein Jahr auf dem blauen Planeten definieren.“
„Muss das unterschiedlich sein?“, fragte Leshag.
„Wenn du nicht sehen willst, ob deine Welt Fortschritte macht, kann ich es ja auch 1:1 festlegen.“
„Nein, nein, du hast schon recht, ich will ja auch sehen, wie es läuft.“
„Was ist mit Pflanzen, Tieren oder ... Menschen?“
„Das kann man alles schon vorgeben?“, fragte Leshag, „Man muss also nicht bei Null anfangen?“
„Nein, das bleibt ganz dir überlassen. Ich würde vorschlagen, es einzurichten, da wir sonst bei der gewählten Zeiteinteilung ewig warten müssten, bevor etwas interessantes passiert.“
Leshag deutete auf die Konsole und meinte:
„Dann will ich dir auch nicht im Weg stehen. Lenoma, mach uns eine fertige Welt. Ich bin schon ganz gespannt.“
Auf den Monitoren begannen gravierende Änderungen, als Lenoma quasi im Minutentakt das Sonnenlicht, die Meere, Landmassen, Pflanzen, Tiere und zum Schluss sogar Menschen in das System programmierte.
„Fertig!“, rief sie nach sieben Minuten, „jetzt brauchen wir nur noch einen Namen für unsere Simulation.“
„Was hältst du von 'Erde'?“, fragte Leshag.
„Erde?“, wunderte sich Lenoma, „Wie kommst du nur immer auf so komische Namen? Aber gut, dann soll die Welt 'Erde' heißen. So, jetzt ist unser System auf dem Großrechner im Institut untergebracht. Wenn wir jetzt von Zeit zu Zeit hineinschauen, werden wir sehen, was dort nach unseren Vorgaben geschehen ist.“
Sie schaltete den Computer wieder ab.
„Was machst du?“, fragte Leshag, „Ich dachte, wir schauen eine zeitlang zu.“
„Wie lange willst du denn davor hocken? Eine Minute ist ein Jahr dort. Eine Stunde hier sind nur 60 Jahre dort. Das lohnt sich noch nicht. Wenn wir morgen um diese Zeit noch einmal nachsehen – das könnte sich lohnen, aber jetzt sollten wir erst einmal etwas relaxen. Die Tipperei war doch etwas anstrengend. Möchtest du etwas trinken?“
Sie stiegen aus dem Keller über die Treppe in den ersten Stock, wo Lenoma ihnen etwas zu trinken aus dem Kühlschrank holte.
„Eigentlich bin ich jetzt noch neugieriger, als vorher“, gab Leshag zu, „du hast wirklich etwas drauf, Lenoma.“
„Danke für die Blumen“, gab sie zurück, nachdem sie ihr Glas abgesetzt hatte.
„Nein im Ernst“, sagte Leshag, „ich habe bisher immer gedacht, du seist ein komisches Mädchen, aber irgendwie kommst du mir gar nicht mehr komisch vor.“
Sie sah ihn mit zusammen gekniffenen Augen an. „Komisches Mädchen? Weil ich mit diesen Modepüppchen nichts anfangen kann, mit denen deine komischen Freunde immer anbandeln wollen? Danke, dann bin ich gern komisch.“
„Vielleicht habe ich es nicht richtig ausgedrückt“, sagte Leshag, „aber ich finde dich eigentlich ganz nett. Vielleicht könnten wir doch so etwas wie Freunde werden.“
„So etwas wie Freunde!“, spottete Lenoma, „Das habe ich mir schon immer gewünscht.“
„Verdammt, ich bin nicht gut darin, über solche Themen zu sprechen.“
„Wie lange hast du noch Zeit?“, fragte Lenoma plötzlich, „Wann musst du wieder zu Hause sein?“
„Ähm, um neun, warum fragst du?“
„Dann könnten wir noch zusammen einen Film anschauen. Wir haben Omnivideo und ich darf mir einen Film aussuchen, wenn ich möchte. Meine Eltern haben es erlaubt. Hast du Lust?“
„Gern!“, sagte Leshag, der froh war, sich wieder auf sicherem Boden zu befinden.
So nahmen sie auf der breiten Couch Platz und Lenoma wählte einen Film aus, der gleich darauf startete. Irgendwann griff Lenoma wie zufällig nach Leshags Hand und hielt sie fest. Leshag entzog sie ihr nicht. Es fühlte sich gut an. Später lehnte sich Lenoma an seine Schulter und er musste sich eingestehen, dass er die Nähe des Mädchens genoss. Er hätte später nicht sagen können, welchen Film sie eigentlich angeschaut hatten. Es war nicht wichtig.
Lenoma und Leshag erlebten in den Wochen und Monaten danach die erste Liebe ihres Lebens und alles bekam in ihrem kleinen Kosmos einen anderen Stellenwert.
Erde entwickelte sich prächtig. Die Evolutionsparameter, die für diese Welt ausgewählt worden waren, führten zu einer sehr abwechslungsreichen und spannenden Entwicklung. Generationen von Menschen wurden geboren und starben. Sie entwickelten sich und stellten sich die Frage nach dem Sinn ihrer Existenz. Leider hatten ihre Schöpfer inzwischen andere Interessen. Vielleicht würden sie sich eines Tages an ihr kleines Projekt erinnern und sich wieder darum kümmern können, doch bis es soweit war, würden noch viele viele Minutenjahre ins Land gehen.