- Details
- Zugriffe: 3209
Firmware
"Und was ist so Besonderes daran?", fragte ich Remo und betrachtete den kleinen MP3-Player, den er mir in die Hand gedrückt hatte.
Remo setzte ein Lächeln auf, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Auch, wenn ich bekannt dafür bin, dass ich gern etwas übertreibe, kann ich mit Recht sagen, dass es dämonisch wirkte. Ich hatte mich immer schon gefragt, was Remo eigentlich für ein Name war. Der Junge hatte ungefähr mein Alter und war irgendwann während des laufenden Schuljahres in meine Klasse gekommen. Es hieß, er habe auf einer anderen Schule Probleme gehabt und schnell verbreiteten sich Gerüchte, dass etwas mit ihm nicht stimmen würde.
Wie auch immer: Der Platz neben mir war frei und so setzte sich Remo neben mich. Ich kann nicht sagen, dass wir Freunde wurden, doch da er fast denselben Heimweg hatte, verbrachten wir einige Zeit miteinander.
"Das Gerät ist nichts Besonderes", sagte er. "Es ist ein ganz normaler iPod. Aber ich habe im Internet auf irgendeiner Seite ein Firmware-Update gesaugt und es auf den iPod gezogen."
"Er läuft aber noch, oder?", fragte ich.
"Das kann man wohl sagen", meinte er mit einer sehr gewichtigen Betonung. "Am Besten funktioniert es mit den alten Sachen von Tangerine Dream. Ich habe mal die CD-Version von Phaedra draufgezogen. Hör es dir doch mal an – aber sei vorsichtig."
Ich schüttelte den Kopf und steckte die kleinen Ohrstecker in meine Ohren. Tangerine Dream war zwar nicht meine Musik und eigentlich kannte ich den Namen der Band nur von meinem Vater, der immer in den höchsten Tönen von diesen Helden des elektronischen Aufbruchs schwärmte, aber ich wollte, dass er endlich Ruhe gab, also tat ich ihm den Gefallen. Ich ließ den ersten Titel anlaufen, während Remo mich nicht aus den Augen ließ. Manchmal glaubte ich, die anderen hatten Recht, wenn sie behaupteten, dass mit ihm etwas nicht stimmte.
Als ich die ersten Töne hörte, spürte ich, wie ein Schwindel von mir Besitz ergriff. Ich hatte das Bedürfnis mich irgendwo festzuhalten. Diese Musik … es war nicht einfach Musik, die würde ich mit den Ohren hören, aber es fühlte sich an, als wanderte sie von meinem Kopf aus über den gesamten Körper – als übernehme sie die Kontrolle über meine Muskeln, mein Denken – einfach alles. Es war faszinierend, aber auch auf eine Art beängstigend. Remo sah mich noch immer an. Er sagte etwas, doch es erreichte mich nicht mehr. Ich nahm ihn überhaupt nur noch nebelhaft wahr. Ich spürte, dass etwas mit mir geschah und wollte mir die Ohrstecker herausreißen, doch meine Hände gehorchten mir nicht mehr. Ich spürte noch, wie mir das Adrenalin in die Adern schoss und ich das Gefühl hatte, zu platzen – dann wusste ich nichts mehr.
Als ich wieder klar denken konnte, merkte ich, dass ich auf dem Boden lag. Ein salziger Geschmack auf meiner Zunge verriet mir, dass meine Lippe blutete. Meine Hand tat mir weh. Dann bemerkte ich Remo, der über mir stand, den iPod in der Hand und mich interessiert, aber nicht beunruhigt, ansah.
"Was war los?", fragte ich mit kratziger Stimme. "Bin ich gefallen?"
Remo kicherte auf eine fast hysterische Weise.
"Gefallen bist du irgendwie schon", sagte er. "Aber wir sollten jetzt hier verschwinden, sonst bekommen wir noch Schwierigkeiten."
Ich hatte keine Ahnung, was er meinte und rappelte mich wieder auf. Als ich mich umsah, hatte ich das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Mehrere Autos, die am Straßenrand geparkt standen, hatten eingeschlagene Scheiben. Teilweise hatten sie Beulen in den Türen und der Lack war zerkratzt. Erst jetzt nahm ich wahr, dass eine Alarmanlage in unserer Nähe schrill heulte.
"Was zum Teufel …?"
Remo zog mich am Arm. "Frag jetzt nicht. Wir müssen hier weg! Komm!"
Er zog mich mehr hinter sich her, als dass ich selbst lief und erst, als wir einige Straßen weiter gelaufen waren und ich nicht mehr konnte, blieben wir stehen.
"Was – verdammt noch mal – ist eigentlich passiert?", fragte ich nun wütend. "Ich will endlich Antworten!"
"Ist ja schon gut", versuchte Remo mich zu beschwichtigen. "Es war ein kleiner Test. Die neue Firmware auf dem iPod ist etwas ganz Besonderes. Sie kann Musik direkt in Emotionen umsetzen und sie in einem Maße verstärken, dass man sie – wenn überhaupt – nur sehr schwer kontrollieren kann. Tangerine Dream hat bei dir Aggressionen freigesetzt, wie ich es selbst nicht erwartet habe. Du hast gewütet wie ein Berserker. Du hast Scheiben eingeworfen, teilweise sogar mit der bloßen Faust eingeschlagen und wie ein Wilder gegen Autotüren getreten und mit Steinen über den Lack gekratzt. Ich wollte dich erst noch daran hindern, aber ich war mir sicher, du würdest mich umbringen, wenn ich es versuchen würde. Nach einiger Zeit bist du einfach zusammengeklappt, als hätte man dir den Strom abgestellt. Es war fantastisch!"
"Bist du vollkommen übergeschnappt!", fuhr ich ihn an. "Wie kannst du mich einfach für so einen Wahnsinn als Versuchskaninchen benutzen? Es hätte Wer-weiß-was geschehen können! Wo hast du eigentlich diese Höllensoftware her?"
"Keine Ahnung – so eine Seite halt, wo man allerhand Cracks und Hacks findet. Ich glaube, es ist eine russische Seite … oder wars eine aus Togo? Ich weiß nicht mehr. Aber das ist ein geiles Teil, oder? Jetzt, wo ich weiß, dass es funktioniert, kann ich mir überlegen, wem ich damit eins auswische. Es gibt so Einige in der Klasse, die nur auf mir herumhacken, aber jetzt ist Schluss! Jetzt bin ich am Zug!"
"Remo, du bist vollkommen durchgeknallt!", rief ich. "Du musst diese Firmware da wieder runterschmeißen oder den iPod zerstören. Das ist echt gefährlich."
"Ja", sagte er gedehnt, das ist es, und ich werde es ihnen zeigen."
Ich baute mich vor ihm auf.
"Das wirst du nicht tun!", brüllte ich ihn an. "Und wenn ich es der Polizei erzählen muss!"
Unvermittelt schlug er mich mit der Faust ins Gesicht, dass ich nur noch Sterne sah und mich auf dem Boden sitzend wiederfand. Die Lippe blutete wieder stärker und mein linkes Auge fühlte sich geschwollen an.
"Du Wicht kommst mir nicht in die Quere!", sagte er in scharfem Ton. "Du bist genauso, wie die Anderen. Geh doch zur Polizei! Was willst du denen sagen? Dass ich einen iPod habe? Da werden sie natürlich gleich mit eingeschaltetem Blaulicht kommen, um mich festzunehmen."
Sein Spott tat in diesem Augenblick fast mehr weh als mein Auge. Ich fühlte mich richtig mies.
Ohne mich noch weiter zu beachten, drehte er sich um und lief fort. An diesem Tag sah ich ihn nicht wieder – auch nicht an den drei folgenden Tagen. Er wäre krank, hieß es. Mir war es Recht, denn ich hatte, weiß Gott, kein Verlangen danach, ihn zu treffen. Doch am vierten Tag erschien er wieder in der Schule, setzte sich neben mich und tat, als wäre nie etwas geschehen. Ich strafte ihn mit Missachtung und wechselte kein Wort mit ihm. Remo schien das nichts auszumachen. Er trug sogar eine ausnehmend gute Laune zur Schau, wie ich es sonst von ihm nicht gewohnt war. In der großen Pause sprach er sogar mit einigen Klassenkameraden, von denen ich wusste, dass er sie sogar hasste. Er tat jedoch, als suche er nun ihre Freundschaft.
"Was hältst du davon?", fragte eine Mädchenstimme hinter mir. Ich drehte mich herum und Lena stand hinter mir. Sie war ebenfalls in meiner Klasse und ich denke, die Hälfte der Jungen wären bereit gewesen, sich ein Bein auszureißen, um mit ihr gehen zu können. Ich war einer dieser Unglücklichen und versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich hatte nämlich bisher nicht den Eindruck, dass sie mich überhaupt wahrgenommen hatte. So war ich mehr als nur überrascht, dass sie mich nach meiner Meinung fragte.
Sie deutete mit dem Kopf auf die Gruppe um Remo.
"So kenne ich ihn gar nicht. Ich traue dem Braten nicht."
"Ich auch nicht", stimmte ich ihr zu.
Zum ersten Mal sah sie mich direkt an und erschrak. "Meine Güte, was ist mit deinem Gesicht geschehen?"
Unvermittelt tastete sie nach meiner verkrusteten Lippe und ich zuckte zurück – nicht, weil es wehgetan hätte, sondern weil mich die Berührung elektrisierte. Ich ließ Lena jedoch in dem Glauben, dass es Schmerz war.
"Das kann ich dir nicht sagen. Ich habe halt Pech gehabt."
"Pech?!", meinte sie skeptisch. "Aber wenn du es nicht erzählen willst … Es hat aber nichts mit diesem Remo zu tun, oder? Ich meine, ihr Zwei macht Euch ja immer gemeinsam auf den Heimweg …"
Sie musste mir angesehen haben, dass sie ins Schwarze getroffen hatte, denn sie nickte nur und bohrte nicht weiter, wofür ich ihr dankbar war. Sie hielt sich leicht hinter mir und beobachtete mit mir zusammen Remo, wie er mit den anderen Jungen scherzte. Ein paar von ihnen hatten ihre iPods in der Hand und man führte sich gegenseitig die neuesten Errungenschaften vor, die man heruntergeladen hatte. Mir wurde ganz anders, als ich das sah. Lena, die noch nie so dicht bei mir gestanden hatte, machte mich nervös. Sie spürte jedoch, dass mich etwas beunruhigte.
"Also ganz ehrlich", sagte sie. "Du hast doch etwas. Und ich bin sicher, dass es mit diesem Remo zu tun hat. Was macht dich so unruhig?"
Ich schluckte ein paar Mal und fasste all meinen Mut zusammen. "Du", sagte ich mit heiserer Stimme.
"Ich?", fragte sie lächelnd und schubste mich leicht mit ihrem Körper. "Du bist süß."
"Vielleicht könnten wir uns ja heute Nachmittag auf ein Eis treffen oder so", schlug ich vor, nachdem ich jetzt schon so weit gegangen war. Außerdem hatte ich Angst, dass mich der Mut wieder verlassen würde, wenn ich es nicht jetzt sofort sagen würde.
"Bei der Gelegenheit könnten wir auch darüber reden, was mich an Remo stört. Was meinst du?"
Sie schien einen Moment zu überlegen. Natürlich würde sie ablehnen und ich würde mir vorkommen wie ein Idiot. Trotzdem konnte ich mein Mundwerk nicht unter Kontrolle bringen.
"Natürlich nur, wenn du magst. Oder triffst du dich mit deinem Freund?"
Ihre Miene überschattete sich einen Augenblick. "Was redet Ihr alle über meinen Freund? Ich habe überhaupt keinen Freund. Warum dichten es mir alle an?"
"Ich … äh … keine Ahnung. Ich dachte … hast du denn Lust?"
Lena lächelte wieder. "Ja, ich habe Lust. Lass uns ein Eis essen gehen und reden. Was meinst du … um fünf?"
"Perfekt", sagte ich und musste mich zwingen, mein Grinsen unter Kontrolle zu bringen.
Die Schulglocke läutete zum Unterricht und wir sahen wieder zu Remo hinüber. Die Jungen steckten ihre MP3-Player wieder weg und kamen uns entgegen. Das Erste, was mir auffiel, war der zufriedene Ausdruck in Remos Gesicht. Uns war vermutlich bei unserer Verabredung etwas entgangen, aber ich war sicher, dass er etwas im Schilde führte.
Nach dem Unterricht blieb ich einen Moment länger als nötig in der Klasse und ordnete meine Unterlagen. Unsere Jungen-Clique um den Wortführer Kevin war bereits gegangen. Remo maß mich mit einem undeutbaren Blick und ließ mich sitzen. Mir schien es, als hätte er nur darauf gewartet, bis die Clique weg war. Ich beeilte mich nun, ebenfalls loszukommen, denn ich hatte mir vorgenommen, zu beobachten, was Remo vorhatte. Noch in der Halle trat mir Lena entgegen, die hinter einer Säule gewartet haben musste.
"Man mag mich ja für blöd halten", sagte sie, "und einige tun das sogar, weil ich blond bin, aber meinst du, ich hätte nicht bemerkt, dass da etwas im Gange ist? Ich habe eben Remo gesehen, der sich hier vorbeischlich und sich dauernd umgesehen hatte. Ich glaube, er verfolgt Kevin und seine Leute. Jetzt tauchst du auf und verhältst dich genauso. Jetzt rede schon! Was ist los? Deine Verletzungen haben doch sicherlich auch damit zu tun, oder? Und lüg mich nicht an."
Ich ergriff ihren Arm und zog sie hinter mir her.
"Hey! Was soll das?"
"Du willst wissen, was los ist? Dann komm mit! Wir müssen die Jungen beobachten. Vielleicht auch eingreifen. Ich bin mir noch nicht sicher."
Als wir wieder Anschluss zu der Gruppe hatten, erzählte ich ihr, was sich ein paar Tage zuvor abgespielt hatte. Sie wollte es erst nicht glauben, doch dann zeigte ich ihr die Wunden an meiner rechten Hand und am Arm. Sie schluckte, als sie begriff, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.
"Das ist ja entsetzlich! Das Ding muss zerstört werden."
"Und zwar sehr bald", fügte ich hinzu.
In etwa hundert Metern Entfernung sahen wir, wie Kevin in seiner Tasche kramte. Seinen Bewegungen nach, war er dabei, seine Ohrstecker zu benutzen. Nur wenige Augenblicke später wurde sein Gang abgehackt und unsicher. Seine Arme ruderten herum. Als ein Kollege ihm helfen wollte, schlug er ihm brutal ins Gesicht. Der Junge hielt sich das Gesicht, aber Kevin war nicht mehr zu bremsen. Wie ein Wilder schlug er auf seinen Freund ein. Die Anderen stürzten hinzu und versuchten, ihn zu beruhigen, aber dadurch gerieten auch sie in die Schlägerei hinein. Kevin schien übermenschliche Kräfte zu entwickeln und ging mit unglaublicher Brutalität gegen seine Freunde vor.
"Was ist denn dort los?", fragte Lena fassungslos. "Das gibt es doch gar nicht! Kevin ist zwar in meinen Augen ein Idiot, aber so kenne ich ihn nicht."
"Wir müssen dorthin!", rief ich. "Es ist die verdammte Musik. Remo hat die Geräte vertauscht. Dieser Drecksack!"
"Was willst du denn tun?", wollte Lena wissen. "Soll er dich auch zusammenschlagen?"
"Es ist die Musik! Man muss ihm die Stecker aus den Ohren ziehen. Wenn ich das schaffe, haben wir gewonnen."
Wir rannten - wie von Furien gehetzt - zum Ort des Geschehens, als uns Remo den Weg versperrte.
"Ihr könnt jetzt nicht dorthin!", rief er. "Nicht, bis es vorbei ist!"
Ich hatte jedoch nicht vor, das jetzt mit ihm auszudiskutieren. Ich holte aus und revanchierte mich mit einem heftigen Schlag gegen sein Kinn. Lena trat ihm fast gleichzeitig mit voller Wucht gegen sein Schienbein. Remo sackte in sich zusammen und ächzte. Wir kümmerten uns nicht um ihn, sondern stürmten weiter. Die Jungens um Kevin lagen inzwischen am Boden und er trat immer wieder mit den Füßen nach ihnen. Unser Glück war, dass er uns den Rücken zuwandte und uns erst bemerkte, als es zu spät war. Mit einem Ruck riss ich ihm die Ohrstöpsel heraus. Der iPod löste sich von seinem Gürtel und fiel auf das Pflaster. Mit dem Absatz trat ich darauf und zerstörte das Gerät. Kevin hatte mich inzwischen am Kragen gepackt und ich erwartete seinen ersten Schlag, als seine Augen plötzlich einen fragenden Ausdruck annahmen. Er ließ mich los und sah sich um.
"Was … was war hier los?", fragte er hilflos. "Wer hat das getan?"
Die Freunde rappelten sich wieder auf und sahen Kevin verängstigt an. "Du warst das!", sagten sie. "Du bist ohne Vorwarnung über uns hergefallen, du Arsch."
"Lasst ihn!", sagte ich. "Er konnte nichts dafür. Es war die Musik – die Musik auf Remos iPod. Sie war irgendwie manipuliert. Er hat sich irgendeine rätselhafte Betriebssoftware für sein iPod aus dem Internet geladen. Er wollte, dass das geschieht und hat die Geräte vertauscht. Mir ist das vor ein paar Tagen auch passiert."
Ich deutete auf die Verkrustungen meiner Schnittwunden an meiner Hand.
"Remo!"
Kevin spie den Namen förmlich aus und sah sich um. Remo war nirgends zu sehen.
Lena lehnte sich gegen mich und ich legte wie zufällig meinen Arm um sie. Wir zwei blieben an diesem Nachmittag zusammen und aßen unser Eis. Es blieb in der nächsten Zeit nicht bei dem Einen und wir genossen die gemeinsame Zeit sehr.
Remo erschien am folgenden Tag nicht in der Schule. Er erschien überhaupt nicht mehr in unserer Schule. Als ich mit Lena einige Tage später an dem Haus vorbeikam, in dem Remo gewohnt hatte, bemerkten wir, dass keine Gardinen mehr vor den Fenstern der Wohnung hingen. Sie war verlassen. Niemand wusste, wohin die Familie gezogen war. Bis heute habe ich nicht erfahren, was aus ihm geworden ist.
Das Einzige, das mir von ihm geblieben war, ist mein Misstrauen gegenüber iPods.