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Bäume
Die Feuer waren heruntergebrannt und die meisten der Feiernden hatten sich auf den Heimweg gemacht. Waron blickte in die schwindende Glut und dachte nach.
»Woran denkst du?«, fragte sein Vater Teneron.
»Es ist nichts.«
Teneron lächelte. »Ich kenne dich, mein Sohn. Du machst dir Gedanken um das, was jetzt vor dir liegt, nicht wahr?«
Waron fuhr zu ihm herum. »Lass mich einfach in Ruhe, Vater! Was glaubst du denn? Es war mein Großjahrfest. Ich zähle seit eben zu den Erwachsenen. Aber das Fest ist vorbei und die Feuer sind heruntergebrannt. Ich weiß genau, was vor mir liegt. Aber muss mir das auch noch gefallen?«
Teneron legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. »Junge, ich will dir doch nichts, aber es ist der Lauf der Dinge. Ich musste es tun und vor mir mein Vater. Die Tradition ist uralt, aber wenn wir unsere Traditionen nicht mehr achten, werden wir eines Tages verschwunden sein.«
»Das ist doch alles nur Gerede! Ich bin hier aufgewachsen. Dieser Baum ist meine Heimat. Er gab mir Wohnung, ernährte mich durch seine Früchte und bot mit Schutz vor Raubtieren durch seine Stärke und Höhe. Das alles soll ich verlassen - wegen einer Tradition?«
»Eines Tages wirst du es verstehen. Du musst dir jetzt einen eigenen Baum suchen, der einst das Heim deiner Familie sein wird. Die Tradition bestimmt lediglich den Zeitpunkt, da deine Suche zu beginnen hat: Die Nacht nach dem Großjahrfest.«
Waron sah seinen Vater prüfend an. »Es ist dir absolut ernst damit, oder? Ich kann nicht begreifen, was es mit Tradition zu tun hat, seine Kinder in die Wildnis zu schicken und der Gefahr auszusetzen, dort zu sterben.«
»Mein Sohn, du bist jetzt erwachsen, aber noch zu jung, um die Notwendigkeit dieses Brauches zu verstehen. Mir erging es damals ähnlich, doch heute verstehe ich es. Du wirst es auch verstehen – später.«
Waron lachte humorlos auf. »Vater, ich werde mich nicht widersetzen, aber ich heiße auch nicht gut, was man von mir verlangt. Dann werden sich unsere Wege jetzt trennen.«
Teneron nickte. »Wenn die letzte Glut erloschen ist, musst du aufbrechen. Vergiss nicht, den Wasserschlauch mitzunehmen und das geschenkte Brot. Je eher du aufbrichst, um so eher kannst du als neuer Baumherr zurückkehren. Vorher brauchst du über dieses Mädchen nicht einmal nachdenken.«
Waron fuhr herum. »Von welchem Mädchen sprichst du?«
»Stell dich nicht dümmer an, als du bist. Dein Vater ist alt, aber nicht senil. Ich habe deine Blicke gesehen. Lumena wirkt so zart und schüchtern, aber ich habe Augen im Kopf. Ich habe sie ebenfalls mit den anderen an den Feuern tanzen sehen. Erzähl mir jetzt nicht, dir wäre entgangen, wie sie getanzt hat, wie ihre langen, schwarzen Haare geflogen sind. Dieses Mädchen war das Feuer. Und glaub deinem alten Vater: Sie hat nur für dich getanzt.«
»Das ist Blödsinn! Sie hat mit den anderen Mädchen getanzt.«
Teneron lächelte. »Wusste ich es doch, dass es Lumena war, die du angestarrt hast. Junge, such dir deinen Baum und dann geh zu ihr. Ihr würdet gut zueinander passen.«
Waron schüttelte den Kopf. »Selbst, wenn du wirklich Recht hättest: Lumena weiß nicht einmal, dass ich existiere.«
»Wenn du das weißt ...«, sagte Teneron und sein Lächeln wurde noch breiter.
Er erhob sich und zog seinen Sohn an der Hand empor. »Komm Junge, lass dich noch mal drücken, bevor du deinen Weg gehst.«
Mit gemischten Gefühlen ließ Waron sich von seinem Vater umarmen. Er wusste genau, dass alles anders sein würde, wenn sie sich das nächste Mal treffen würden – wenn er überhaupt zurückkehren würde.
»Pass auf dich auf, Junge.«
»Und du grüß Mutter und Enia.«
»Mach ich.«
Teneron wandte sich ab und verschwand mit wenigen Schritten in der Dunkelheit. Seine Familie war nun vollständig auf Sord, ihrem Familienbaum. Wehmütig sah Waron zur mächtigen Krone empor, die nur noch als Schatten vor dem nur wenig helleren Himmel zu erkennen war. Er wusste nicht, ob seine Leute ihn beobachteten. Es war ihm auch gleich, denn nach der verdammten Tradition durfte niemand aus seiner Familie mit ihm sprechen, bevor er als Baumherr zurückkehrte. Baumherr! Die meisten der infrage kommenden Bäume waren längst bewohnt und schieden von vornherein aus.
Die letzte Glut erlosch und Waron griff nach seiner Ausrüstung. Er würde ein ordentliches Stück durch den dichten Wald zu laufen haben, bis er auf einen großen, unbewohnten Baum hoffen durfte. Dazu kam hinzu, dass sich nicht jeder Baum für eine Wohnung eignete. Weidenbäume waren zu weich, Trakkibäume zu niedrig, Hivbäume zu schmal. Was er brauchte, war ein Guanbaum, wie Sord einer war. Guanbäume waren besonders hoch, besaßen eine mehrstufige Krone mit dichten Blättern und boten Schutz gegen fast alle Wetterbedingungen. Im Sommer lieferten sie die nahrhaften Guanfrüchte, die sich für den Winter lagern ließen. Er hoffte, dass es ihm gelingen würde, einen solchen Baum zu finden, bevor seine Vorräte zur Neige gingen.
Mit den Füßen trat er die Asche auseinander, sah sich noch einmal um und machte sich seufzend auf den Weg. Der Himmel war kaum zu erkennen, daher war es Waron im dichten Wald nicht möglich, sich nach den Sternen zu orientieren. Die nähere Umgebung von Sord kannte er wie seine eigene Tasche und so brauchte er nicht zu fürchten, in der Dunkelheit gegen einen Stamm zu laufen.
Die nächtlichen Geräusche des Waldes nahmen allmählich zu und er hoffte, dass in dieser Nacht keine Schleicher unterwegs waren. Schleicher waren große Katzen, die vorwiegend nachts auf die Jagd gingen und die auch einen Menschen nicht verschmähten, wenn sie auf einen trafen. Bei Tage hätte er Chancen, sich gegen ein solches Tier zu wehren, aber in der Dunkelheit ...?
Ein Knacken ließ ihn frösteln. Waron blieb stehen und lauschte. Das Knacken wiederholte sich und dann vernahm er leise Schritte - Schritte eines Menschen.
»Hallo, wer ist da?«
Die Schritte kamen näher und dann stand sie vor ihm: Eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren und einem glatten, bodenlangen Kleid, das ihre schlanke Figur betonte.
»Lumena?«, fragte Waron ungläubig. »Was machst du hier?«
Sie lächelte. »Na, was schon? Du wirst uns verlassen, heut Nacht.«
»Ich muss meinen Baum suchen.«
»Ich weiß. Ich wollte dir Glück wünschen.«
»Wissen deine Eltern, dass du hier bist?« Waron blickte sich misstrauisch um. »Wenn sie uns zusammen sehen ...«
Lumena winkte ab. »Vielleicht ahnen sie es. Mutter hat nicht gefragt.«
»Aber wieso begibst du dich in Gefahr?«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Pscht. Ich hab was für dich.«
Sie griff in eine Tasche ihres Kleides und holte ein Glas hervor, in dem etwas leuchtete.
»Das sind Leuchtkäfer. Sie leuchten jede Nacht mehrere Stunden. Sie sollen dir den Weg weisen.«
Waron nahm das Glas in die Hand und hielt es hoch. »Das kann ich doch nicht annehmen.«
Wieder drückte ihr Finger auf seine Lippen. »Pscht. Du wirst doch mein Geschenk nicht ablehnen.« Rasch schlang sie ein Tuch um seinen Hals. »Das hab ich gemacht. Es soll dich warm halten ... und dich an mich erinnern ...«
»Lumena, ich ... Warum tust du das?«
»Finde deinen Baum, Waron. Ich hoffe, ein Baumherr interessiert sich noch für eine einfache Frau.«
»Du meinst wirklich ...?«
Sie trat einen Schritt auf ihn zu und gab ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen, dann lief sie fort. »Viel Glück, Waron!«
Er starrte einen Moment in die Dunkelheit, doch sie kehrte nicht zurück. Ob sein Vater Recht hatte und Lumena sehr wohl wusste, dass es ihn gab? Lächelnd fuhr er sich mit den Fingerkuppen über seine Lippen. Dort hatte sie ihn geküsst. Der Wald schien mit einem Mal eine Spur freundlicher geworden zu sein.
Er lief eine Weile und erreichte eine Gegend, die ihm fremd war. Die Leuchtkäfer begaben sich allmählich zur Ruhe und es hatte keinen Sinn mehr, weiter zu laufen. Er suchte sich einen Baum, kletterte hinauf und fand eine Stelle in den Ästen, wo er den Rest der Nacht verbringen würde. Es war ein junger Guanbaum. In hundert Jahren würde ein junger Mann wie er diesen Baum möglicherweise zu seinem Baum erwählen. Manche der Alten sagten sogar, dass es anders herum wäre und der Baum würde sich seinen Herrn wählen, aber das war natürlich blanker Unsinn.
Waron erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen ihn an der Nase kitzelten. Verschlafen öffnete er seine Augen und sah sich um. Der für die Nacht ausgewählte Platz war gut gewählt. Er lag hoch genug, um für die nächtlichen Räuber unerreichbar zu sein. Selbst ein Schleicher hätte sich schwergetan, denn so geschickt, wie sie am Boden jagen konnten, so schlecht waren sie im Klettern.
Er holte ein Stück von dem Brot hervor, das er beim Fest von den anderen bekommen hatte, und nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserschlauch. Er tränkte ein paar Brotkrumen mit Wasser und warf sie vorsichtig in das Glas mit den Käfern. Wenn sie ihm in den folgenden Nächten von Nutzen sein sollten, musste er sie füttern. Sein Blick fiel auf das Tuch, das Lumena ihm umgelegt hatte. Behutsam nahm er es ab und ließ es durch seine Finger gleiten. Wehmütig roch er daran und meinte, etwas von Lumenas Duft daran zu entdecken. Es war aus einem hauchdünnen Stoff gewebt und trug das Muster ihrer Familie. Wenn er es bisher nicht gewusst hatte - jetzt wurde es ihm klar. Seine Suche nach einem Familienbaum würde er für sie machen. Lumena sollte die Herrin seines Baumes werden. Er musste nur einen geeigneten Baum finden und dann würde er sie fragen.
Seine Gedanken stockten. Das waren doch Hirngespinste, denn er stand ja am Anfang seiner Suche. Seufzend kletterte er den Stamm herunter und sprang das letzte Stück auf den weichen Waldboden. Sorgsam blickte er sich um. Es war niemand zu sehen und so machte er sich auf den Weg. Die Gegend war ihm unbekannt, aber das war von vornherein klar gewesen. Im bekannten Teil des Waldes gab es keine geeigneten Familienbäume, die nicht schon bewohnt waren.
Sein Weg führte ihn immer tiefer in den Wald hinein und wiederholt betrachtete er Guanbäume, an denen er vorbeikam, aber nie waren sie alt oder ausladend genug, um für seine Zwecke geeignet zu sein.
Am Nachmittag, seine Beine wurden allmählich müde, erreichte er eine Lichtung. Solche Plätze waren selten im Wald und daher äußerst begehrt. Was an dieser Lichtung auffiel, war ein riesiger Baum in ihrer Mitte. Seine Größe beeindruckte Waron und bewundernd blickte er an ihm empor. Es war definitiv kein Guanbaum, das erkannte er sofort, doch konnte er nicht erkennen, um was es sich stattdessen handelte. Das war überraschend, lernte man doch als Kind bereits alle Baumarten, die es gab. Jedenfalls hatte er das bisher angenommen.
Während er in die Betrachtung des Baums vertieft war, hörte er ein Knacken im Unterholz. Er fuhr herum und sah einen Waldspringer auf sich zu laufen. Diese Tiere waren harmlos, aber die Tatsache, dass dieses scheue Tier direkt auf ihn zukam, ließ ihn misstrauisch werden. Es war ein junger Waldspringer, Waron erkannte es an den nur kleinen Hörnern. Erschreckt bemerkte das kleine Huftier ihn, verzögerte einen Moment, um dann in einem Bogen an ihm vorbeizulaufen, direkt auf den Baum zu, der mitten auf der Lichtung stand. Die Zweige begannen zu zittern und ein bedrohliches Knarren ertönte aus dem mächtigen Stamm. Der Waldspringer lief in panischer Angst immer weiter. Als er unter der Krone hindurchlief, geschah es: ein Hagel von messerscharfen Stacheln wurde aus der Krone auf des hilflose Tier abgefeuert und etliche drangen tief in seinen Körper ein. Es fiel einfach nur um und rührte sich nicht mehr.
Waron schaute ungläubig auf die Szene und fragte sich, was er da eben erlebt hatte. Da kam ihm ein Gedanke. Es musste sich um einen der sagenumwobenen Wehrbäume handeln. Die Alten erzählten gern Schauermärchen über diese Bäumen, die alles umbrachten, was sich in ihren Radius begab. Er hatte immer angenommen, dass es sich um Geschichten handelte, die man Kindern erzählte, um sie zu erschrecken. Jetzt erkannte er, dass es sie tatsächlich gab.
Hinter ihm ertönte erneut ein Knacken. Er hatte überhaupt nicht mehr darauf geachtet, dass der Waldspringer in Panik gewesen war. Es musste etwas hinter ihm her gewesen sein. Er fuhr herum und sah einen Schleicher, der sich ihm langsam und mit geschmeidigen Bewegungen näherte. Sein Fell war graugrün und war im Unterholz nicht leicht auszumachen. Die grünen, geschlitzten Augen waren dafür umso besser zu erkennen und Waron war sich darüber im Klaren, dass er am Boden keine Chance gegen diesen Gegner haben würde. Gehetzt blickte er sich um. Der Bewuchs um die Lichtung herum war in erster Linie Unterholz und konnte ihm keinen Schutz bieten. Der Schleicher kam allmählich näher, als wüsste er, dass ihm diese Beute nicht entkommen konnte. Waron wunderte sich, dass dieses Tier überhaupt schon jetzt auf der Jagd war., denn es handelte sich eigentlich um einen Nachtjäger. Der einzige Baum weit und breit war der Wehrbaum, doch er kam nicht infrage, obwohl er hoch genug war, um dem Schleicher zu entkommen. Sein Blick fiel wieder auf den toten Waldspringer. Er hatte keine Lust, so zu enden wie dieses Tier. Er war ratlos, wollte aber auch nicht dem Schleicher als Mahlzeit dienen.
Sein Traum vom eigenen Baum rückte in weite Ferne. Er dachte an Lumena, die ihm Glück gewünscht hatte, und die er bitten wollte, seine Baumherrin zu werden. Alles erschien ihm auf einmal unwirklich und unwahrscheinlich. Realer dagegen war diese große Katze, die ihm mit einem gewaltigen Satz näher kam. Warons Denken setzte aus und er rannte los. Er rannte einfach auf die Lichtung hinaus und hörte das Fauchen der Katze hinter sich, schlug Haken wie ein Langohr und schaffte es mehrfach, den scharfen Krallen des Schleichers zu entgehen. Es war jedoch nur eine Frage der Zeit, bis ihn seine Kräfte verlassen würden. Ein Sirren erfüllte plötzlich die Luft, und hätte er nicht im letzten Moment einen Haken geschlagen, wäre er von einigen Baumstacheln getroffen worden. Er war dem Wehrbaum viel zu nahe gekommen. Für einen Moment stand er wie erstarrt – unfähig, auch nur einen Finger zu rühren.
Der Schleicher hatte einen Stachel abbekommen und zog ihn sich mit den Zähnen aus dem Fell. Er fauchte und wurde vorsichtiger. Waron blickte dem Tier direkt in die Augen und Panik drohte, ihn zu überwältigen. Es kostete ihn alle Kraft, die er aufbringen konnte und endlich konnte er sich wieder bewegen. In langen Sätzen lief weiter auf den Baum zu, der schon mehrfach Stacheln auf ihn abgefeuert hatte, die ihn zum Glück bisher nur einmal gestreift hatten. Eine blutige Schramme zog sich quer über seine Stirn und brannte wie die Hölle. Heftig prallte er gegen den Stamm und zog sich eine Prellung am Ellenbogen zu. Schwer atmend lehnte er gegen den Stamm und suchte seinen Gegner. Der Schleicher umkreiste in einiger Entfernung den Wehrbaum, wagte es jedoch nicht mehr, sich ihm zu nähern. Überrascht stellte er fest, dass das Bombardement der Stacheln aufgehört hatte. Erschöpft schloss er die Augen und lehnte seinen Kopf gegen das Holz des mächtigen Stammes. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl eines elektrischen Schlages. Ihm wurde schwindelig und er musste sich festhalten.
»Was bist du?« Die Frage schien direkt in seinem Kopf zu entstehen.
Waron blickte sich gehetzt um, doch außer ihm und dem Schleicher, der ihn aus sicherer Entfernung belauerte, war niemand da.
»Was bist du?«
»Werd ich jetzt verrückt? Ich bin ein Mensch, was sonst?«
»Ein Mensch? Ich erinnere mich. Es ist lange her. Als ich noch jung war, lebten viele Menschen in dieser Gegend. Doch irgendwann sind sie weitergezogen. Du bist der erste Mensch, den ich nach so langer Zeit wahrnehme.«
»Weitergezogen? Wer spricht da überhaupt mit mir? Wo bist du?«
»Krok. Mein Name ist Krok. Und wo ich bin?«
Waron glaubte, ein leises Lachen zu vernehmen.
»Du stehst direkt bei mir und lehnst gegen mich. Es ist ein eigenartiges Gefühl, einen deiner Art zu spüren - nach all den vielen Jahren.«
Waron wandte sich um und legte seine Hände auf die rissige Rinde. »Das bist ... du? Werde ich jetzt verrückt? Ich rede mit einem Baum?«
»Ich bin Krok, einer der letzten Wehrbäume. Wir konnten immer schon denken. Wir waren die einzigen Bäume, die das konnten. Das machte uns sehr einsam. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt. Aber jetzt bist du da, Waron.«
»Woher kennst du meinen Namen?«
»Aus deinen Gedanken. Wehrbäume können die Gedanken von Menschen lesen.«
»Warum hast du eigentlich deine Stacheln auf mich abgefeuert? Es hätte mich töten können.«
»Das tut mir unendlich leid. Ich kann nur Gedanken von Menschen lesen, zu denen ich Kontakt hatte. Sonst spüre ich nur Annäherung und habe Angst, dass es ein Feind ist. Ich musste mich schützen.«
Waron sah an dem Stamm empor und begann, daran emporzuklettern.
»Was tust du, Waron?«
»Ich klettere an dir hoch, weil ich mir deine Krone anschauen möchte. Ich suche einen Familienbaum für mich und meine zukünftige Familie. Warum nicht einen Baum wählen, der uns wirklich beschützen kann?«
»Dann hätte ich immer Gesellschaft von Menschen? Richtig?«
»Das ist richtig. Wir würden auf dir wohnen und leben - wenn du das zulässt.«
»Ich wäre ein wirklich glücklicher Baum. Dann wähle auch ich dich.«
Waron musste an die Erzählungen der Alten denken. Der Baum wählt den Menschen. Er hätte nie geglaubt, dass es tatsächlich so wäre.
»Dann bist du jetzt mein Familienbaum. Ich werde dich für eine kurze Zeit verlassen, denn ich muss jemanden hierher holen.«
»Aber du wirst zurückkehren?«, fragte Krok. »Du wirst mich nicht wieder allein lassen?«
»Nein, ich ... Was weißt du über uns Menschen, Krok?«
»Ich war noch sehr jung. Damals lebten viele Menschen in den Kronen von uns. Es gab zwei verschiedene Arten. Die einen konnten kleine Menschen hervorbringen, die anderen nicht. Welcher Art gehörst du an, Waron?«
Waron lachte leise. »Ich bin das, was man einen Mann nennt. Kleine Menschen ... Kinder ... werden von Frauen geboren. Und eine solche Frau wartet auf mich bei meinem bisherigen Stamm. Ich will sie fragen, ob sie mit mir kommen und in deiner Krone leben will.«
»Und diese Frau ... Wird sie kleine Menschen hervorbringen, die dann auch auf mir herumklettern werden?«
»Krok, ich glaube, du weißt mehr über uns, als du mir erzählst«, sagte Waron.
Wieder vernahm Waron ein amüsiertes Lachen in seinem Kopf.
»Ich sehe, dass du es ehrlich meinst, Waron. Hol die Mutter deiner Kinder her. Ich werde sie willkommen heißen.«
Waron hörte ein helles Sirren und in einiger Entfernung schlug ein gewaltiger Stachel in den Boden.
»Nimm diesen Stachel und nutze ihn, wenn du auf Feinde triffst. Meine Stachel sind sehr stabil, scharfkantig und spitz. Du wirst dich damit gut verteidigen können.
Waron machte sich auf den Rückweg, nachdem er sicher war, dass der Schleicher sich nicht mehr in der Nähe aufhielt. Er zog den Stachel aus dem Boden und steckte ihn in seinen Gürtel.
Der Weg zurück zu seinen Eltern erschien ihm unendlich lang, weil er so aufgeregt war und es nicht erwarten konnte, Lumena auf ihrem Familienbaum aufzusuchen.
Endlich erreichte er den Guanbaum, der so lange seine Heimat gewesen war. Seine Schwester erblickte ihn als Erste und ließ sich an den bodenlangen Zweigen zu ihm hinabgleiten. Sofort sah sie den Zweig mit den Blättern, die Waron zum Beweis mitgebracht hatte. Freudig warf sie sich in seine Arme. »Du hast es geschafft! Ich wusste es, ich wusste es.«
Sein Vater kam hinzu und drückte ihn kurz an sich. »Meine Gratulation. Ich hab nie daran gezweifelt, dass du deinen Baum finden würdest. Lass mal sehen.«
Er griff nach dem Zweig und betrachtete ihn nachdenklich. »Ich habe solche Blätter schon mal gesehen, aber das ist sehr lange her. Hier in der Gegend gibt es solche Bäume nicht.«
Er schaute seinen Sohn an und deutete auf den langen Stachel. »Was ist das?«
Waron zog ihn aus dem Gürtel und hielt ihn seinem Vater hin. »Der stammt ebenfalls von dem Baum, den ich gefunden habe. Er gab ihn mir zur Verteidigung.«
Teneron sah ihn misstrauisch an. »Er gab ihn dir?«
Vorsichtig nahm er den Stachel entgegen und betrachtete ihn interessiert. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich jetzt sagen, er stamme von einem Wehrbaum. Nur, dass es solche Bäume überhaupt nicht gibt. Die Alten erzählen gern Geschichten über sie, aber es gibt niemanden, der jemals einen gesehen hätte. Es heißt immer nur, man kenne jemanden, der darüber berichtet hätte. Also mein Sohn: Was ist das hier wirklich für ein Ding?«
Waron lächelte seinen Vater an. »Vater, es gibt jemanden, der einen solchen Baum mit eigenen Augen gesehen hat ... mich. Dieser Stachel stammt von einem Wehrbaum. Beinahe hätte er mich getötet, doch als ich den Stamm berührte, nahm er Kontakt zu mir auf und ich konnte in Gedanken mit ihm sprechen.«
»In Gedanken?«, fragte Teneron ungläubig. »Mit einem Baum?«
»Ich war auch völlig verblüfft«, sagte Waron. »Es war der Baum. Ganz sicher. Er nannte mir seinen Namen und wusste von uns Menschen. Er meinte, die Menschen wären weitergezogen, als er noch ganz jung war. Und er hat mich erwählt, Vater. Dieser Baum wird mein Familienbaum werden.«
Teneron schüttelte den Kopf. »Ich habe es immer für ein Märchen der Alten gehalten.«
»Es ist kein Märchen, Vater. Ich werde Baumherr eines Wehrbaumes sein. Ich hoffe, dass ich deine Erwartungen nicht enttäuscht habe.«
Teneron erhob sich uns zog Waron in seine Arme. »Enttäuscht? Junge, du ahnst nicht, wie stolz ich auf dich bin.«
Waron löste sich aus der Umarmung. »Sei mir nicht böse, aber mein Baum wartet darauf, dass ich ihm mein Mädchen vorstelle.«
Teneron sah ihn an, als zweifle er am Verstand seines Sohnes. »Er wartet ... auf was?«
»Er möchte, dass ich ihm die Mutter meiner Kinder bringe. Deshalb sei mir nicht böse, wenn ich gleich wieder gehe, um Lumena zu fragen.«
Ein Lächeln umspielte Tenerons Lippen. »Dann lass dich von deinem alten Vater nicht aufhalten, Waron. Frag sie, aber ich denke, sie hat dir die Antwort bereits gegeben.«
»Wie meinst du das?«
Teneron deutete auf das Tuch, dass sein Sohn um den Hals geschlungen trug. »Ein schönes Tuch. Kann es sein, dass ich sein Muster sonst nur bei Lumenas Familie gesehen habe?«
Waron schwieg und berührte sanft den Stoff des Tuches.
»Wusste ich es doch«, lachte Teneron und schlug ihm leicht auf die Schulter. »Lauf. Man sollte eine Frau nicht warten lassen.«
Ängstlich folgte Lumena ihrem zukünftigen Mann durch das Unterholz. Als sie die Waldlichtung erreichten, deutete Waron auf den mächtigen Baum in ihrer Mitte.
»Das ist er. Das ist Krok, auf dem wir leben werden und auf dem wir unsere Kinder großziehen werden.«
»Aber das ist ... ein Wehrbaum. Nicht, dass ich schon einen gesehen hätte, aber mein Großvater hat mir davon erzählt.«
»Er tut uns nichts, glaub mir. Im Gegenteil, er freut sich darauf, dich kennenzulernen.«
Er fasste Lumena an der Hand und zog sie auf die Lichtung hinaus. Langsam schritten sie auf den Baum zu, und als sie die gewaltige Krone erreichten, begannen die Zweige zu zittern, doch das Bombardement der Stacheln blieb aus. Schließlich erreichten sie den Stamm.
»Leg deine Hände und deine Stirn an den Stamm. Krok wird dich so kennenlernen.«
Zögernd tat sie es und zuckte kurz zusammen, als der Baum Kontakt zu ihr aufnahm. »Willkommen Lumena. Ich freue mich, dass du gekommen bist. Wir sind nun eine Familie und ich werde es niemals zulassen, dass dieser Familie etwas geschieht. Das ist ein Versprechen und ein Wehrbaum hält ein Versprechen auf ewig.«
Lumena löste sich von dem Baum und sah Waron an.
»Und?«, fragte er. »Bist du zufrieden? Kannst du dir vorstellen, meine Frau zu werden und mit mir hier zu leben?«
Sie lächelte und schmiegte sich an ihn. »Oh ja, das kann ich mir sogar gut vorstellen. Du hättest mich auch fragen können, wenn du nicht so einen tollen Baum gefunden hättest. Jetzt kann ich es dir ja sagen. Ich wäre dir überall hin gefolgt.«
»Du verrücktes Mädchen! Und du hast mich immer Glauben gemacht, du würdest mich überhaupt nicht bemerken.«
Sie strahlte ihn an. »Oh, ich habe dich bemerkt. Und ich habe auch deine Blicke bemerkt, mit denen du mich angesehen hast. Aber ich habe auch gesehen, wie die anderen Mädchen dich angeschaut haben. Ich hatte einfach Angst, dass ...«
Waron umfasste sie mit den Armen und küsste sie sanft auf die Lippen.
»Diese Angst wäre nicht nötig gewesen, Lumena. Ich hatte immer nur Augen für dich.«