Extraktion

 

»Und Sie sind sich absolut sicher, dass Ihre Technologie den Durchbruch in der Versorgung der Welt mit billiger Energie bringen wird?«
Dr. Grisham vom molekularphysikalischen Institut in Cambridge wischt sich den Schweiß mit seinem Taschentuch von der Stirn. Er nickt langsam, ohne von seinen Instrumenten aufzusehen. »Es wird den ganzen Globus revolutionieren. Glauben Sie mir.«
Ich habe noch immer meine Zweifel. Als ich aus Canberra die Anweisung erhielt, dem britischen Forscher und seinem Team jede Unterstützung zu geben, die er benötigt, wusste ich nicht einmal, worum es eigentlich geht. Es hat mit Energie zu tun, so weit ist es klar. Aber ich kann mir noch immer nicht vorstellen, wie er mit seinen lächerlichen Apparaturen Energie erzeugen will - geschweige denn, billige Energie. Okay, ich bin auch nur der Ersatz des Ersatzmannes aus der Fachabteilung. Ich arbeite in der Zulassungsstelle des Energieministeriums und bin dort reiner Schreibtischtäter. Daher ist mir auch nicht wohl bei der Sache. Hier hätte es einen technischen Experten gebraucht und das bin ich leider nicht. Grisham hat das natürlich gleich durchschaut und behandelt mich entsprechend.
»Könnten Sie mir noch einmal erläutern, was uns eigentlich erwartet?« Hoffnungsvoll blicke ich Grisham an, dem anzusehen ist, wie sehr es ihn nervt, ständig von einem technischen Laien wie mir zu seinem Spezialgebiet befragt zu werden.
»Sie müssen ja nicht ins Detail gehen. Mich würde nur interessieren, wieso Sie ihre Versuche hier, bei uns in Südaustralien, durchführen müssen. Was gibt es hier so Besonderes? Lake Frome ist nicht einmal besonders eindrucksvoll. Wir gehen auf den Sommer zu. In wenigen Wochen wird er sicher sogar ausgetrocknet sein.«
Grisham faltet umständlich sein Tuch zusammen und stopft es sich in die Hosentasche.
»Gibson, Sie können wirklich eine Nervensäge sein. Haben Sie noch nicht mitbekommen, dass Energie auf unserem Planeten immer teurer - und irgendwann auch immer knapper - wird? Unsere fossilen Ressourcen sind am Ende. Wir haben es nur noch nicht mitbekommen. Damit meine ich die breite Masse der Bevölkerung. In unseren Kreisen ist das seit Langem bekannt und immer wieder haben wir gewarnt und gemahnt, dass wir alternative Energien dringend brauchen.«
»Was ist mit der Atomenergie?«, frage ich. »Soweit ich weiß, reicht die noch für etliche Jahrzehnte.«
»Atomenergie!« Grisham speit das Wort förmlich aus. »Bis wir die verbraucht haben, sitzen wir auf einem solch hohen Berg voller strahlendem Abfall, dass er uns ganz allmählich umbringen wird. Was wir brauchen, ist eine Energie, die universell verfügbar und absolut ungefährlich ist.«
Ich bin noch immer nicht überzeugt. »Und dieses ... Dings, das Ihre Leute dort im See versenkt haben, ist so ein Ei des Kolumbus? Aus diesem See wollen Sie die Energie der Zukunft gewinnen?«
»Natürlich! Dieses 'Dings' ist der von mir entwickelte Molekular-Kinetik-Extraktor und wird auch einen Skeptiker wie Sie gleich überzeugen. Das Prinzip ist so genial wie einfach. Der Ort hier ist nahezu ideal. Wir haben hier eine extrem hohe Sonneneinstrahlung und das Gelände ist weitläufig unbewohnt. Der Entzug von Wärme wird hier niemanden stören.«
Ich glaube, nicht recht zu hören. »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder? Sie wollen mir nicht erzählen, dass eine Wärmepumpe die Probleme der Welt löst? Solche Geräte gibt es bereits in allen Größen und Formen. Das ist ein alter Hut.«
Grisham wirft seine Hände in die Höhe. »Wieso muss immer ich das Glück haben, mit technisch ungebildeten Verwaltungsleuten zu tun zu haben? Ein Molekular-Kinetik-Extraktor mag einem technischen Laien zwar zunächst wie eine Wärmepumpe erscheinen, aber er ist weitaus mehr als das. Was wissen Sie über die physikalische Erscheinung von Wärme?«
Ich zucke mit den Achseln. »Keine Ahnung. Was meinen Sie?«
»Wenn ich einem Gegenstand oder einer Flüssigkeit Wärme zuführe, wird sie heiß. Aber was bewirkt, dass es heiß wird? Es sind die Moleküle. Sie schwingen, und je stärker sie schwingen, umso höher ist die Temperatur. Es ist also nichts anderes als Bewegungsenergie, die wir dem zu erhitzenden Medium zuführen.«
Er macht eine kreisende Bewegung mit seinem Arm. »Alles das hier wird von der Sonne mit kinetischer Energie versorgt. Solange die Sonne scheint, wird jedes verdammte Molekül in Schwingungen versetzt, und hier in Australien in besonderem Maße. In der Nacht wird diese ganze Wärme wieder abgegeben - die Schwingungen der Moleküle nehmen wieder ab.«
Er sieht mich auf eine Weise an, die mir unmissverständlich zeigt, was er von mir hält. Er grinst überheblich. »Es dürfte selbst Ihnen klar sein, dass dieser Wärmeverlust eine unglaubliche Verschwendung darstellt, oder?«
Er macht eine kunstvolle Pause und ich stelle fest, dass mich seine herablassende Art zu ärgern beginnt. Ich sage jedoch nichts und schaue ihn nur weiter an.
»Ich werde gleich beweisen, dass es möglich ist, die molekulare Schwingungsenergie bereits jetzt - am Tag - aufzufangen, sie quasi dem Medium zu entziehen, und in Form von elektrischem Strom zu gewinnen.«
Ein Funkgerät beginnt zu summen und Grisham schaltet es ein.
»Ja? Hier Grisham. Wie weit seid ihr? Die Taucher sind bereits zurück? Gut, dann werde ich den Extraktor gleich aktivieren.« Er legt das Funkgerät beiseite. »Das waren meine Leute. Der Apparat ist installiert.«
Er verschränkt seine Finger und streckt seine Arme nach vorn durch, sodass es in den Gelenken knackt. »Dann wollen wir mal. In wenigen Minuten werden Sie erleben, was meine Anlage zu leisten imstande ist. Eine neue Ära der Stromerzeugung wird die Folge sein. Schmutzige Kraftwerke werden in wenigen Jahren von diesem Planeten verschwunden sein.«
»Und wir sind hier auch wirklich sicher?«, frage ich. »Ich meine ... wir sind hier recht nah am See, und wenn etwas geschieht ...«
»Was soll denn geschehen?«, fährt Grisham mich an. »Hören Sie endlich auf! Beobachten und staunen Sie. Hier wird gerade Geschichte geschrieben und Sie ...? Ach, was rede ich überhaupt noch mit Ihnen?«
Nacheinander legt er eine ganze Reihe von Kippschaltern auf seinem Board um. Einige Instrumente erwachen zum Leben und zeigen, mir unverständliche, Daten an. Sonst scheint nichts weiter zu geschehen. Ich habe erwartet, irgendein spektakuläres Schauspiel zu erleben, doch ich werde enttäuscht.
Grisham starrt unverwandt auf seine Instrumente und hat mich völlig ausgeblendet. Ich schaue aus dem Fenster unseres Wohncontainers, der eigens für die Experimente hergebracht worden ist, und blicke zum See. Alles sieht aus wie immer, und ich beginne zu glauben, dass die Anlage dieses arroganten Doktors ein kompletter Fehlschlag ist, als Grisham mit der flachen Hand auf seinen Tisch schlägt. »Es geht los! Sehen Sie!«
Er deutet auf einen seiner Bildschirme, aber ich weiß nicht, was er meint.
Hektisch tippt er mit dem Nagel seines Zeigefingers gegen eine Stelle seines Monitors. »Hier! Schon zwanzig Kilowatt, und es steigt steil an.«
Jetzt sehe ich es auch. Die Anzeige klettert immer höher, und ein Ende ist nicht abzusehen »Das ist ja fantastisch!«
»Okay, es steigt etwas schnell«, sagt Grisham. »Wir sollten es nicht gleich beim ersten Mal übertreiben. Ich werde die Extraktionsrate etwas absenken, um einen konstanten Stromfluss zu erhalten.«
Er ändert einige Einstellungen und brummt verblüfft. »Was soll denn das?«
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, frage ich. »Dann wäre es unter Umständen klüger, das Gerät erst mal abzuschalten.«
»Was denken Sie, was ich hier mache! Aber der Extraktor spricht nicht an. Ich verstehe das nicht.«
Das Funkgerät meldet sich wieder und Grisham greift danach. »Ja? Was soll das heißen: Steuerleitung gebrochen? Wie kann die Steuerleitung brechen?«
Ich sehe ihn fragend an, doch er sagt nichts mehr. Dafür wird sein Gesicht allmählich grau. Als er das Gerät zur Seite legt, ist von der Überheblichkeit des Forschers nichts mehr übrig geblieben.
Ich muss jetzt wissen, was los ist. »Erzählen Sie schon! Was ist geschehen?«
»Der See ist spontan gefroren. Damit war zu rechnen. Aber dabei sind die Steuerleitungen zum Extraktor wegen irgendwelcher Spannungen im Eis geborsten. Wir können das Gerät nicht mehr steuern.«
»Na dann ... ziehen Sie halt irgendeinen Stecker und nehmen sie ihm den Saft weg«, schlage ich vor. »Das kann doch nicht so schwer sein.«
»Leider ja. Der Extraktor bezieht seine Betriebsenergie direkt aus seinem Arbeitsprozess. Er entzieht der Umgebung kinetische Energie und wandelt sie um. Solange noch irgendwo kinetische Energie zu finden ist, wird er nicht abschalten. Der See ist inzwischen bei einer Temperatur angelangt, die nicht mehr weit vom absoluten Nullpunkt entfernt ist. Der Extraktor selbst hält seine Betriebstemperatur, wird also steuerlos weiterarbeiten.«
Ich überlege einen Moment. »Nur damit ich das richtig verstehe. Sie haben da eine Maschine im See versenkt, die ausschließlich über eine kabelgebundene Datenleitung gesteuert werden kann? Es gibt keinen Plan B? Sie können keinen Funkimpuls zu einer ... Notabschaltung oder was auch immer senden? Das ist reichlich riskant, oder?«
Grisham sieht mich wütend an. »Sie verdammter Klugscheißer! Niemand konnte mit so etwas rechnen! Ein weiteres Steuersystem hätte die Kosten deutlich erhöht und wir wären nicht mehr im Zeitplan gewesen. Potenzielle Kunden wollen auch mal etwas sehen.«
Wäre es nicht so ernst, könnte ich darüber lachen. Mir fällt der Unterricht aus dem Physikunterricht in der Schule wieder ein. Der absolute Nullpunkt. Null Grad Kelvin. Nach meinem Verständnis ist also dann bald Schluss, wenn der See diese Temperatur erreicht hat. Grishams Versuch ist zwar einerseits gescheitert, aber ich kann nicht verstehen, warum er gleich eine Katastrophe darin sieht. Als ich es ihm sage, brüllt er mich an: »Sie technischer Analphabet haben doch keine Ahnung! So lange das umgebende Medium noch eine deutlich höhere Temperatur hat, wird der Kern den Nullpunkt nicht erreichen. Geht das in Ihr Spatzenhirn nicht rein?«
Ich weiß zwar noch immer nicht, was das konkret bedeutet, ärgere mich aber über das beleidigende Verhalten. Ich muss mich zwingen, ihm nicht an den Kragen zu gehen und blicke aus dem Fenster. Überrascht beobachte ich, dass es über dem See aus blauem Himmel zu schneien beginnt. Wind kommt auf, was ungewöhnlich für diese Gegend ist.
»Es schneit«, sage ich und deute auf den See.
Grisham springt auf und stürzt zum Fenster. »Verdammt! Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell geht. Wir müssen weg.«
Mit einem lauten Knall stellen die Messinstrumente auf Grishams Tisch ihren Dienst ein, doch ich habe nur sein »Wir müssen weg« im Ohr.
»Wieso müssen wir hier weg?«
»Das ist kein Schnee, sondern atmosphärischer Fallout. Die Luft gefriert über dem See und fällt aus. Wenn wir hierbleiben, werden wir ersticken, sofern wir nicht vorher erfroren sind.«
Grisham greift nach seinem Funkgerät. »Lasst alles stehen und liegen! Wir müssen sofort möglichst weit von hier weg!«
Er erhält keine Antwort. Grishams Leute wohnen in einem Container, der viel näher am See steht als unser Container. Es scheint, als habe die Kälte sie bereits in so kurzer Zeit erreicht, dass sie nicht rechtzeitig weggekommen sind.
»Oh Gott! Hoffentlich schaffen wir es noch!«
Jeder von uns schnappt sich eine Jacke und wir stürmen aus dem Container ins Freie, wo ein wahrer Sturm uns fast von den Beinen holt. Mit aller Kraft stemmen wir uns dagegen und schieben uns - Schritt für Schritt - auf unseren Geländewagen zu, der im Grunde nur hundert Meter entfernt geparkt ist.
»Woher kommt plötzlich dieser Sturm?«, brülle ich gegen das Geheul des Windes an.
»Der Luftdruck sinkt über dem See, weil die Luft gefriert!«, brüllt Grisham zurück. »Die Luft ringsherum dringt in das entstehende Vakuum! Deshalb müssen wir von hier verschwinden!«
Mit letzter Kraft erreichen wir den Geländewagen. Das Metall der Karosserie ist schon so kalt, dass die Haut eines Fingers daran kleben bleibt. Mit zusammengebissenen Zähnen reiße ich ihn los und klettere ins Innere, wo Eisblumen die Scheiben undurchsichtig machen. Grisham versucht, den Motor zu starten, und als ich schon befürchte, die Batterie würde nicht mehr genügend Kapazität haben, springt der Motor stotternd an. Ich mache die Frontscheibe mit einer Scheckkarte so weit frei, wie ich kann und wir fahren los. Wir jubeln regelrecht, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzt und wir die weiß überpuderte Straßenpiste nach Süden rollen - dorthin, wo es noch Wärme gibt.
Ein letzter Blick zurück liefert mir eine bedrohliche Kulisse aus starkem Schneefall und ständig zuckenden Blitzen, die kreuz und quer über die Eisfläche des Sees kriechen.
»Wieso stürmt es eigentlich so heftig?«, frage ich, als es im Wageninnern allmählich wärmer wird.
»Der Fallout«, erklärt Grisham. »Was denken Sie, was geschieht, wenn die Luft ihren Aggregatzustand ändert und fest wird? Das ist eine andere Hausnummer als der normale Austausch zwischen Hoch- und Tiefdruckgebieten. Das kann noch lange so weitergehen. Wir können nur hoffen, dass der Extraktor irgendwann versagt, sonst wird ganz Australien noch unter einer Eisdecke versinken.«
»Das meinen Sie nicht ernst, oder?«
Grisham schweigt und fährt weiter. Auch ich schweige und denke an die armen Männer, die wir am See zurücklassen mussten. Obwohl ich nicht viel mehr bin, als ein von der Verwaltung gestellter Beobachter, fühle ich mich schuldig. Ich sehe Grisham von der Seite an. »Es ist Ihnen doch klar, dass das ein Nachspiel haben wird.«
»Was?« Nervös wirft er mir einen Blick zu. »Das war ein Unfall. Sie haben es doch selbst gesehen.«
Ich schüttele den Kopf. »Ich habe gar nichts gesehen. Sie haben mir ihre Erfindung als ausgereift und perfekt dargestellt. Das Einzige, was ich mitbekommen habe, ist, dass Sie sofort jegliche Kontrolle verloren haben, nachdem das Gerät aktiviert worden ist. Es war nicht einmal ein Notschalter vorgesehen. Sie wussten überhaupt nicht, was geschehen würde, und für ihre Überheblichkeit mussten mehrere Männer sterben.«
»Es war ein Unfall!«, beharrt er. »Forschung fordert manchmal Opfer. Ohne Opfer gibt es keinen Fortschritt.«
»Grisham, haben Sie den Verstand verloren?« Ich deute mit dem Daumen über meine Schulter nach hinten. »Das war kein Fortschritt, sondern eine Katastrophe.«
Der Sturm ist währenddessen immer stärker geworden und zerrt heftig an unserem Wagen. Immer häufiger bleiben weiße Flocken an unserer Windschutzscheibe kleben, von denen sich unverzüglich Eisblumen über die Scheibe ausbreiten. Es ist zwar kaum vorstellbar, doch die Kälte breitet sich schneller aus, als wir mit dem Geländewagen fahren können.
Grisham sieht mich mit irrem Blick an. »Was wollen Sie damit sagen? Soll das etwa bedeuten, dass Sie mich in ihrem Bericht als Schuldigen hinstellen wollen? Ich werde mich ganz gewiss nicht vor einem Gericht für einen bedauerlichen Unfall verantworten.«
»Ich bezweifle, dass Sie das noch beeinflussen können.«
Abrupt bremst er den Wagen ab, der noch einige Meter über das Eis der Straße schlittert, bevor er zum Stehen kommt. Der Motor verstummt.
»Oh doch, das kann ich. Nur wir zwei wissen, was tatsächlich geschehen ist.« Er sucht etwas in der Ablage seiner Fahrertür und hält plötzlich eine Waffe in der Hand.
»Wenn es keine Zeugen gibt, muss man mir glauben.«
Er wedelt mit der Waffe. »Los! Aussteigen!«
Ich bin so geschockt, dass ich mich im ersten Moment nicht bewegen kann. Tausend Dinge schießen mir durch den Kopf, doch ich bekomme keine Ordnung in dieses Chaos.
»Los raus! Oder meinen Sie, ich hätte nicht den Mumm, eine Pistole abzufeuern?«
Hektisch fasse ich den Türgriff und rüttele daran. Mit lautem Klacken springt sie weit auf, und eisiger Windhauch weht herein. Mir wird plötzlich bewusst, dass ich lediglich die Wahl zwischen zwei Todesarten habe.
Wenn Grisham abdrücken würde, hätte ich es gleich hinter mir. Vielleicht habe ich draußen doch noch eine Chance. Ich springe aus dem Auto, lasse die Tür weit offen und renne schnell von der Straße herunter, um aus der Schussbahn zu kommen. Ich höre ihn noch fluchen, als er über die Vordersitze klettern muss, um die Beifahrertür wieder zu schließen. Ich schlittere von der Straße in ein kleines, vereistes Waldstück hinein und renne einfach immer weiter. Die Kälte brennt in meinen Lungen und der Wind macht mir zu schaffen. Meine Augen tränen und die Tränen gefroren bereits an meinen Wimpern. Lange werde ich nicht durchhalten, wenn ich nicht irgendwo Schutz vor dieser immer schlimmer werdenden Kälte finde.
Meine Glieder werden allmählich gefühllos, als ich, mitten im Wald, eine Holzhütte entdecke, die ich wegen des weiß überfrorenen Daches beinahe übersehen habe. Aus einem Kamin quillt weißer Rauch, der vom Wind weggetragen wird. Die Hoffnung auf Menschen, die dort im Warmen sitzen, mobilisiert meine letzten Kräfte. Mühsam schleppe ich mich dorthin und schlage mit den Knöcheln gegen die Tür, bis sie blutig sind.
Eine Frau mittleren Alters öffnet und blickt mich erstaunt an. Sie hält eine Axt in ihrer Rechten und wirkt bedrohlich auf mich. Nachdem sie mich taxiert hat, entspannen sich ihre Züge. »Mein Gott, was treiben Sie sich dort draußen herum? Kommen Sie schnell rein.«
Sie zieht mich am Ärmel meiner Jacke ins Innere und betrachtet mich. »Sie sind dort draußen zu Fuß unterwegs gewesen?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sage ich. »Sie ahnen nicht, wie glücklich ich darüber bin, noch rechtzeitig Ihr Haus entdeckt zu haben.«
»Kann ich mir vorstellen«, antwortet sie. »Ich habe so etwas noch nie erlebt, und ich war schon häufig mit meinem Mann hier draußen in der Hütte. Aber so eine verdammte Kälte ... Und dann noch so plötzlich? Erst war noch alles in Ordnung und dann begann auf einmal dieser Sturm. Innerhalb von Minuten waren die Fensterscheiben voller Eisblumen und die Kälte kroch durch alle Ritzen hier hinein.«
Sie reicht mir eine Decke. »Hier, nehmen Sie. Sie müssen völlig durchgefroren sein. Sie können mir gleich alles erzählen. Ich muss nur schnell Holz nachlegen, sonst ist es hier mit der Wärme auch bald vorbei.«
Ich blicke ihr hinterher und lasse meinen Blick dabei durch die Hütte schweifen. Wenn es hier einmal gemütlich gewesen ist, ist davon nicht mehr viel zu sehen. Überall liegen Holzsplitter und Teile eines Möbelstücks herum.
»Sie räumen grade auf?«, frage ich. »Entsorgen Möbel?«
Sie sieht mich einen Moment lang schweigend an, dann lacht sie. »Das kann man wohl sagen. Nein, ich räume gewiss nicht auf, aber es ist kalt, sogar saukalt. Und wir haben Sommer, wenn ich dem Kalender glauben mag. Wer hat schon einen Holzvorrat im Sommer angelegt? Das machen wir sonst immer erst im Spätherbst. Wer rechnet denn mit so einem Naturwunder? Ich bin in solchen Dingen immer schon pragmatisch. Wenn es kalt ist, muss man heizen. Und wenn es keinen Holzvorrat gibt, muss man eben verbrennen, was man hat. Das dort im Kamin war mal ein Tisch. Er wird uns etwas Zeit verschaffen. Sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen, dürfen Sie gern helfen, nach Bedarf weitere Möbel zu Kleinholz zu verarbeiten.«
»Was machen Sie eigentlich hier draußen? Leben Sie etwa hier?«
»Oh nein, wir haben ein kleines Haus in Adelaide, aber mein Mann ist Park-Ranger hier im Flinders Ranges National Park. Ich habe ihn nur begleitet.«
»Und wo ist Ihr Mann jetzt?«
»Als es losging, sagte er sofort, dass etwas nicht stimmt. Er fuhr mit dem Jeep los und will mit dem Hubschrauber zurückkehren, um mich abzuholen.«
»Und da haben Sie gleich damit begonnen, das Mobiliar zu zerhacken?«, frage ich.
Sie nickt. »Hab ich. Ich sagte ja schon, ich bin Pragmatiker. Es war abzusehen, dass ich frieren würde, und ich hasse es, zu frieren. Das Meiste hier ist aus Holz. Wir können es eine Weile hier aushalten, bis mein Mann zurückkehrt.«
Ich blicke skeptisch aus dem Fenster. »Sind Sie sicher, dass Ihr Mann es geschafft hat? Ein Jeep ist kein guter Schutz gegen die Kälte.«
Sie kommt vom Ofen auf mich zu und hält mich am Arm. »Hey, etwas mehr Optimismus wäre jetzt angebracht! Aber ich weiß, dass er durchgekommen ist.« Sie deutet in eine dunkle Ecke der Hütte. »Deswegen.«
Ich starre angestrengt dorthin und erkenne, dass dort ein CB-Funkgerät steht.
»Er hat mich, kurz bevor Sie hier angeklopft haben, verständigt, dass er bald mit dem Helikopter zurückkehren wird. Ich solle das Haus nicht verlassen. Und genau das werde ich auch nicht tun.«
Ich komme mir plötzlich schäbig vor, dass ich dieser freundlichen Frau beinahe die Hoffnung geraubt habe, ihren Mann wiederzusehen. »Verzeihen Sie, aber ich habe in den letzten Stunden einiges erlebt.«
Sie nickt. »Kann ich mir vorstellen. Apropos ‚vorstellen‘ - wir haben uns gegenseitig überhaupt noch nicht bekannt gemacht.« Sie hält mir ihre Hand hin. »Vera. Vera Johnson.«
Ich lächle. »Sehr angenehm, Vera. Ich heiße Wayne Gibson und stamme aus Portland. Nicht verheiratet, keine Kinder. Ich arbeite für das Energieministerium.«
Sie schaut mich prüfend an. »Da sind Sie ja weit weg von zu Hause, Wayne. Ich habe das Gefühl, als hätten Sie mir einiges zu erzählen.«
Vera macht uns beiden einen Tee und wir setzen uns auf Stühle, die an einer kleinen Theke stehen, die den Wohnraum von der Küche trennt. Ich beginne zu erzählen, und im Laufe der nächsten Stunden wird ihre Miene immer nachdenklicher.
Irgendwann hören wir ein Motorengeräusch durch das Heulen des Windes. Das Geräusch kommt immer näher und schließlich wird die Tür zu unserer Hütte aufgestoßen. Veras Mann steht in der Tür. Eisige Kälte greift erneut nach uns.
»Los! Schnappt euch warme Decken und rennt wie der Teufel zum Helikopter. Ich will sofort wieder starten, bevor der Vogel überhaupt nicht mehr abhebt. Die Luftbeschaffenheit ist ganz eigenartig.«
Wir lassen uns das nicht zweimal sagen und folgen ihm eilig, um die Wärme der Kabine zu erreichen. Ich habe das Gefühl, als wäre es noch viel kälter als bei meiner Ankunft.
Veras Mann gibt seiner Frau einen flüchtigen Kuss. »Schnallt euch an. Ich hebe sofort ab.« Er sieht mich an. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Wayne Gibson. Ich kann Ihnen gleich alles erklären.«
Mit einem leichten Schütteln setzt sich der Helikopter in Bewegung.
»Was können Sie mir erklären? Etwa, wieso die Welt einfriert - ausgerechnet hier bei uns in Süd-Australien? Ich bin ganz Ohr ...«
»Schatz, wieso hast du eigentlich so lange gebraucht?«, fragt Vera. »Ich habe damit begonnen, die Einrichtung zu verbrennen. Unser Esstisch ist Geschichte.«
»Ich musste noch einmal zwischenlanden. Unten auf der Straße steht ein großer Geländewagen. Ich hab nachgesehen, ob ich jemandem helfen kann, aber ich kam leider zu spät.«
»Ein Geländewagen?«, frage ich. »War jemand darin?«
Er nickt. »Ein Mann. Tot. Er sah aus, als wäre er mitten in der Bewegung einfach eingefroren. Er hatte eine geladene Waffe in der Hand. Es sah fast aus, als wollte er sich erschießen, doch die Kälte ist ihm zuvorgekommen. Vermutlich ist ihm der Motor ausgegangen und er konnte ihn nicht mehr anbekommen. Warum fragen Sie? Haben Sie eine Ahnung, was es mit diesem Mann auf sich hat?«
»Oh ja, ich weiß genau, um wen es sich handelt.«
Ich schweige einen Moment und muss diese Information erst sacken lassen. Grisham hat es also nicht geschafft. Somit bin ich der letzte Mensch, der weiß, was nun zu tun ist. Grisham hat gesagt, dass wir nur hoffen können, dass der Extraktor eines Tages versagt. Niemand von uns kann ein solches Versagen bewirken, aber vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit.
Ich tippe Veras Mann auf die Schulter. »Sagen Sie, gibt es hier in der Nähe irgendwo eine Basis der australischen Luftwaffe?«
»Luftwaffe? Was wollen Sie denn von denen?«
»Ich hätte nichts dagegen, wenn unser Australien wieder so wäre, wie vor dieser Kälte, und ich hätte da eine Idee ...«
»Okay«, sagt unser Pilot gedehnt. »Dann fliege ich jetzt direkt nach Adelaide. Dort gibt es einen Militärflughafen. Aber bis wir dort sind, möchte ich erfahren, was hier überhaupt gespielt wird.«
»Das ist Ihr gutes Recht«, sage ich lächelnd und lehne mich in die Polster zurück. »Wie lange wird der Flug dauern?«
»Eineinhalb bis zwei Stunden werden es sicher sein.«
»Das wird reichen.«
Der Wind hat etwas nachgelassen. Müdigkeit macht sich in mir breit und das monotone Dröhnen der Helikopterturbine lässt meine Lider schwer werden. Ohne dass ich etwas dagegen tun kann, sinke ich in einen Erschöpfungsschlaf. Soll Vera ihrem Mann erzählen, was sie inzwischen weiß. Ich genieße das süße Weggleiten in einen Traum, in dem wir dieser verdammten Kälte den Garaus machen.