Der lange Schlaf

 

»Können Sie mich verstehen?«
Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz bereits in meinem Unterbewusstsein vernommen habe, bevor ich allmählich begriff, was er bedeutete.
»Hallo, ich weiß, dass Sie wach sind. Es ist Zeit. Sie müssen nur noch Ihre Augen öffnen.«
Die Stimme begann lästig zu werden. Ich fühlte mich unsagbar müde und wollte mich in meinen gnädigen Schlummer zurückgleiten lassen. Dann war da schon wieder diese Stimme: »Sie können mich doch hören?«
Ich wollte erwidern, dass sie mich doch einfach in Ruhe lassen sollten, doch meine Zunge fühlte sich an, als würde sie nicht mir gehören. Sie wirkte wie ein Fremdkörper und wollte mir nicht gehorchen. Unwillkürlich blinzelte ich mit meinem linken Auge und Licht stach mir wie eine Nadel mitten durchs Hirn. Ein Stöhnen entrang sich meiner Brust.
»Ja, geben Sie sich Mühe. Sie haben es gleich geschafft. Öffnen Sie Ihre Augen.«
Gegen meinen Willen musste ich dieser Stimme lauschen, die mich nicht in Ruhe lassen wollte.


»Nurs Ina, dimm det Lite a littel.«
»Tu«, ertönte eine weibliche Stimme.
Was war das denn? Und was sollte das bedeuten? Vorsichtig versuchte ich erneut, meine Augen zu öffnen. Diesmal war es nicht so schmerzhaft. Man hatte die Helligkeit im Raum offenbar reduziert. Zum ersten Mal schlug ich die Augen vollständig auf. Ich lag offenbar in einem Bett. Die Zimmerdecke war weiß und leuchtete leicht. Mein Blick wanderte zur Seite. Ein bodentiefes Fenster spannte sich über die gesamte Seite einer Wand. Ich versuchte, etwas zu erkennen, begriff aber, dass ich einfach nur auf eine Wasserfläche blickte. Das Meer? Verdammt, wo befand ich mich?
Schwerfällig wandte ich meinen Kopf zur anderen Seite und erschrak, als ich zwei Personen entdeckte, die mich forschend betrachteten. Das war jedoch nicht der Grund allein, der mich erschrecken ließ, sondern die Erscheinung der Frau, deren Stimme ich gehört hatte. Ihre Haut war blau. Die andere Person war ein älterer Mann in einem einteiligen, weißen Anzug, der auf einem Stuhl neben meinem Bett saß. Er lächelte mich an.
»Hallo Herr Laudenz. Sie haben es geschafft, und Sie ahnen nicht, wie sehr wir uns darüber freuen.«
Ich versuchte zu sprechen, doch meine ersten Versuche erstreckten sich in gestammelten Lauten.
»Lass di Tim«, sagte die blaue Frau und strich mir sanft über die Stirn.
Ich sah den Mann fragend an. Er wandte sich an sie: »Lass mi talk ihm, Ina. Du nit kutalk Altgerm.«
Sie nickte und lächelte mir zu. Abgesehen von ihrer blauen Haut war sie sehr hübsch. Sie hatte lange, schwarze Haare und dunkle Augen. Ihre Figur war schlank und an den richtigen Stellen gerundet. Ich wunderte mich, dass ich in meinem Zustand so etwas bereits registrierte. Das brachte mich zu der Frage zurück, was hier überhaupt los war? Wo befand ich mich und was waren das für Menschen?
Der ältere Mann räusperte sich kurz. »Herr Laudenz, mein Name ist Icker Sarn und ich bin ihr zuständiger Arzt. Ich beherrsche Altgerm, daher werde vornehmlich ich es sein, mit dem Sie zunächst zu tun haben werden.«
Zum Glück fand ich endlich meine Stimme wieder: »Was hat das alles zu bedeuten? Wo bin ich?«
»Sie erinnern sich nicht?«
»Würde ich sonst fragen?«
Er nickte. »Gut. Sie befinden sich im Recrea-Trakt der Hiberna-Foundation. Unsere Einrichtung wurde genau genommen auf den Resten einer ehemaligen Insel erbaut.«
Er blickte in seine Unterlagen. »Vermutlich haben Sie sie sogar noch als Insel gekannt. Man nannte sie Sylt.«
Ich wollte mich hochstemmen, doch mein Körper gehorchte mir noch nicht. »Man nannte sie Sylt? Jetzt erzählen Sie endlich ... Was wird hier gespielt?«
»Herr Laudenz, Sie waren sehr krank. Eine krankhafte Veränderung Ihres Rückenmarks hatte Sie bereits an den Rollstuhl gefesselt. Sie hatten nicht mehr lange zu leben. Ihre Kontraktpartnerin hatte Sie damals zu einem neuartigen Forschungsprojekt angemeldet. Man entwickelte ein Verfahren, lebende Wesen einzufrieren, um sie später wieder ins Leben zurückzuholen - Hibernationsschlaf. Ihre Partnerin hatte die Hoffnung, man würde zu einem späteren Zeitpunkt eine Methode entwickeln, Ihre Krankheit zu heilen. Die Kosten waren enorm, wurden aber aus dem Forschungsetat seinerzeit getragen. Bis heute wurde der mit Ihnen und Ihrer Partnerin bestehende Vertrag durch die Hiberna-Foundation übernommen. Haben Sie das bis hierher verstanden?«
Ich nickte. »Man hat mich also krank eingefroren, um mich später zu heilen. Ich kann mich daran leider nicht erinnern. Sie haben mich also aufgeweckt, weil Sie mich jetzt heilen können? Wo ist meine Frau?«
Icker Sarn machte eine Pause. »Nun, da gibt es ein paar Dinge, die ich Ihnen erklären muss. Vielleicht sollten Sie sich vorher noch etwas ausruhen.«
»Sagen Sie endlich, was zu sagen ist!« Ich hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Etwas schien nicht so gelaufen zu sein, wie es geplant war.
»Nun gut«, sagte er. »Zunächst die gute Nachricht für Sie: Sie sind bereits geheilt. Die Medizin ist inzwischen in der Lage, Krankheiten wie den Krebs komplett zu heilen. Wir hatten Sie während der Recreation in einem künstlichen Schlaf gehalten. Diese Phase ist abgeschlossen. Sie können ein unbelastetes Leben führen. Allerdings müssen Sie noch eine Weile bei uns bleiben, bis Sie in der Lage sind, sich der Welt dort draußen zu stellen.«
»Was soll das heißen? Wenn ich hier auf Sylt bin, bin ich noch immer in Deutschland. Das ist meine Heimat. Benachrichtigen Sie meine Frau und sobald ich richtig auf dem Damm bin, fahre ich nach Hause.«
Icker Sarn kaute nervös auf seiner Unterlippe. »Ganz so einfach ist das leider nicht. Ich sagte, die Hiberna-Foundation wurde auf den Resten von Sylt erbaut. Die Insel selbst wurde im Laufe der Jahre von der Nordsee abgetragen. Und ich weiß nicht, wo Sie früher gewohnt haben, aber wir gehören offiziell zur Republik Schleswig.«
Ein eisiges Gefühl machte sich in mir breit. Republik Schleswig! Schleswig-Holstein kannte ich als Bundesland der Bundesrepublik Deutschland. Von Abspaltungen, oder Tendenzen dazu, war mir nichts bekannt.
Icker Sarn fuhr fort: »Sie wurden nach meinen Unterlagen im Sommer des Jahres 2017 in den Hibernationsschlaf gelegt. Es war geplant, Sie zunächst für vier Jahre einzufrieren, in der Hoffnung, dass bis dahin entsprechende medizinische Fortschritte gemacht wären. Leider war das nicht der Fall. Dafür wurde das Verfahren des Kaltschlafs vervollkommnet, und wir wurden in die Lage versetzt, Patienten auch erfolgreich für längere Zeiträume zu hibernieren. Sie wurden 2021 quasi umgebettet und schliefen weiter.«
»Sagen Sie schon: Welches Jahr schreiben wir? 2025? 2030?«
Sarn schwieg.
»2060?«
Er schüttelte den Kopf. »Heute ist der 26. April 2336«
Es war, als ziehe man mir den Boden unter den Füßen weg. Ich hatte fast 320 Jahre lang geschlafen?
»Das war kein Versprecher? Wir schreiben das Jahr 2336?«
Sarn nickte. »So ist es, und es ist eine Menge geschehen. Sie haben eine Menge zu lernen, wenn Sie dort draußen leben wollen - und das müssen Sie schließlich.«
»Was ist mit meiner Frau?« Meine Stimme klang belegt.
»Das wissen wir nicht. Nach den alten Files hat sie sich noch ein paar Jahre lang regelmäßig gemeldet, um sich nach Ihrem Zustand zu erkundigen, aber irgendwann hörte es auf. Die alte Hombas war nicht mehr aktuell, und Unterlagen über eine Migration lagen nicht vor.«
»Hombas?«
»Oh, entschuldigen Sie. Es fällt mir enorm schwer, im Altgerm zu bleiben. Diese alte Sprache wird im Grunde nicht mehr gesprochen. Sie sagten vermutlich Wohnsitz dazu. Wir sprechen heute Nugerm. Das ist aus dem Deutschen, dem Englischen und noch einigen anderen Sprachräumen entstanden.«
»Dann ist Karin sicher schon lange tot«, sagte ich schweren Herzens. »Niemand lebt so lange, wie ich geschlafen habe.«
»Davon müssen wir ausgehen. Sie sind im Grunde ein Anachronismus. Niemals wurde ein Mensch länger im Kälteschlaf gehalten als Sie. Sie ahnen nicht, was das für die Forschung bedeutet.«
»Na danke!«, sagte ich sarkastisch. »Das hab ich mir immer gewünscht. Meine Heimatstadt ist Köln. Denken Sie, dass es ein Problem wäre, wenn ich dorthin reisen möchte?«
»Grundsätzlich nicht, wenn wir für Sie ein Authentolog erhalten haben und sie den Loca-Chip eingesetzt bekommen. Ihre alte Citysation gilt natürlich nicht mehr. Köln - es heißt heute Kolonn - gehört zum Patriarchat Westrhein. Vermutlich sind Sie damit Westrheiner und wir brauchen ein Transitvisum für Nupreuss.«
Ich setzte mich komplett auf und ließ meine Beine von der Bettkante baumeln. »Was soll dieser ganze Scheiß? Kolonn, Westrhein, Nupreuss? Ich will einfach nur nach Hause. Verstehen Sie nicht? Das ist meine Heimat!«
»Vergessen Sie alles, was Sie kannten!«, sagte Sarn hart. »Es ist nichts mehr so, wie es war. Vor hundert Jahren gab es den großen Zusammenbruch des europäischen Staatensystems. Ihm waren Wirtschaftskrisen vorausgegangen, die die ganze Welt erschüttert haben. Alles brach auseinander ... sogar die Bundesrepublik Deutschland. Heute besteht Europa aus einer ganzen Reihe von kleinen Einzelstaaten, aber im Wesentlichen herrscht Frieden zwischen ihnen.«
Ich konnte es noch immer nicht glauben. »Republik Schleswig, ist es das alte Schleswig-Holstein?«
»Moment, ich muss nachsehen, denn Sie können sich denken, dass mir diese alten Grenzverläufe nicht mehr geläufig sein können.« Er entfaltete eine kleine Folie, die zu leuchten begann und tippte mit den Fingern darauf herum.
»Wenn ich das richtig verstehe, gehörte damals das Bundesland Dansk noch nicht dazu. Sie werden das alles noch verstehen, wenn Sie die Unterrichtseinheiten hinter sich haben. Aber sie sollten sich erst einmal stärken. Eine Kantine ist noch immer eine Kantine und essen müssen auch die Menschen von heute.«
Erst, als er es erwähnte, stellte ich fest, dass mein Magen sich anfühlte wie ein großes Loch.
Sarn sah mich abschätzend an. »Was glauben Sie? Können Sie schon laufen?«
Er gab der blauen Frau ein Zeichen. »Du ken mov Rolli por un Recrea?«
»Tu«, nickte sie, wandte sich ab und verließ den Raum.
Ich blickte ihr bewundernd hinterher. Ihr Hüftschwung war beeindruckend. Es schien sich nicht alles geändert zu haben.
»Was haben sie ihr gesagt?«
»Sie soll uns einen Rollstuhl bringen. Ich denke nicht, dass Sie es sonst bis in die Kantine schaffen. Warten Sie, ich helfe Ihnen, aufzustehen. Dann spüren Sie selbst, ob Ihre Beine Sie bereits tragen.«
Er reichte mir beide Hände und zog mich leicht von der Bettkante hoch. Anfangs war es noch recht schwerfällig, doch nach einer Weile klappte es. Allerdings hatte er recht: Ich traute mir noch nicht zu, ein paar Schritte zu laufen. Ina öffnete die Tür und schob einen Rollstuhl herein, der beruhigend gewöhnlich aussah. Die beiden halfen mir, im Stuhl Platz zu nehmen.
»Sagen Sie, Dr. Sarn ...«
»Nur Sarn«, korrigierte er. »Solche Titel gibt es nicht mehr.«
»Also Herr Sarn, wie kommt es, dass sie so reden wie ich, wenn man heute anders spricht?«
»Ich interessiere mich für Geschichte, und wenn man die alten Sprachen nicht beherrscht, fällt es einem schwer, die alten Dokumente im Original zu lesen. Die Foundation hat mich genau deswegen angestellt. Wir müssen häufiger Menschen wecken, denen das Nugerm nicht geläufig ist. Doch sollten wir uns auf den Weg machen. Ina wird Sie in den Speisesaal bringen und Ihnen Gesellschaft leisten. Ich hab leider noch einen weiteren Termin. Wir sehen uns später noch.«
Sarn öffnete die Tür und Ina schob mich auf den Gang hinaus. Hier sah es aus, wie in jedem Krankenhaus, das ich bisher gesehen hatte. Ein kahler Gang mit vielen Türen. Der einzige Unterschied war die selbstleuchtende Decke, wo es früher Deckenlampen gegeben hatte.
»Du heb Hunger?«, fragte Ina auf dem Weg zu den Aufzügen. Das konnte ich sogar verstehen. »Ja, ich hab gewaltigen Hunger.«
Im Aufzug betrachtete ich Ina näher. Als sie es bemerkte, sah sie mich fragend an. »Hep me wet on me?«
Diese Sprache zeigte mir, wie weit ich von zu Hause entfernt war, obwohl ich doch eigentlich in meiner Heimat war. 320 Jahre! Meine Güte, wie sollte ich das jemals überbrücken? Karin war seit Jahrhunderten tot. Was sollte ich überhaupt hier?
»Hm?«, fragte sie nochmals.
Ich deutete auf mein Gesicht und anschließend auf ihres. »Wieso ist Ihre Haut blau?«
Sie zeigte auf ihr Gesicht und ihren Hals. »Que? Que me Derm s’blu?«
Sie lachte hell auf. »Du ken ne wis det. Hep is det eas te Mod por te mov te Dermcol in blu. Me pref t’bin blu. Ander pref t’bin gren, red o ander Col.«
Ina hatte eine sehr wohlklingende Stimme, aber ihre stakkatoartige Sprache ließ mich schnell aufgeben, mich weiter mit ihr zu unterhalten. Was hatte sie gesagt? Dass ihre Hautfarbe eine Modefarbe ist? Ich war mir nicht sicher.
Die Kantine wirkte auf den ersten Blick normal, eine Spur Normalität inmitten einer Welt, in der ich mir vorkam wie ein Saurier in einer Großstadt. Ich nahm ein Tablett und wir stellten uns in die Schlange der Wartenden. Abgesehen von schrillen Farben der Kleidung und verrückten Frisuren waren es immer noch Menschen. Sie unterhielten sich, lachten und scherzten, während sie auf ihr Essen warteten. Ich versuchte, etwas von den Gesprächen zu verstehen, aber es gelang mir nicht. Ina stieß mich mit der Hand an und deutete nach vorn. Ein klobiger Automat mit mehreren Robotarmen wartete darauf, dass ich mein Essen bestellte. An der Frontplatte des Automaten befand sich ein Flatscreen mit vielen Auswahlmöglichkeiten. Die Schrift war noch dieselbe, die ich kannte, doch die Wörter erschienen mir einfach nur fremdartig. Hilflos sah ich Ina an. »Ich weiß nicht, was ich jetzt tun muss.«
»Du ne wis wet te du? Sell’ik de help?« Sie zwängte sich an mir vorbei und tippte einige der Felder auf dem Screen an. Der Automat quittierte die Eingabe mit einem Glockenton und sofort kam Bewegung in die Arme der Maschine. In Windeseile stellte sie meine Mahlzeit zusammen und schob sie mir auf das Tablett. »God smack«, tönte es aus einem kleinen Lautsprecher.
Ina schob mich zu einem freien Tisch und setzte sich mir gegenüber. Liebend gern hätte ich ihr tausend Fragen gestellt, aber es gab kaum eine Möglichkeit, mich mit ihr zu verständigen. So riss ich den Verschluss meines Pakets auf und nahm den Deckel ab. Glücklicherweise hatte es auf dem Paket eine bildhafte Darstellung gegeben, wie ich an den Inhalt gelangen konnte.
Die Mahlzeit erhitzte sich im Moment des Öffnens und verströmte einen herrlichen Geruch. Ina hatte mir etwas bestellt, das Ähnlichkeit mit Schnitzel und Pommes Frites hatte. Sie sah mich erwartungsvoll an und nickte mir auffordernd zu. Ich probierte und war zufrieden. Es wartete keine neue Überraschung auf mich. Ich weiß auch nicht, ob ich noch weitere Veränderungen verkraftet hätte. Wir aßen schweigend und sahen uns nur zwischendurch mehrfach an. Inas blaue Haut irritierte mich noch immer, aber ich hatte im Speisesaal noch weitere Menschen entdeckt, die eine völlig ungewöhnliche Hautfarbe hatten. Es waren Grüne darunter, wie auch Blaue und Rote. Es schien völlig normal zu sein, denn außer mir nahm niemand besondere Notiz davon.
Eine Wand des Speisesaals zeigte das Meer. Es zog meine Blicke magnetisch an. Ich suchte nach irgendetwas Normalem, nach Etwas, das unveränderbar so war, wie ich es gewohnt war. Ina bemerkte meine Blicke. »Du mag te mer?«
Ich nickte. Diese Frage konnte ich sogar verstehen. »Oh ja, ich mag das Meer. Ist es möglich, an den Strand zu gehen? Gibt es überhaupt einen Strand?«
Ihr Gesichtsausdruck wurde fragend. »Du meen?«
Ich deutete auf mich und dann nach draußen. Mit den Fingern deutete ich eine Laufbewegung an und hoffte, dass sie es richtig deuten würde.
»Ah«, sagte sie verstehend. »Du will out Haus te biech.« Sie hob einen Finger. »Mom.«
Sie sprach ein paar unverständliche Sätze in ihr Armband, das ich für eine Uhr gehalten hatte. Anschließend erhob sie sich und griff ihr Tablett. »Ok, kum fol me.«
Wir entsorgten unsere Reste und sie schob mich durch ein Labyrinth von Gängen und Rampen, bis wir hinter einer schweren Tür plötzlich im Freien standen.
Der Wind wehte mir um die Nase und ich roch das Meer. Ich warf den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Vögel zogen kreischend vorbei. Wenn ich die Augen schloss, war ich wieder zu Hause. Das Meer rauschte und eine salzige Brise strich mir durch die Haare. Ich wollte meine Augen nicht wieder öffnen, weil ich Angst hatte, dass diese fremdartige Zukunftswelt zurückkehren würde.
Plötzlich hörte ich Schritte, die sich durch den Kies näherten, den man rund um die Klinik angeschüttet hatte.
»Hier sind Sie, Herr Laudenz. Ich hatte sie bereits gesucht. Hätte mich Nurs Ina nicht verständigt, wäre ich beunruhigt gewesen.«
Icker Sarn trat auf mich zu und hielt einige Unterlagen in der Hand. »Wie fühlen Sie sich? Hat Ihnen das Essen geschmeckt? Ich hoffe doch, dass Ina Ihnen nicht gleich Artimeals bestellt hat.«
»Was?«
»Unsere Nahrung wird heute komplett künstlich hergestellt. Die Chemics unten in Nupreuss sind vollständig auf Ernährung spezialisiert. Wir führen jedoch noch immer ein Gericht für Allergiker, die künstliche Nahrung nicht vertragen. Doch deswegen bin ich nicht gekommen. Haben Sie bereits einen Eindruck von unserer Welt bekommen? Haben Sie schon die News im Vid gesehen oder eNews gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, nein. Ich bin von alldem hier schon so völlig überwältigt. Mein Aufnahmevermögen ist erschöpft. Ich hab das Gefühl, in ein fremdes Land, in eine fremde Welt geworfen worden zu sein. Ich gehöre nicht hier her. Ich würde am liebsten einfach in ein Flugzeug steigen, und in meine Welt, meine Zeit, zurückkehren, aber das wird nicht möglich sein, oder? Sind Zeitreisen möglich?«
Sarn schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein, so etwas ist leider nicht möglich. Wir haben viel erreicht, aber die physikalischen Gesetze können wir leider nicht überlisten.«
Er hob seine Unterlagen hoch. »Ich habe Kontakt zu den Behörden in Kolonn aufgenommen ... wegen des Authentologs und des Loca-Chips. Ohne diese Dinge dürfen wir Sie nämlich nicht entlassen. Das sind quasi Ihre Papiere, mit denen Sie sich ausweisen können. Da Sie in Kolonn gelebt haben, mussten Ihre Daten noch in den Speichern der Bürgerdatenbanken dort liegen. Dabei hab ich eine Entdeckung gemacht, die Sie interessieren dürfte.«
Ich sah ihn fragend an.
»Das Datenzentrum in Kolonn hat eine vollständige Auswertung über den Namen Laudenz gemacht. Dieser Name ist heute nicht mehr geläufig, müssen Sie wissen. Dabei fanden wir einen Querverweis auf eine Karin Laudenz, die als Kontraktpartnerin eingetragen war.«
»Als Ehefrau meinen Sie.«
»Äh, ja. Ehen, wie Sie das kennen, gibt es heute auch nicht mehr. Man schließt einen Zeitkontrakt und verlängert ihn, wenn man zusammenbleiben will.«
»Was ist nun mit meiner Frau?«
»Sie tauchte in den Daten nicht mehr auf, daher mussten wir davon ausgehen, dass sie verstorben war und in den Wirren der Vergangenheit ihre Daten verloren gegangen waren. Nun also dieser Querverweis. Danach gab es eine Karin Laudenz in den Beständen von Antwerp in Westrhein.«
»Antwerpen in Belgien?«
Er winkte ab. »Keine Ahnung, wie das damals hieß. Also zurück zu dieser Karin Laudenz. Sie hatte sich bei der dortigen Hibernationsanlage um eine Aufnahme als Testobjekt beworben und wurde angenommen. Man brauchte dringend Freiwillige, um den Langzeitkälteschlaf zu perfektionieren. Es ergaben sich Hinweise darauf, dass sie erst erweckt werden wollte, wenn man ihren Mann heilen konnte. In den Wirren des wirtschaftlichen Zusammenbruchs gingen viele Daten verloren, wie zum Beispiel die Querverbindung zwischen Ihnen beiden.«
Allmählich begann ich, zu verstehen. »Wollen Sie damit sagen, dass meine Frau ...«
»Ganz genau. Sie haben beide geschlafen und Ihre Karin schläft noch immer im Hibernakulum von Antwerp. Wenn wir Sie als Bürger in die Datenbank eingepflegt haben, und Sie etwas besser mit der heutigen Sprache vertraut sind, können wir Sie entlassen, und Sie können zu ihr reisen. Meine Kollegen in Westrhein freuen sich bereits, Ihr Wiedersehen vorzubereiten. Was sagen Sie?«
Ich war einfach nur sprachlos und starrte Icker Sarn ungläubig an. Ich hatte 320 Jahre geschlafen und erwachte in einer mir fremden Welt, in der ich mir wie ein Fremdkörper vorkam. Nun würde ich meine Frau wiedersehen. Machte es die Situation besser? Sicher, wir würden wieder beisammen sein. Aber war das genug? Konnte das, was ich für sie empfand, darüber hinwegtäuschen, dass wir zwei Wilde in einer modernen Welt waren? Vermutlich nicht.
»Freuen Sie sich denn gar nicht?«, fragte Sarn ratlos. »Ich dachte, es müsste Sie überwältigen.«
Ich nickte und lächelte. »Doch. Es hat mich überwältigt. Sie glauben nicht, wie sehr. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich noch eine Weile hier draußen alleinlassen würden. Ich will einfach das Meer anschauen und nachdenken.«
Sarn zuckte mit den Schultern. »Wie Sie wollen. Sie finden allein wieder zurück?«
Ich nickte und blickte in die Wellen, die sanft gegen das künstliche Ufer schlugen. Ich beachtete ihn nicht weiter und versuchte, aus meinem Stuhl aufzustehen. Nach anfänglichen Schwierigkeiten gelang es mir. Ich spürte, wie das Leben in meine Beine zurückkehrte, und ging ein paar Schritte. Mit jedem Schritt wurde es besser. Ich seufzte und setzte mich in den Kies.

Ich wusste nicht, ob Sarn mich noch beobachtete oder tatsächlich gegangen war. Ich wusste auch nicht, wie lange ich schon hier gesessen hatte. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Es war einfach zuviel gewesen.
»Ken ik te help?«, fragte eine weibliche Stimme neben mir. Ich blickte auf und sah Ina, die sich neben mir niederließ. »I hep meg sorgt weg du. Tim is por essen, du weis?«
Mein Blick wanderte über ihre schlanke Gestalt. Ein Mensch dieser Zeit würde sie als wunderschöne Frau empfunden haben. Ich konnte mich nicht mit dieser blauen Farbe ihrer Haut anfreunden. Dennoch war sie eine Frau und hatte eine feine Antenne für emotionale Zustände. Sofort sah sie, dass ich geweint hatte, und tupfte meine Wangen mit einem Tuch trocken. Diese Geste war zu viel für mich. Es schüttelte mich und ich ließ mich gegen ihre Schulter sinken. Sie nahm mich in den Arm und streichelte mir sanft über die Haare. Ich ließ meine Tränen einfach laufen und schämte mich nicht einmal dafür. Hätte mich jemand gefragt, ich hätte nicht sagen können, warum ich weinte. Meine Krankheit war geheilt, meine Karin lebte noch und ich würde sie wiedersehen, aber alles andere hatte ich verloren. Meine Familie, meine Freunde - sogar meine Heimat - gab es nicht mehr.
Irgendwann löste ich mich aus Inas Armen und lächelte sie verlegen an. »Entschuldigen Sie. Es war nett von Ihnen. Mir geht es gut.«
»Du real gut? I ken by du blief, so du wil.«
»Es ist schon in Ordnung, Ina. Sie können mich jetzt allein lassen. Ich schau noch eine Weile in die Wellen. Ich brauch das jetzt - und danke.«
Sie sah mich einen Moment forschend an, erhob sich und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, wie man einen kleinen Jungen küsst.
Als sie weg war, legte sich ein Lächeln auf meine Lippen. Vielleicht war diese Welt gar nicht so schlecht. Sie war einfach nur fremd und ein Zurück in meine eigene Welt würde es nicht geben. Ich würde kämpfen müssen, um mich hier zurechtzufinden, doch wieso sollte ich es nicht schaffen? Ich würde nicht allein sein. Früher sagte man einmal, dass Heimat nicht die Stadt oder das Land war, in dem man lebte, sondern der Ort, wo die Menschen lebten, die einem etwas bedeuten. Ich würde diese Sprache lernen, in der Ina auf mich eingeredet hat und ich würde die Reise in dieses Westrhein antreten, um meine Karin wiederzusehen. Der Rest würde sich irgendwie finden.