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Reha 2.0
Es gab Tage, da verfluchte ich den Job. Vor zwei Jahren, als es begann, war ich nicht scharf darauf gewesen. Hätte Martin, der Projektleiter, nicht permanent nachgehakt, mich zu überreden, wäre mein Leben heute unkomplizierter. Vor allem die unregelmäßigen Ruhephasen machten mich allmählich fertig. Manchmal schlief ich schon mal acht Stunden durch, doch heute war nicht so ein Tag.
Ich zuckte zusammen, als der Wecker des Mobiltelefons sein schrilles Piepsen hören ließ. Mit fahrigen Bewegungen tastete ich danach und schaltete den Alarm aus. Auf dem Display eine Nachricht von Martin: »Sei bitte pünktlich! Der Proband ist für den heutigen Durchgang vorbereitet. Olaf geht davon aus, dass wir ihn in spätestens einer Stunde synchronisiert haben. Du musst nahtlos für eine Sitzung zur Verfügung stehen.«
Ich warf das Telefon aufs Bett. Idiot! Als wüsste ich das nicht! Nicht eine Einzige hatte ich in den vergangenen zwei Jahren versäumt. Ich wünschte, ich hätte das mal getan. Vielleicht wäre ich dann heute noch dieselbe, die ich zu Beginn des Projekts war.
Ich blickte mich in dem spartanisch eingerichteten Raum um, in dem das Bett stand, dass ich während der tagübergreifenden Dienste benutzen durfte, in denen es nicht lohnte, nach Hause zu fahren. Ein fürchterlicher Raum. Keine Fenster und ständig das Säuseln der Klimaanlage. Das Institut ist eben keine Wellness-Oase.
Ich erhob mich und blickte in den Spiegel, der über dem winzigen Handwaschbecken hing. Meine Güte, wie ich aussah! Die Haare strähnig, Ringe unter den Augen. Liebend gern hätte ich jetzt geduscht, oder mir zumindest frische Kleidung angezogen, aber dazu blieb keine Zeit. Ich musste pünktlich sein. Kaltes Wasser ins Gesicht, ein paar Mal mit der Bürste durch die Haare und los.
Die Tür zum Gang ließ ich sorgfältig einrasten und verschloss sie mit meinem privaten Code.
Auf dem Weg zum Projektraum kam mir Daniela entgegen, die mit einem Stapel Speicherchips auf dem Weg zum Archiv war.
»Eliza!«, rief sie. »Du willst nicht schon wieder in eine Sitzung?«
»Von Wollen ist keine Rede. Martin hat mich herzitiert.«
Sie legte mir eine Hand auf den Arm. »Lass dich nicht verheizen. Was nutzt es, wenn das verrückte Projekt gelingt, und du psychisch vor die Hunde gehst?«
»So schlimm wird es schon nicht werden, Dany. Ich verstehe Martin. Ist man als Operator eingearbeitet, ist es im Grunde unmöglich, jemand anderes in demselben Projekt einzusetzen. Ich hoffe, dass es bald vorbei ist.«
Sie presste die Lippen zusammen und schenkte mir ein Lächeln. »Ich drück dir die Daumen.«
Ich mochte Daniela, war jedoch froh, mich dem zuwenden zu können, was vor mir lag. Warum war das so? Früher konnte ich mich stundenlang mit ihr über alles Mögliche unterhalten. Hatten mich die vergangenen zwei Jahre so sehr verändert?
Ich kam nicht mehr dazu, die Sache zu hinterfragen. Ich hatte den Projektraum erreicht. Mit einem Stoß öffnete ich die schwere Tür und trat ein.
Ich weiß noch, wie mich der Anblick beim ersten Mal beeindruckt hatte. Überall hingen Monitore und unzählige Computer sorgten dafür, dass das Programm funktionierte. Im Zentrum des Raumes stand das Bett, auf dem ich mich gleich ausstrecken würde. Mit Erholung hatte das nicht viel zu tun. Es war harte Arbeit.
»Da bist du ja«, sagte Martin anstelle einer Begrüßung.
»Ich hab dich auch lieb.«
Er hob eine Augenbraue. »Sind wir heute etwas aggressiv?«
Ich hatte keine Lust auf verbale Spielchen. »Martin, ich bin vor rund sechs Stunden erst aus einer Sitzung gekommen. Habe nicht gut geschlafen, und weiß, dass es mehrere Stunden dauern wird, bis ich zurückkommen kann. Was erwartest du?«
Ich setzte mich auf das Bett und betrachtete den Connectorhelm, der in den kommenden Stunden meine Welt sein würde. Aus reiner Gewohnheit checkte ich, ob alle 42 Kabel korrekt auf ihren Anschlüssen steckten.
»Heute so misstrauisch?«, fragte Martin. »Olaf hat alle Kontakte sicher mehrfach überprüft.«
»Es ist mein Gehirn, Martin. Ich habe keine Lust, es wegen eines kleinen Fehlers grillen zu lassen!«
Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Du weißt, dass wir in der finalen Phase sind. Die Kommission hat die Protokolle der letzten Sitzungen angefordert. Es könnte geschehen, dass sie sich live aufschalten, um sich ein persönliches Bild von unserem Fortschritt zu machen.«
»Du meinst meinen Fortschritt«, sagte ich. Dabei hätte ich ihm am liebsten etwas ganz anderes gesagt.
Martins Miene wurde ernst. »Eliza, ich habe viel Verständnis für deine Rolle im Projekt, aber du bist letztlch ein Operator - nicht mehr. Ein Rädchen im Getriebe des Projekts. Ein wichtiges Rädchen, aber nimm dich nicht zu wichtig.«
»Das sehe ich anders.« Ich schaffte es mit Mühe, meine Wut im Zaum zu halten. Was bildete er sich nur ein? Okay, das Projekt war seine Idee, und er war zum Leiter bestimmt worden, nachdem die Regierung beschlossen hatte, es zu finanzieren. Aber es waren Programmierer, Techniker und letztlich ich selbst als Operator, auf deren Schultern die Hauptlast der Arbeit ruhte. Martin war oft nicht einmal vor Ort, wenn ich meinen Dienst antrat.
Mehrere Male atmete ich tief durch, um meine Nerven zu beruhigen. Als ich mich anschickte, den schweren Helm über meinen Kopf zu streifen, fasste er mich am Arm.
»Hast du nicht etwas vergessen? Ohne medizinische Eckdaten darfst du nicht eintauchen. Du weißt das.«
Verstimmt legte ich den Helm beiseite und hielt ihm meinen Arm hin. »Bitte. Willst du mir den Blutdruck messen?«
Martin schüttelte den Kopf und winkte eine Kollegin der medizinischen Abteilung herbei. »Bitte Blutdruck, Körpertemperatur und EEG von Frau da Silva aufnehmen.« Er nickte der Frau zu und ließ uns allein.
»Du bist nicht gut drauf, oder?«, fragte Rayna, unsere Abteilungs-MTA.
Ich nickte, und spürte gleich, dass ich mich zu entspannen begann. Rayna hatte das Talent, uns durch ihre bloße Anwesenheit unseren Stress zu nehmen. Ich wusste nicht, woran es lag, aber man fühlte sich in ihrer Gegenwart gleich besser.
»Der Job laugt mich im Moment regelrecht aus. Die ständigen Sitzungen, bei denen ich mich nicht vertreten lassen kann ... Ich hoffe, die Kommission kommt zu einem positiven Urteil. Wenn das hier vorbei ist, mache ich mehrere Wochen Urlaub, und es ist mir gleich, was Martin sagt.«
Mit geübten Handgriffen maß Rayna meinen Blutdruck. »Man spricht davon, dass heute ein entscheidender Tag ist. Vielleicht beginnt dein Urlaub eher, als du denkst. Nur: Ist es das, was du willst?«
»Was meinst du?«
Sie steckte mir ein Ohrthermometer ins Ohr. »Stell dich nicht dumm, Eliza. Ich führe genau Buch über deine Vitaldaten. Für mich lassen sie nur den Schluss zu, dass du direkt vor jedem Einsatz einen ordentlichen Endorphin-Ausstoß hast. Vielleicht machst du dir etwas vor, aber ich sehe eine Frau, die darauf brennt, die Sitzung zu beginnen.«
Sie sah mich forschend an, und ich hatte das Gefühl, sie würde in mein Innerstes blicken.
»Rayna, ich kann dir nichts vormachen. Tue mir nur den Gefallen und sprich nicht mit Martin darüber. Ich könnte es nicht ertragen, wenn er mich jetzt vom Projekt abzieht.«
»Keine Angst, von mir erfährt er nichts. Aber sei vorsichtig! Versprich mir das!«
Ich musste lächeln, als ich ihr ehrlich besorgtes Gesicht sah. »Versprochen. Mach dir keine Sorgen um mich.«
In mir sah es anders aus. In meiner Brust steckten zwei Seelen. Während die eine schrie, endlich damit aufzuhören, fieberte die andere, dass ich endlich den Helm aufsetzte. Erneut griff ich ihn und stülpte ihn vorsichtig über meinen Kopf. Von einem Moment zum anderen war es stockfinster um mich. Der Helm besaß kein Visier, durch das man schauen konnte. Äußere Reize waren bei der Arbeit nur hinderlich.
Einen Moment war alles still, doch dann spürte ich, wie sich die Platinelektroden aus dem Helm schoben und den Kontakt zu meiner Kopfhaut suchten. Jedes der Kontakte musste exakt über einer vordefinierten Hirnregion positioniert werden. Bei den ersten Sitzungen war mir das unangenehm, doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, und es störte mich nicht mehr. Kurz darauf vernahm ich das Rauschen der Luftversorgung, die mich in dem Helm mit frischer Luft versorgen würde, solange ich in der Sitzung war.
»Bitte bleib jetzt ruhig liegen. Keine Augenbewegungen«, hörte ich Raynas Stimme dumpf durch den Helm. »Ich mache das EEG, bevor wir dich auf die Reise schicken.«
Nach wenigen Augenblicken spürte ich ein leichtes Kribbeln auf der Kopfhaut, dann war es schon vorbei. »Okay, das war’s. Es kann losgehen.«
Über einen internen Lautsprecher hörte ich die Stimme von Olaf Brenner, unserem Techniker: »Bist du bereit, Eliza? Der Proband ist vorbereitet und angeschlossen. Szenerie steht und ist stabil.«
»Ich bin bereit, habe aber keinen Szenenplan erhalten. Wie soll ich eine Sitzung steuern, wenn ich nicht weiß, welche Vorgaben ich habe?«
»Du hast freie Hand. Martin meinte, du sollst deinen Instinkten folgen. Heize ihm ordentlich ein, okay? Wir sind bei dir und nehmen bei Bedarf Kontakt zu dir auf.«
Mir gefiel das nicht, doch ich wusste, dass ich nichts daran ändern konnte. In wenigen Sekunden würde das Programm anlaufen, und ich musste das Beste daraus machen. Gleichzeitig spürte ich, wie eine angenehme Erregung von mir Besitz ergriff.
Als ich erneut ein Kribbeln auf der Kopfhaut verspürte, hielt ich automatisch den Atem an. Das Eintauchen war jedes Mal unangenehm. Unvermittelt setzte ein Gefühl des Fallens ein, und ich musste gegen aufsteigende Übelkeit ankämpfen. Ich wusste, dass meine Augen nichts sehen konnten. Trotzdem nahm ich wallende Farbwolken wahr, durch die ich mit hoher Geschwindigkeit hindurchstieß. Die Fahrt schien immer schneller zu werden, und ich musste mich darauf konzentrieren, mich nicht zu übergeben. In diesem Stadium konnte ich mich auf mein Zeitgefühl nicht verlassen, und wusste nicht, wie lange es dauerte, bis die wallenden Farben einer Schwärze wichen, in der ein blauer Ball schwebte.
Ich wusste, dass nichts von alldem real war, und alle Wahrnehmungen nur das Produkt der Adaption meines Bewusstseins an die vorbereitete Szenenlandschaft waren. Das Projekt war absolut kompliziert, und erforderte Präzision bei der Integration des Probanden, der Szenerie, mir selbst und meiner Kopplung mit dem virtuellen Avatar, der mir eine körperliche Existenz in der Szenerie verleihen würde.
Sanft hörte ich Rauschen von Wind und Wasser. Die akustische Komponente war synchronisiert. Der Rest folgte spontan, und ich wappnete mich innerlich auf den Übergang.
Als würde ein Vorhang beiseite gezogen, wurde es hell um mich. Ich musste blinzeln und beschattete meine Augen mit der Hand. Ich stand an einem herrlichen weißen Sandstrand und blickte auf ein spiegelglattes Meer hinaus. Es galt, mich sofort zu orientieren, denn würde Mirko mich verwirrt empfinden, würde es nur unnötige Erklärungen nach sich ziehen. Ich würde ihn belügen müssen, und das wollte ich nicht. Es war schon schlimm genug, dass diese Welt eine Lüge war.
Ich sah an mir herunter: Ein Körper mit sonnengebräunter Haut und einer Figur wie aus einem Modemagazin. Ich trug nur einen winzigen Bikini, der meine Vorzüge eher unterstrich als verdeckte. Martin ahnte zwar, dass ich es genoss, mich in diesem Körper zu bewegen, aber sicher war er nicht.
Suchend blickte ich mich um, und da lag er. Mirko hatte ebenfalls einen attraktiven Körper. Er schlief im Schatten eines Sonnenschirmes, den er in den Sand gebohrt hatte. Ich musste mich zwingen, mich nicht gleich neben ihn zu legen, um ihn zu spüren. Nein, das konnte ich nicht wagen - nicht heute, wo uns die Kommission über die Schulter blickte. Andererseits sollte ich ihm einheizen. Ich wusste, was Olaf damit gemeint hatte, aber dieser alte Voyeur musste sich noch etwas gedulden. Erst wollte ich ausnutzen, dass Mirko schlief. Das gab mir Gelegenheit, ins Wasser zu gehen, um zu schwimmen. Ich kannte die Szenerie, denn ich war in der letzten Woche häufig hier gewesen. Mirko und ich genossen einen Traumurlaub, in dem ich ihn wiederholt mit Konflikten konfrontierte.
Im Laufe der vergangenen Monate war mir das schwerer gefallen. Zu Beginn des Projekts hatte ich es nur mit Mühe geschafft, mich ihm unvoreingenommen zu nähern. Als das Projekt Früchte zu tragen begann, veränderte sich meine Einstellung zu Mirko. Vermutlich war genau das einer meiner Stresspunkte, denn ich liebte Mirko und musste verhindern, dass Martin oder seine Techniker etwas davon merkten.
Auch Mirko liebte mich. Leider war im Grunde nicht ich es, die er liebte, sondern die Frau, deren virtuellen Körper ich steuerte. Ein wenig verspürte ich Angst davor, wie er regieren würde, wenn er erfuhr, was hier gespielt wurde.
Ich band meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und lief zum Wasser. Der Strand war wie leer gefegt. Außer uns befand sich niemand in unserer Bucht. Ich hätte nackt baden können, tat es dann doch nicht und stürzte mich in die Fluten. Das Meer war am flachen Ufer warm wie in einer Badewanne und fühlte sich herrlich an. Ich schwamm ein Stück heraus und ließ Sonne, Landschaft und Wasser auf mich wirken.
Nach einer Weile machte ich mich auf den Rückweg. In der Ferne sah ich, dass Mirko aufgewacht war. Ich hätte es merken müssen, da ich während der Sitzung verschiedene Informationen des Probanden direkt erfassen konnte. Das System versorgte mich ständig damit. Ich hatte nicht darauf geachtet und fand das nicht schlimm.
Ich winkte ihm aus dem Wasser zu und er winkte zurück. Zurück am Strand lief ich mit wiegenden Hüften auf ihn zu und sah, dass sich seine Augen förmlich an meinem Körper festsaugten. Hatte ich ihm genug eingeheizt? Ich beschloss, ihn weiter zu reizen und griff nach hinten, um den Verschluss meines Bikini-Oberteils zu öffnen. Mit einem aufreizenden Lächeln warf ich es neben Mirko in den Sand. Er tat mir leid, denn ich gab ihm ein Versprechen, das ich nicht halten würde - jedenfalls nicht jetzt und hier. Ich streifte ebenso das Höschen ab und ließ es achtlos fallen. Mirko hatte zwar seine Sonnenbrille auf der Nase, doch an seiner Körperhaltung und seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass er mich bewundernd ansah. Ich gebe zu, dass ich es genoss, obwohl ich privat keine exhibitionistischen Züge zeige. Überhaupt fühlte ich mich in dieser Rolle und vor allem diesem Traumkörper ungemein wohl.
»Du hättest mit mir ins Wasser kommen sollen«, sagte ich, während ich meine Haare frottierte und mich lasziv vor ihm bewegte. Die nun ungebändigten Haare schüttelte ich und ließ sie über meine Schultern fallen. Ich wusste genau, dass ihn das reizte, und er kurz davor stand, mich an sich zu ziehen. Ein Teil von mir hätte genau das jetzt gewollt.
Ich lächelte ihn an. »Gib dir keine Mühe. Ich weiß genau, was sich hinter deiner Stirn abspielt. Ich weiß, was du mir jetzt vorschlagen willst. Du kennst meine Antwort.«
Mirkos Miene zeigte Enttäuschung. Er nahm seine Brille ab und ich blickte in seine braunen Augen.
»Nadja, du bist ein Teufel! Ist dir eigentlich bewusst, was du mit mir anstellst, dich mir so zu präsentieren?«
Ich lachte. »Dann hast du etwas, auf das du dich freuen kannst, wenn wir nachher im Hotel sind.«
Ich beugte mich zu ihm hinab und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Bevor er nach mir greifen konnte, entzog ich mich ihm kichernd. »Später, mein Schatz.«
Die Decke neben Mirko war voller Sand und wirkte, als hätte ich vor meinem Bad darauf gelegen. Ich schüttelte sie aus und legte sie glatt in den Sand. Danach legte ich mich auf den Bauch. Mirko rieb meinen Rücken mit Sonnenmilch ein und massierte meinen Rücken, dass ich unvermittelt wohlig schnurrte wie eine Katze.
»Da kommt jemand«, sagte er.
Ich stemmte mich auf meine Unterarme und blickte umher. »Wo denn?«
»Dort, an der Felsnase. Ein Mann mit Eimern. Es sieht aus, als käme er genau auf uns zu.«
Mirko sah mich abschätzend an. »Du solltest dir etwas überziehen, Nadja.«
Ich grinste ihn an. Meinst du? Hab ich denn etwas zu verbergen?«
Er verzog das Gesicht. »Nadja, mir gefällt das nicht. Schlinge bitte das Tuch um deine Hüften.«
Ich warf ihm eine Kusshand zu, blieb aber liegen, wie ich war. Nackt.
Der Mann kam tatsächlich genau auf uns zu. Er trug bunte Shorts, ein weites Hemd und einen breitkrempigen Hut. Direkt vor uns stellte er seine Eimer ab.
»Like s’m Coconut?«, fragte er in gebrochenem Englisch.
Mirko winkte ab, in der Hoffnung, den Kerl loszuwerden, doch ich richtete mich auf und wandte mich ihm zu. »Gern.«
Amüsiert bemerkte ich, dass der Mann bemüht war, mich nicht anzustarren, doch sein Blick kehrte jedes Mal zu mir zurück. Ich war sicher, dass diese Situation durch das Programm vorgezeichnet war und mir Gelegenheit bieten sollte, Mirko noch stärker zu provozieren. Ein kurzer Seitenblick zeigte mir, wie es in ihm gärte, weil ich mich einem Fremden so schamlos präsentierte. Ich setzte mich hin, wodurch der Fremde meinen Körper noch deutlicher betrachten konnte.
»How much is half a nut?«, fragte ich.
»Two Dollars.«
Ich ließ mir die Nuss reichen, angelte unbefangen nach meiner Geldbörse, bezahlte und legte mich auf den Rücken. Der Fremde schluckte nervös und starrte mich an. Nadjas Körper war eine Augenweide, das war mir bewusst, und ich wusste, wie ich auf Männer wirkte.
Mirko warf dem Mann einen verärgerten Blick zu und brachte ihn dazu, seine Eimer aufzunehmen und zu verschwinden. Unwillkürlich musste ich lachen, als wir allein waren. Ich wandte mich zu ihm und stützte mich auf meinen Unterarm. Meine von der Sonne getrocknete Haarpracht verdeckte seinen Blick auf meine perfekt geformten Brüste. »Dein Gedanke von vorhin war nicht so übel. Was denkst du?«
Mirkos Miene verriet mir, dass er wütend war. Ich tat, als bemerkte ich es nicht. »Wir sind hier unter uns. Niemand würde es bemerken. Komm schon ...«
Sein Ärger machte ihm zu schaffen. Heftig wandte er sich ab und legte sich auf den Bauch.
»Mirko stell dich nicht an. Denkst du, ich hätte mit ihm etwas angefangen? Wenn ich darauf aus wäre, glaubst du, ich wäre mit dir hierher in den Urlaub geflogen? Du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein!«
Ruckartig wandte er sich mir zu. »Du hättest dich nicht so schamlos präsentieren müssen!«
»Meine Güte gönn dem Kleinen mal was. Vermutlich träumt er heute Nacht davon und fühlt sich gut. Es war doch nichts.«
»Mir hat’s nicht gefallen, und ich werde mich daran nicht gewöhnen. Ich bin der Meinung, der Anblick, den du ihm geboten hast, sollte mir vorbehalten sein.«
Ich zuckte demonstrativ mit den Schultern. »Okay, ich nehme das zur Kenntnis. Ein bisschen spießig ... aber okay. Ich möchte nur, dass du weißt, ich bin nicht dein Eigentum.«
Ich wollte es nicht auf die Spitze treiben, und für mich war dieses Thema schon erledigt, daher strahlte ich ihn unvermittelt an. »Sag, magst du einen Cocktail? Ich habe vom Wasser aus drüben, hinter der Felsnase, eine Bar gesehen. Ich würde mir gern einen Drink holen. Kommst du mit? Oder soll ich dir einen mitbringen?
Er überlegte. »Ach weißt du, dein Verhalten hat mir die Laune vermiest. Mir ist jetzt nicht nach Herumspazieren. Wenn du gern etwas trinken möchtest, hol dir einen Cocktail.«
Ich setzte eine beleidigte Miene auf. »Ich finde, du übertreibst. Hab ich dich etwa betrogen? Was ist? Soll ich dir etwas mitbringen?«
»Na gut, bring mir einen Springtime-cooler mit.«
Ich erhob mich, streckte meine Glieder und griff ein dünnes Tuch, das ich mir um den Körper wickelte, dass es wie ein kurzes Kleid wirkte. Wer genau hinschaute, bemerkte gleich, dass ich darunter nackt war. Mirko bemerkte es, verzichtete aber darauf, eine Bemerkung zu machen. Ich muss gestehen, dass ich mit ihm zufrieden war. Ich hätte mich gern anders ihm gegenüber verhalten, aber die Kommission sollte ein positives Bild von Mirko bekommen, und ich war gewillt, alles zu tun, damit es dazu kam.
Ich griff meine Geldbörse und gab ihm einen Kuss, bevor ich mich abwandte und die Felsnase ansteuerte.
Ich war kaum außer Sicht, als ich ein Signal vernahm, das nur ich hören konnte. Meine Notfallkommunikation mit der Systemkontrolle. Jemand versuchte, Kontakt mit mir aufzunehmen. Das kam in einer Sitzung nur vor, wenn es wichtig war. Zum Glück geschah das jetzt, als ich nicht mit Mirko zusammen war.
»Eliza, kannst du reden?« Es war die Stimme von Olaf, dem Techniker.
»Was gibt es?«
»Du hast eine hervorragende Show geboten.«
Es ärgerte mich, dass er das sagte. Es bedeutete, dass auch er mir über die Schulter geblickt hatte. Ich hatte mich zwar absichtlich schamlos verhalten, aber das bedeutete nicht, dass ich mich im privaten Leben so verhielt.
»Olaf, ich will hoffen, dass du begreifst, dass ich hier einen Job zu machen habe.«
»Bist du sicher?«, fragte er anzüglich.
»Was willst du? Du wirst mich nicht in der Sitzung stören, um mir das zu sagen, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Ich wollte nur ankündigen, dass Martin beschlossen hat, in die Szenerie einzutauchen.«
»Martin? Ist er verrückt geworden? Ich habe nicht zwei Jahre mit Mirko zusammengelebt, um mir das jetzt von Martin kaputtmachen zu lassen! Mirko ist wegen mir stabil. Wenn er das gefährdet, kann er sich auf etwas gefasst machen.«
»Eliza«, sagte Olaf mahnend. »Beruhige dich. Vergiss nicht, dass Martin dein Chef ist.«
»Das gibt ihm nicht das Recht ...!«
»Beruhige dich! Martin hat eine Entscheidung der Kommission bekommen, als du bereits in der Sitzung warst. Sie wollen seine Reaktion auf die Konfrontation live erleben. Martin handelt im Auftrag der Kommission. Halte dich zurück und warte, bis er dich ruft.«
Ich schnaubte verächtlich. »Von mir aus. Es passt mir nicht. Ich bin der Operator und habe zwei Jahre Arbeit in das Projekt gesteckt. Und jetzt soll ich den Statisten spielen?«
»Das ist der Job«, sagte Olaf lapidar.
»Ich will ihnen zuhören.«
»Du weißt, dass ich das nicht darf. Du hast hier nicht die Leitung.«
»Olaf, du schaltest mir jetzt sofort Audio und nach Möglichkeit Video zu! Verstehst du das nicht? Ich muss das mitverfolgen.«
»Na gut, sei aber überrascht, wenn Martin dich ruft. Ich will keinen Ärger.«
»Geht klar Olaf ... und danke.«
Die Stimme verschwand aus meinem Kopf. Ich schlich zurück zur Felsnase und spähte vorsichtig zu unserem Liegeplatz zurück. Martin, der Blödmann, kam soeben von der anderen Seite her den Strand herauf. Er wirkte deplatziert in dieser Szenerie, trug einen dunklen Anzug und eine Aktentasche. Mirko blickte ihm irritiert entgegen.
Für einen Moment wurde mir schwindelig und ich musste mich an den Felsen festhalten. Ich begriff, dass Olaf Wort gehalten hatte. Ich vernahm die Geräusche unseres Liegeplatzes. Gleichzeitig überlagerte die Optik des Liegeplatzes mein Sehvermögen. Ich schaffte gerade, mich in den Sand zu setzen. Für mein Gehirn war diese Reizüberflutung zu viel. Aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als Olaf zu bitten, es abzuschalten.
Als ich saß und meine Augen schloss, wurde es besser. Es war, als säße ich neben Mirko auf der Decke und könnte unmittelbar das Gespräch miterleben, das sich anbahnte.
Mirko machte ein nachdenkliches Gesicht, als der Mann mit dem Anzug vor ihm stehen blieb. »Mirko Novetzky?«
»Wer will das wissen?«, fragte Mirko. »Darf man nicht einmal an diesem menschenleeren Strand seine Ruhe genießen?«
»Mein Name ist Schlenk - Martin Schlenk. Wir werden uns unterhalten müssen.«
Martin fuhr hoch. »Moment mal! Woher kennen Sie meinen Namen?«
Schlenk setzte sich ungefragt zu ihm auf die Decke. »Ich kenne nicht nur deinen Namen, Mirko. Wie ich schon sagte: Wir müssen uns unterhalten. Es hat lange gedauert, aber wir sind der Meinung, dass die Zeit reif ist.«
Mirko blinzelte ihn verständnislos an. »Ich verstehe überhaupt nichts. Lassen Sie mich in Ruhe. Ich mache hier Urlaub mit meiner Freundin, wissen Sie? Und ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben, sich zu mir zu setzen. Bitte gehen Sie!«
Schlenk nickte, zog ein Tuch aus der Tasche und tupfte sich Schweiß von der Stirn. »Ist das heiß hier.«
Mirko lachte. »Sie sollten sich fragen, ob sie passend gekleidet sind.«
»Vielleicht. Aber zurück zu dir: Ich weiß, dass du hier mit deiner Freundin im Urlaub bist. Nadja ist eine tolle Frau, nicht wahr?«
»Sagen Sie, was wird das hier? Sind Sie ein Stalker?«
Schlenk schüttelte den Kopf. »Nein, das bin ich nicht. In gewisser Weise bin ich mitverantwortlich für dieses Arrangement.« Er vollführte über seinem Kopf eine kreisende Bewegung mit der Hand.
»Arrangement? Es wäre nett, wenn Sie deutlicher werden könnten. Was wollen Sie von mir?«
Schlenk fingerte am Schloss seiner Aktentasche und zog eine Mappe hervor. »Ich arbeite für den Strafvollzug. Genau genommen bin ich zuständig für den Vollzug bei Kapitalverbrechen. Da hat sich in den letzten Jahren viel getan, musst du wissen. Es ist zwar noch im Experimentalstadium, aber wo man bisher verurteilte Verbrecher nur weggesperrt hat, versucht man in meinem Programm eine ganzheitliche Rehabilitation. Letztlich kommt es dir zugute, dass die Regierung mein Programm finanziert.«Ich dachte, ich höre nicht richtig, als ich Martin dozieren hörte. Wie konnte er Mirko so plump mit den Fakten konfrontieren? Ich war zwar sicher, dass Mirko stabil war, doch was, wenn ich mich irrte? Gebannt verfolgte ich, was geschah.Mirko sah ihn forschend an. »Und warum erzählen Sie mir das alles? Sehen Sie hier etwa irgendwelche Kapitalverbrechen? Betrachten Sie etwa mich als Verbrecher?« Er lachte auf. »Einen größeren Blödsinn habe ich noch nie gehört.«
Schlenk tupfte erneut seine Stirn trocken. »Ich sehe schon, dass die sanfte Aufklärung bei dir nichts bringen wird.«
Er öffnete seine Mappe, zog ein Foto heraus und gab es ihm.
Ich kannte das Foto, ebenso den Inhalt der Mappe, die Martin in seinen Händen hielt. Gespannt wartete ich auf Mirkos Reaktion.
Er nahm es und begann zu zittern, während er es betrachtete.
»Hast du dieses Foto schon mal gesehen?«, fragte Schlenk.
»Ich weiß nicht. Es ist ein Foto von Nadja, aber ... irgendetwas stimmt nicht. Woher haben Sie das?«
»Was stimmt an dem Foto nicht Mirko?«
»Ich bin mir nicht sicher ... Es wirkt, als wäre sie ...«
»Tot?«, fragte Schlenk.Ich biss mir nervös auf die Unterlippe. Jetzt kam es darauf an, wie Mirko damit umging.Mirko fuhr regelrecht zusammen. Seine Hand zitterte heftiger. Sein Blick wanderte zur Felsnase hinüber, hinter der ich verschwunden war, und ich war froh, dass ich mich dahinter auf den Boden gehockt hatte.
Er wandte sich Martin zu. »Herr Schlenk, oder wie Sie heißen mögen, Sie hatten Ihren Spaß. Ich kann nur hoffen, dass es ein Scherz sein soll. Ich darf Ihnen versichern, dass es kein Guter ist. Nadja war eben noch hier bei mir und ist nur kurz zum Nachbarstrand hinübergelaufen, um uns ein paar Cocktails zu besorgen. Wenn Sie einen Moment warten, werden Sie erleben, dass sie mit unseren Drinks zurückkehrt.«
Martin zog weitere Fotos aus seiner Mappe und breitete sie vor Mirko aus. »Schau dir alles in Ruhe an. Zu deiner Information: Nadja ist seit mehreren Jahren tot. Hier habe ich Originalunterlagen der Gerichtsakten. Nadja Morland, 27, wurde am 17. Februar 2011 in ihrer Wohnung in Versmold leblos aufgefunden. Sie wurde durch insgesamt 31 Messerstiche getötet. Alle Indizien deuteten darauf hin, dass ihr Freund, Mirko Novetzky, 31 der Täter war. Der Bluttat war ein heftiger Streit zwischen den beiden vorausgegangen. Mirko, du hast Nadja aus Eifersucht umgebracht. Vor Gericht warst du geständig und wurdest zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Einen kleinen Teil davon hast du sogar im Gefängnis verbüßt.«
Mirko schüttelte heftig den Kopf. »Hören Sie auf mit diesem Unsinn. Sie wissen nicht, wann es genug ist, oder? Das ist nicht mehr witzig. Im Grunde war es schon zu Beginn nicht witzig. Ich denke, Sie verschwinden jetzt!«
»Mord ist nie witzig Mirko.«
»Verdammt! Sollte ich nicht wissen, wenn ich etwas so Schreckliches getan hätte? Denken Sie im Ernst, ich würde Nadja Gewalt antun?«
Martin nickte. »Das denke ich. Du hast es getan. Die Eifersucht hat dich dazu gebracht, die Kontrolle zu verlieren. Du hast wie besessen auf deine Freundin eingestochen. Zwar hat sie dir Anlass gegeben, aber es hätte nie dazu führen dürfen, die Hemmschwelle zum Töten eines Menschen zu überschreiten. An dieser Stelle wurden wir vom VGR-Programm darauf aufmerksam. Dein Fall passte genau zu unserem Profil.«
»VGR-Programm?«
»Das bedeutet ‚Vollzug der ganzheitlichen Rehabilitation‘. Ein von mir entwickeltes Programm, dem du angehörst. Auch, wenn du dich nicht daran erinnerst - du hast dich freiwillig gemeldet. Wir hatten vorher ein intensives Gespräch und ich habe dir gesagt, dass wir Freiwillige benötigen, ich dir jedoch nicht versprechen kann, dass wir Erfolg haben werden. Es war nur eine reelle Chance für dich. Du warst einer der ersten Probanden.«
»Ehrlich?«, fragte Mirko. »Ich nehme es Ihnen nach wie vor nicht ab. Sagen Sie schon: Wer hat Sie engagiert? Wer von meinen Freunden hat sich die Geschmacklosigkeit ausgedacht?«
Martin hob beschwichtigend die Hände. »Okay, bevor wir dieses Theater beenden, lassen Sie mich erklären, was es mit dem VGR-Programm auf sich hat. Wir haben ein Verfahren entwickelt, bei dem wir unseren Probanden speziell entwickelte Träume implantieren. Es sind ausgefeilte, lebendige Szenarien, in denen wir Personen agieren lassen, mit denen die Probanden interagieren. So sind wir in der Lage, zu beobachten, wie du auf unsere Test-Szenarien ansprichst und wie du handelst. Nach und nach wird daraus ein komplettes Psychogramm erstellt, das uns in die Lage versetzt, deine Träume auf inakzeptable Verhaltensmuster abzustimmen. Nenne es eine Umerziehung, wenn du magst.«
»Soll das bedeuten, wir befinden uns hier in einem Traum?« Mirko machte eine ausholende Geste mit dem Arm. »Das alles ist nicht echt? Nadja ist nicht echt? Oder Sie?«
»Die Landschaft existiert durchaus. Wir haben sie uns nur für unsere Zwecke ›ausgeliehen‹. Nadja, das ist eine andere Sache. Ihr Körper, wie du ihn wahrnimmst, wurde von uns nach Originaldaten der verstorbenen Nadja digitalisiert. Gesteuert wurde sie durch eine Kollegin von mir. Sie klinkte sich jeweils in deinen Traum ein, wenn du geschlafen hast, und hauchte der virtuellen Hülle Nadjas Leben ein.«
»Das kann nicht sein!«, protestierte Mirko. »Ich kenne Nadja. Sie ist echt. Gleich werde ich es Ihnen beweisen, und dann lassen sie uns gefälligst in Ruhe!«
Martin seufzte. »Du machst es mir nicht leicht. Da du Zweifel hast, machen wir es jetzt anders ...«
Ich schreckte auf. Was hatte er jetzt vor? Sollte ich den Nachweis erbringen, dass es sich um eine virtuelle Umgebung handelte?
»Olaf, entkopple mich sofort von Audio und Video! Es ist eilig. Beeile dich!«
Versuchsweise öffnete ich meine Augen und wurde sogleich schwindelig. Bei einer Überlappung der eigenen Wahrnehmung und der Einspielung von Audio und Video aus der Szenerie konnte sich ein normaler Mensch oft nicht orientieren.
»Verdammt Olaf! Zieh den Stecker! Er erwartet, dass ich gleich hinter der Felsnase erscheine und zu ihm komme.«
»Eliza. Ich mach ja schon ...«
Wie abgeschaltet verschwand die Szenerie von Martin und Mirko. Meine Empfindungen beruhigten sich und der Schwindel ging zurück. Vorsichtig erhob ich mich. Meine Beine fühlten sich schlapp an und ich musste mich abstützen. Mit jeder Sekunde wurde es besser.
»Olaf, ich brauche zwei Drinks. Kannst du da etwas machen? Ich kann nicht erst zur Bar laufen und im Echtzeitprogramm bleiben. Das schaffe ich nicht mehr rechtzeitig«
»Warte, du Quälgeist. Ich kopiere dir die Drinks in den Sand vor deinen Füßen. Heb sie auf und lauf los, okay? Und kein Wort über unsere Abmachung.«
»Denkst du, ich bin blöd?«
Vor mir erschienen zwei Gläser. Ich griff sie und lief los. Sowie ich um die Ecke bog, fiel ich automatisch in meine Rolle als Nadja zurück. Mit wiegenden Hüften lief ich auf die beiden zu.
»Martin?«, fragte ich schon von Weitem. »Was machst du hier?«
Ich blieb vor ihnen stehen und reichte Mirko seinen Springtime Cooler. Automatisch griff er danach und starrte mich ungläubig an. »Ihr kennt euch?«
Ich nickte lächelnd. »Ja. Allerdings sollte er nicht hier sein.«
Martin sah mich eindringlich an. »Sag ihm, wer du bist.«
Mein Lächeln fror ein. Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Ich setzte mich neben Mirko.
»Was soll das bedeuten, Nadja? Willst du mir jetzt etwa auch das Märchen von Träumen erzählen?«
»Mirko höre mir jetzt bitte genau zu. Mein Name ist nicht Nadja, sondern Eliza. Ich arbeite als Kontaktoperator im VGR-Programm. Ich war zwei Jahre verantwortlicher Operator und habe in dieser Zeit die Einheit Nadja Morland bedient.
Wir sind uns dabei sehr nah gekommen. Es ließ sich nicht vermeiden, dich im Glauben zu lassen, Nadja würde noch leben. Wir haben ...« Ich zögerte einen Moment. »Ich habe dich therapiert.«
Als ich Mirkos entgeisterten Gesichtsausdruck sah, fühlte ich mich unwohl. Ich spürte, dass ich Angst hatte, er könnte mich für die Rolle hassen, die ich gespielt hatte. Ich suchte Martins Blick. »War es das? Hat die Kommission entschieden?«
Er nickte. »Hat sie. Sie hat der heutigen Sitzung beigewohnt und die Reaktionen Mirkos auf die massiven Provokationen haben bewirkt, dass er mit sofortiger Wirkung rehabilitiert ist. Er kann seine Aggressionen offensichtlich kontrollieren und zeigte neben einer verständlichen Verstimmung keine Tendenzen, Nadja Gewalt anzutun. Wir können die Behandlung sofort abbrechen. Wir erwarten, dass die Strafe Mirkos mit sofortiger Wirkung zur Bewährung ausgesetzt wird.«
Ich nickte. Mehr fiel mir nicht ein. Ich hatte genau gewusst, dass die Therapie eines Tages vorbei sein würde, doch in diesem Moment fühlte es sich an, als würde man mir den Boden unter den Füßen wegziehen.
»Brauchst du mich noch?«, fragte Martin.
»Nein. Logge dich ruhig aus. Lass mich einen Moment mit Mirko allein - wirklich allein. Ich will keine Logfiles sehen.«
Martin grinste mit schief gezogenem Mund. »Geht in Ordnung. Mach nicht zu lange. Gib Olaf Bescheid, wenn Ihr bereit seid.«
Er hob grüßend die Hand und verschwand vor unseren Augen. Mirko hatte ständig von einem zum anderen geblickt. Jetzt zuckte er erschreckt zusammen.
Ich lächelte ihn an. »Es ist eine virtuelle Szenerie.«
»Es ist alles wahr? Auch, dass ich ein Mörder bin?«
»Es ist wahr. Vor über zwei Jahren hast du einen Menschen getötet. Die Frau, deren Körper du vor dir siehst, lebt nicht mehr. Ich musste erst lernen, mich wie sie zu verhalten. Leicht war es nicht. Martin hatte oft genug Angst, ich würde zu sehr in meine Rolle schlüpfen. Unrecht hatte er nicht.«
»Was heißt das?«
»Ich musste lernen, mich wie sie zu bewegen, wie sie zu sprechen, wie sie zu verhalten. Ich musste lernen, dich zu täuschen. Für dich musste ich Nadja sein - verstehst du?«
»Wozu das alles? Was habt Ihr davon?«
»Ist dir das nicht klar?«, fragte ich ihn. »Das war die Rehabilitation. Es ist ein neues Verfahren, mit dem Ziel, Straftäter in die Gesellschaft einzugliedern. Die Kommission ist überzeugt, dass es bei dir gelungen ist. Der heutige Tag war deine Prüfung.«
»Und die habe ich bestanden? Was genau habe ich bestanden? Ich glaube, ich verstehe es immer noch nicht.«
Ich legte ihm eine Hand auf den Arm und zuckte zurück. Es fühlte sich vertraut an, doch die Situation hatte sich durch die Beendigung des Projekts verändert. Mirko blickte mich fragend an, doch ich überging die stumme Frage.
»Du musst es dir nicht wie eine Schulprüfung vorstellen. Ich habe dir als Nadja Szenen vorgespielt, die der alte Mirko nicht ertragen hätte. Du hast dich darüber geärgert, mehr aber nicht. Da waren keine Ansätze von Gewaltbereitschaft. Du hast zu keinem Zeitpunkt den Drang gezeigt, mir, beziehungsweise Nadja, Gewalt anzutun. Das hat die Kommission überzeugt. Wenn sie dich aus der Traumszenerie zurückholen, wartet auf dich eine Bewährungsstrafe. Du wirst ein freier Mann sein. Du kannst ein normales Leben führen.«
Mirko starrte mich eine Weile schweigend an. Ich war nicht sicher, ob meine Erklärungen zu ihm durchgedrungen waren.
»Dann war alles nur gespielt?«, fragte er. »Nichts war echt? Unser Beisammensein, der Urlaub? Alles nur Täuschung?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht alles, Mirko. Vieles, aber nicht alles. Es hat keinen Zweck, dir das im Einzelnen erklären zu wollen. Bist du bereit, aufzuwachen? Ich glaube, sie warten auf dich.«
Er nickte. »Lass es uns jetzt beenden. Werde ich Nadja wiedersehen?«
»Wie soll das gehen? Sie ist tot und hat nur durch mich virtuell gelebt, um dich psychisch zu stabilisieren - dich zu einem normalen Mitglied der Gesellschaft zu formen. Jetzt, da das geschehen ist, sollte sie in Frieden ruhen, findest du nicht?«
Er presste die Lippen aufeinander und ich konnte die Trauer in seinem Blick erkennen. Auch ich konnte die Situation nicht mehr ertragen und gab unauffällig das Signal, das Programm zu beenden.Der Strand, das Meer, Mirko, der blaue Himmel ... Es verschwand vor meinem geistigen Auge und ich befand mich in absoluter Finsternis. Ein eigenartiges Gefühl von Fallen machte sich in mir breit und ich hatte unwillkürlich den Drang, mich festzuhalten. Ich konnte meine Hände jedoch nicht bewegen.
Es war jedes Mal das Gleiche: Beim Auftauchen aus der animierten Szenerie war ich einen Augenblick desorientiert. Bevor ich in Panik verfallen konnte, begriff ich, wo ich mich befand. Die Dunkelheit wurde durch den massiven Helm verursacht, der meinen Kopf umgab und die Hände ... Sie wurden häufig von den Technikern fixiert, damit man nicht im Traum heftig gestikulierte und sich verletzte. Die Luft im Helm wirkte verbraucht. Olaf hatte schon die Ventilation abgeschaltet.
»Nehmt mir den verdammten Helm ab!«, rief ich, ohne zu wissen, ob man mich hörte.
»Ich komme schon«, drang es dumpf an mein Ohr. Einen Moment später spürte ich, wie sich jemand an meinem Helm zu schaffen machte.
»Ruhig liegen bleiben. Die Elektroden müssen erst in die Bereitschaftsstellung zurückfahren.«
Ich rührte mich nicht und versuchte, stattdessen in die Wirklichkeit zurückzufinden. Die Riemen an meinen Händen wurden gelöst und jemand hob vorsichtig den Helm von meinem Kopf. Das grelle Licht der Deckenleuchten stach mir in die Augen und ließ sie tränen. Ich setzte mich auf den Rand der Liege und wischte die Tränen weg.
»Na, bist du traurig, dass es vorbei ist?«, fragte Olaf.
»Lass den Scheiß!«, fuhr ich ihn an. »Du könntest das Licht abdimmen, bevor du mir den Helm abnimmst!«
»Okay, die Dame ist verstimmt.« Er drehte sich weg und verließ den Raum.
Im Grunde tat mir leid, dass ich unfreundlich zu ihm war. Olaf war ein netter Kerl, und wir arbeiteten von Beginn des Projekts an gut zusammen. Es steckte ein Körnchen Wahrheit in seiner Frage und ich wollte nicht eingestehen, dass er recht hatte. Zwei Jahre innigste Verbundenheit mit einem Menschen, dessen Entwicklung von einem Mörder zu einem Menschen, der seine Emotionen unter Kontrolle hatte, hinterließen Spuren. Niemals hätte ich geglaubt, dass die Spuren so tief sein könnten. Verdammt, ich war der Operator - seine Therapeutin! Wo bleibt meine Professionalität?
Ich atmete mehrfach tief durch und allmählich fühlte ich mich normal. Als sich die Tür zum Projektraum öffnete, kam Rayna herein. Sie trug Tücher auf dem Arm und legte sie neben mir auf die Liege.
»Hier Eliza. Ich denke, du kannst eine Dusche gebrauchen. Auch, wenn du es nicht hören willst: Du siehst schrecklich aus. Ich hab dir Handtücher und ein Badetuch gebracht. Du wirst sehen - nach einer Dusche sieht die Welt schon anders aus.«
»Wie meinst du das?«
Sie lächelte. »Mach mir nichts vor, Schätzchen. Der Job ist dir unter die Haut gegangen. Du musst jetzt etwas für dich selbst tun. Vielleicht sollten wir hinterher zusammen einen Drink nehmen, oder etwas essen. Was denkst du?«
Ich wusste, dass sie es gut meinte, und in ein paar Tagen würde ich das gern tun, aber heute brauchte ich Zeit, um mir über verschiedene Dinge klar zu werden.
»Nimm es mir nicht übel, Rayna, aber heute würde ich liebend gern nach Hause fahren und auf meiner Couch die Beine hochlegen. Heute will ich nichts mehr sehen oder hören. Kannst du das verstehen?«
Sie nickte verständnisvoll und drückte mich kurz an sich. »Aber du musst mir versprechen, dass wir das nachholen.«
Als sie gegangen war, griff ich die Frottee-Tücher und ging zu unseren Nasszellen. Ich wusste, dass ich frische Kleidung in meinem Spind hatte, und warf meine Sachen auf den Boden. Die Dusche war herrlich. Ich blieb eine gute Viertelstunde unter dem heißen Wasserstrahl stehen und genoss die Wärme. Allmählich spürte ich, dass ich lockerer wurde. Alle Spannung fiel von mir ab.
Nachdem ich mich angezogen hatte und meine Haare gebändigt waren, fühlte ich mich für die Welt da draußen bereit. Sollte Martin seine Nachbesprechung fordern - heute würde ich nicht mitspielen. Vielleicht morgen, nachdem ich rund um die Uhr geschlafen hatte.
Bewaffnet mit Tasche, Autoschlüssel und Mobiltelefon marschierte ich durch die kahlen Gänge des Instituts zum Hinterausgang, wo die Mitarbeiterparkplätze waren. Ich war froh, niemanden zu treffen, denn mir war nicht nach small Talk. Als ich die letzte Tür zur Halle, die nach draußen führte, aufstieß, bekam ich einen Schreck: Dort stand Martin mit Mirko und gab ihm Informationen, wie er sich verhalten sollte. Die beiden hatten mich nicht bemerkt, und ich hatte das Gefühl, mich nicht bewegen zu können. Ich lauschte, was Martin zu sagen hatte.»Mirko, du hast es geschafft. Du verlässt diese Anstalt als freier Mann. Die Bewährungsauflagen werden dich kaum behindern. Du kannst nun gehen, wohin du willst. Wenn du magst, bestelle ich dir ein Taxi. Es bringt dich an jeden Ort, den du dem Fahrer nennst.«
»Das ist toll«, sagte Mirko ohne Überzeugung. »Und welches Ziel sollte ich ihm nennen? Wie ich jetzt weiß, war ich zwei Jahre hier in Behandlung. Vorher habe ich mehr als ein Jahr in einem normalen Gefängnis gesessen. Ich habe keine Wohnung mehr, einen Job erst recht nicht, und ob Geld auf meinem Bankkonto ist, weiß ich ebenfalls nicht.«
»Mach dir darüber keine Gedanken. Unser Programm beinhaltet ein Startgeld für die ersten Tage. Damit kannst du in einem Hotel übernachten, und morgen weitersehen.«
»Ich weiß nicht. Ich komme mir verloren vor. Ich gebe zu, dass ich es mir anders vorgestellt hatte. Meine bisherigen Freunde kann ich nicht aufsuchen. Für sie bin ich ein Mörder. Meine Eltern leben nicht mehr. Ich bin einsam.«
Martin klopfte ihm auf die Schulter. »Du darfst nicht schwarz sehen. Morgen sieht die Welt anders aus. Blicke nach vorn. Such dir eine Wohnung, bewirb dich um einen Job. Wir helfen dir. Du bist der erste Absolvent unseres Programms, und wir werden dich unterstützen, so gut wir können.«
»Das will ich gern glauben, aber im Augenblick sehe ich nicht, wie es weitergehen soll.«Ich hatte gebannt zugehört. Niemand von uns hatte sich Gedanken gemacht, was aus Mirko nach seiner Entlassung werden sollte. Für uns war mit dem erfolgreichen Abschluss des Projekts das Kapitel abgeschlossen. Mir wurde bewusst, dass es so nicht enden durfte. Die Gedanken der letzten Stunde kamen mir in den Sinn. Ich dachte an das Beisammensein mit Mirko in den Träumen, an seine positive Entwicklung unter meiner Aufsicht, an seine Liebe, die zwar Nadja galt, die aber ich empfangen hatte. Mein Gott, was ging da in mir vor?
Ich fasste einen Entschluss. Ich öffnete demonstrativ die Tür und ließ sie lautstark ins Schloss fallen. Die beiden sollten glauben, ich wäre erst jetzt erschienen.
Martin und Mirko wandten sich um, während ich auf sie zuging.
Vor Mirko blieb ich stehen und lächelte ihn an. »Hallo Mirko.«
Er sah mich irritiert an. »Äh, kennen wir uns?«
»Sagen wir: Ich kenne dich. Mein Name ist Eliza - Eliza da Silva. Meinen Glückwunsch, dass unser Programm bei dir erfolgreich war.«
Ich hielt ihm meine Hand hin, obwohl alles in mir nach einer viel intimeren Begrüßung schrie. Er ergriff meine Hand und hielt sie nachdenklich.
»Eliza? Dann sind Sie ... ich meine ...«
»Richtig. Ich war Nadja in deinen Träumen.«
»Jedes Mal? Auch, wenn wir ...?«
Ich nickte. »Wenn du mit Nadja zusammen warst, war ich es, die sie gesteuert hat. Es ließ sich nicht vermeiden, dass wir eng miteinander verbunden waren.«
Ich wartete einen Moment, um ihm Zeit zu geben, das zu verarbeiten - und etwas zu sagen, doch er betrachtete mich nur interessiert.
»Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht.«
Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber dieser Punkt bereitete mir Kopfzerbrechen. Nadja war eine Frau von 1,85 m. Sie war sportlich schlank und ihre Haut war sonnengebräunt und makellos. Ich mit meinen knapp 1,65 m war relativ klein. Ich würde mich nicht als dick bezeichnen, aber gewisse Rundungen hatte ich aufzuweisen. Auf jeden Fall konnte ich es an Sportlichkeit mit keiner Nadja aufnehmen.
Das alles schoss mir durch den Kopf, während Mirko meine Hand hielt und mich betrachtete. »Nein, ich bin nicht enttäuscht. Überrascht, aber nicht enttäuscht.«
»Das freut mich«, sagte ich, und konnte nicht verhindern, über dieses Kompliment zu lächeln wie ein Teenager. »Wie geht es jetzt bei dir weiter? Wohin führt dich dein Weg?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ehrlich? Keine Ahnung.«
»Ich habe ihm angeboten, ein Taxi zu bestellen. Seine erste Nacht in Freiheit kann er in einem Hotel verbringen«, sagte Martin.
Jetzt würde sich zeigen, ob mein Entschluss funktionieren würde. Ich drückte auf die Entriegelung des Autoschlüssels in meiner Tasche. Es hupte kurz und die Scheinwerfer meines Autos blinkten freundlich auf. Ich deutete mit dem Kopf in die Richtung. »Mein Auto. Nimm deinen Koffer und pack ihn hinten rein.«
»Wie bitte?«, fragte Mirko verständnislos.
»Ich mache das Angebot nur ein einziges Mal. Du hast keine Bleibe und ich habe eine geräumige Wohnung. Du kannst mit zu mir kommen.«
Martin hob eine Hand. »Halt, Stopp! Eliza, das geht zu weit. Du warst zwei Jahre seine Operatorin, und die Umwandlung in eine Bewährungsstrafe geht auf dein Konto, aber das hier ist etwas anderes. Dein Job ist beendet, das musst du begreifen. Du bist nicht mehr für Mirko verantwortlich.«
»Das weiß ich selbst!«, fuhr ich ihn an. Die Art, wie Martin mich behandelte, ließ Wut in mir aufsteigen.
»Was glaubst du, löst dein so genanntes ›Programm‹ in den betroffenen Operatoren aus? Ich habe dir häufig genug gesagt, dass die Traumsteuerei keine Einbahnstraße ist. Natürlich werden die Probanden therapiert und nach und nach zu gesetzestreuen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft gemacht. Was denkst du, warum wir das tun können? Ich war lange Zeit intensiv mit meinem Probanden verbunden. Ich hatte zwar im Programm die Oberhand, aber es ist ein Austausch, und ich kann dir nicht sagen, was im Einzelnen ausgetauscht worden ist. Fest steht, dass ich in seinem Kopf war - nicht nur einmal, sondern immer wieder. Mag sein, dass es für dich nur ein Job ist, ich kann mich der Nähe nicht entziehen. Ich habe es gern getan, und ich bin glücklich, dass ich Erfolg hatte. Aber ein Job? Für mich war es zu keinem Zeitpunkt nur ein Job! Träum weiter, Martin!
Ich nehme ihn mit - wenn Mirko das will!«
Ich sah Mirko prüfend an. »Und? Willst du?«
Er hatte unseren Disput verfolgt und schien noch immer verwirrt zu sein. Als er begriff, dass ich eine Entscheidung von ihm forderte, nickte er. »Ich denke, ich gehe mit Eliza.«
Ich funkelte Martin siegessicher an. »Da das jetzt geklärt ist, will ich den Laden hier heute nicht länger sehen als nötig.«
Martin grinste merkwürdig, doch das tat er häufiger. Ich ignorierte es, wandte mich ab, griff Mirkos Koffer und zog ihn hinter mir her zu meinem Auto. Ich hatte keine Lust, in dieser Situation auf Martins Eigenarten einzugehen. Ich hatte den Job gern gemacht, aber mittlerweile fühlte ich mich ausgenutzt. Ich war nicht bereit, nur ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln.
Mirko trottete hinter mir her. Nur wenige Augenblicke später war alles verstaut, Mirko saß auf dem Beifahrersitz und ich fuhr los. Erleichtert stieß ich meinen Atem aus.
Minutenlang betrachtete er mich schweigend, während ich mich zwingen musste, auf den Verkehr zu achten. Es verunsicherte mich, nicht zu wissen, was hinter seiner Stirn vorging. Im Gegensatz zu den Traumsitzungen war ich jetzt darauf angewiesen, dass er mir sagte, was er dachte.
»Wir fahren jetzt zu dir in deine Wohnung?«, fragte er unvermittelt.
»Ja.«
»Dir ist bewusst, dass ich ein verurteilter Mörder bin. Wie kannst du mich um dich haben wollen?«
»Ich weiß genau, was du bist, ebenso wie ich weiß, was du nicht mehr bist. Ich war verdammt oft in deinem Schädel. Ich kenne dich besser als du dich selbst, das kannst du mir glauben. Ich habe den Wandel miterlebt - ihn sogar initiiert. Wenn dir niemand traut - ich tue es, denn ich habe in deinem Kopf mit dir zusammengelebt, dich beobachtet, dich provoziert und dich geliebt. Ich weiß, dass du nicht mehr der Mensch bist, der mit dem Messer auf seine Freundin eingestochen hat. Und diesem neuen Mirko habe ich angeboten, bei mir zu wohnen.«
Er nickte. »Dafür kann ich mich nur bei dir bedanken.«
»Danke mir nicht, denn das Angebot war nicht uneigennützig. Ich denke, dass genau jetzt ein neuer Abschnitt beginnt. Bisher lebte ich als Nadja mit dir zusammen. Ich denke, dass wir es verdient haben, uns auch als Eliza und Mirko kennenzulernen.«
»Was meinst du damit?«
»Ich bin nicht Nadja, falls du das glauben solltest. Dass ich nicht aussehe wie sie, hast du festgestellt. Ich kann dir versichern, dass ich nicht viel mit ihr gemein habe. Das laszive, provokative Verhalten, das Nadja gern gezeigt hat ... Das war nicht ich, sondern die Rolle, die ich für dich spielen musste.«
Er grinste. »Das hatte mich im Grunde immer an Nadja gestört. Vermissen würde ich es nicht. Was bedeutet das jetzt für uns?«
Ich bog in die Straße ein, in der meine Wohnung lag, und parkte den Wagen am Straßenrand.
»Also? Was bedeutet es jetzt?«
Ich wandte mich ihm zu. »Unter anderem heißt es, dass du auf der Couch schlafen wirst. Mein Schlafzimmer ist Tabu für dich. Ob sich das ändern wird, werden wir sehen. Wirst du damit klarkommen?«
Er sah mich erst entgeistert an, dann verzog sich sein Gesicht und er lachte herzhaft. Unwillkürlich fiel ich in dieses Lachen mit ein.
»Ich komme damit klar«, sagte er ernsthaft. »Die Couch ist in Ordnung. Und ich freue mich darauf, dich kennenzulernen - die Frau, die zwei Jahre ständig in meinem Kopf war.«
Unvermittelt zog er mich mit beiden Armen an sich und küsste mich. Es war das erste Mal, dass er mich - Eliza - küsste, und es fühlte sich richtig und gut an.
Nachdem wir uns getrennt hatten, sah er mich schuldbewusst an. »Tut mir leid, ich hätte das nicht ... Aber ich konnte nicht anders.«
Ich legte ihm meinen Zeigefinger über die Lippen. »Das ist in Ordnung. Wir sind am Ziel. Hier wohne ich.«
Wir stiegen aus, Mirko holte seinen Koffer aus dem Wagen und wir standen vor der Haustür. Beide blickten wir an der Hauswand empor. Unsere Hände fanden zueinander. »Meine Wohnung ist in der dritten Etage.«
Auf dem Weg nach oben betrachtete Mirko alles, als müsste er die Welt neu entdecken. Ich schloss meine Wohnung auf und stieß die Tür auf.
»Hereinspatziert. Das wird in der nächsten Zeit dein Zuhause sein.«
Ich ließ ihn vorgehen und schloss die Tür hinter uns. Interessiert lief er durch die Räume und nickte anerkennend. »Schöne Wohnung. Ist das da vorn die Couch, von der du gesprochen hast?«
Ich lachte. »Genau. Das ist sie. Nimm schon darauf Platz. Ich mach mich nur kurz frisch. In Ordnung?«Vor dem Spiegel im Bad blieb ich stehen und musterte mein Gesicht. Ich sah nicht schlecht aus. Ich musste nur aufhören, mich ständig mit Nadja vergleichen zu wollen. Das Gesicht und die Figur eines Models hatte ich nie und würde es auch nie bekommen.
Irritiert spürte ich mein Handy in der Tasche vibrieren. Wer rief ich denn jetzt noch an? Überrascht erblickte ich Martins Nummer auf dem Display.
»Ich wollte dir nur zu deinem Erfolg gratulieren«, sagte er, nachdem ich das Gespräch angenommen hatte. »Vorhin ging es ein bisschen schnell, aber ich wollte es dir auf jeden Fall noch persönlich sagen.«
»Danke.«
Als er nicht antwortete, fragte ich: »Ist sonst noch etwas? Du weißt, ich hatte einen langen Tag und würde gern ausspannen.«
»Nun, dir ist sicher bewusst, dass du unsere derzeit beste virtuelle Therapeutin bist, oder? Spanne jetzt ruhig richtig aus, aber wir müssen uns dringend über deinen weiteren Weg im Programm unterhalten.«
»Das muss doch nicht ausgerechnet jetzt sein, Martin. Ich will meinen wohlverdienten Urlaub und dann sehen wir weiter.«
Er druckste herum, das merkte ich sofort, denn Martin war im Grunde ein Mann der klaren Worte.
»Eliza, ich kann dir diesen Urlaub nicht genehmigen - nicht jetzt. Reg dich jetzt nicht auf. Du wirst es verstehen, glaub mir.«
Ich konnte nicht glauben, was ich hörte. Es fiel mir schwer, ihn nicht anzubrüllen, aber ich wollte Mirko im Wohnzimmer nicht beunruhigen. »Martin, das kannst du mir nicht antun. Ich habe fast zwei Jahre durchgearbeitet, und denke jetzt nicht, du könntest mich mit dem Gerede davon, ich wäre dein bestes Pferd im Stall, ködern. Irgendwann brauche ich eine Pause.«
»Jetzt stell dich nicht so an, Eliza. Tu nicht so, als hätte dir die bisherige Therapie von Mirko keinen Spaß gemacht.«
»Worauf willst du hinaus, verdammt noch mal?«, fragte ich.
»Eliza, mein Schatz, du hast dir zwar ungeheure Mühe gegeben, es vor mir zu verheimlichen, aber ich bin kein Idiot.« Martins Stimme war kühl geworden. »Und deine Reaktion, den Probanden ausgerechnet mit zu die nach Hause mitzunehmen, zeigt mir, wie du zu ihm stehst. Du wirst dich daher ganz sicher auch mit dem weiteren Arrangement sehr zufrieden zeigen.«
»Martin, du bist mein Chef. Ich bin nicht dein Schatz, und auch, wenn dir das jetzt nicht passt, wenn ich das so unverblümt sage, aber du bist ein richtiges Arschloch. Ich hab einen verdammt guten Job gemacht und ihn auch mit Erfolg zum Abschluss gebracht. Ich hab das Spiel zwei Jahre lang mitgemacht, aber jetzt bin ich erst mal raus. Daran gibt es nichts zu rütteln, haben wir uns da verstanden?«
Ich spürte, dass ich Martin getroffen hatte, und genau das hatte ich auch beabsichtigt. Dieser Sklaventreiber sollte nicht auch jetzt noch Macht über mich haben. Mein Projekt war zu Ende.
»Okay, ich nehme das so hin. Für heute. Aber wir werden darüber reden. Es ist noch nicht vorbei.«
»Nicht vorbei? Weißt du was? Du kannst mich mal. Ich habe jetzt keine Lust mehr, mich aufzuregen. Ich wünsche dir einen guten Abend!« Wütend brach ich das Gespräch ab und steckte das Telefon in meine Hosentasche. Das grenzte doch schon an Ausbeutung. Damit würde er bei mir nicht durchkommen. Nicht diesmal!
Ein kurzer Blick noch in den Spiegel, dann löschte ich das Licht im Bad und öffnete die Tür. Als ich sie wieder schloss, stutzte ich kurz. Am Türrahmen hatte sich eine tiefe Macke befunden, die ich verursacht hatte, als ich die neue Garderobe montiert habe. Ich fuhr mit der Hand über den Rahmen, aber es war keine Unebenheit zu entdecken. Ich war sicher, sie vor zwei Tagen, als ich zuletzt in meiner Wohnung gewesen war, noch gesehen zu haben. Ich schob den Gedanken beiseite. Damit würde ich mich später befassen.
Mirko lächelte mich verschmitzt an, als ich mich ihm zuwandte. Mir wurde warm ums Herz und ich musste ebenfalls lächeln.
»Komm, lass dich in den Arm nehmen, Eliza. Ich will die Frau spüren, die mich gerettet und zu einem besseren Menschen gemacht hat.«
Ich setzte mich neben ihn und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Endlich konnte ich entspannen, als ich seinen Arm spürte, der mich sanft umfing.
Ein kurzer Schwindel erfasste mich. Ich kannte das Gefühl. Es trat auf wenn ...
»Na? Überrascht?«, erklang es direkt in meinem Kopf.
Ein eiskaltes Gefühl überkam mich. »Ich wollte es dir vorhin am Telefon erklären, aber du wolltest nicht verstehen, Eliza. Es geht weiter und du bist der Dreh- und Angelpunkt. Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, wir würden Mirko sofort auf die Menschheit loslassen.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Deine Stimme in meinem Kopf?«, fragte ich in Gedanken zurück.
Leises Lachen erklang in meinen Gedanken. »Du hast wirklich gedacht, du wärst zu Hause und in deiner Wohnung? Tja, unsere Virtualisierungen werden immer besser. Nein, Eliza, du liegst noch immer hier im Institut unter der Kontakthaube. Da ich ja jetzt weiß, wie gern du Mirko hast und wie sehr du darauf brennst, ihn weiter zu therapieren ... Willkommen im Rehaprogramm Version 2.0. Ich bin sicher, du wirst viel Spaß bei der Arbeit haben.«
Die Stimme verstummte. Meine Entspannung war mit einem Schlag dahin.
»Was ist mit dir?«, fragte Mirko sanft und seine Augen suchten meinen Blick.
»Nichts. Es ist absolut nichts«, sagte ich leise, aber in mir brandete ein unstillbarer Hass auf. Im Moment konnte ich nichts tun, aber irgendwann musste Martin mich in die wirkliche Welt entlassen und mich ausschlafen lassen. Spätestens dann würde mein Kampf beginnen. Er wird begreifen, dass er sich mit der Falschen angelegt hat.
»Du hast doch etwas«, bohrte Mirko. »Du kannst es mir ruhig erzählen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Ich erkläre es dir später. Wir werden zusammen noch einiges zu erledigen haben. Unser Kampf ist noch nicht vorbei.«
Mirko sah mich fragend an, doch ich schwieg. Stattdessen schmiegte ich mich fester in seinen Arm und gab ihm einen Kuss. Bis wir Martin die Zähne zeigen würden, war noch etwas Zeit.
Michael Stappert, Mai 2016 (Ergänzungen 2024)