- Details
- Zugriffe: 4044
Kongruenz ist mein neuestes Projekt. Ich konnte es gleich zu Jahresbeginn 2020 fertigstellen und das Buch dazu wird in wenigen Tagen überall bestellbar sein. Hier schon mal das erste Kapitel als Leseprobe. Viel Spaß bei der Lektüre.
1. Der erste Tag
Endlich hatte ich den Freitag hinter mich gebracht. Die Woche im Büro war verdammt stressig und jetzt freute ich mich darauf, ein Wochenende mit Anja zu verbringen. Wir hatten das mehr als verdient, denn auch Anja hatte eine anstrengende Woche auf der Messe in Frankfurt.
Der Weg nach Hause in der S-Bahn ließ mich jedes Mal schläfrig werden. Die Luft war stickig und die Klimaanlage schien wieder einmal ausgefallen zu sein.
Irgendwann waren mir die Augen zugefallen, denn ich schreckte hoch, als mich jemand am Knie berührte.
»Entschuldigung«, sagte ein Mann, der mich beim Aufstehen in unserer Vierersitzreihe gestreift hatte,
Ich wollte meine Augen wieder schließen - die Fahrt dauerte weitere zwanzig Minuten -, da bemerkte ich die junge Frau, die mir gegenüber saß und mich anlächelte.
»Warum lächeln Sie?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nichts. Ich fand es nur so lustig, wie Sie immer wieder eingenickt sind - und das bei diesem ständigen Herumgerenne der Fahrgäste.«
»Alles eine Frage der Gewohnheit.« Ich lächelte ebenfalls. »Sie fahren nicht so häufig mit dem Zug?«
Sie schüttelte wieder den Kopf, wobei ihre feinen Haare wippten.
»Es ist eine Ausnahme. Mein Wagen ist in der Werkstatt und ich bin auf dem Weg zu meinem Freund. Meinem neuen Freund. Ich muss gestehen, dass ich zum ersten Mal zu ihm fahre. Bisher haben wir uns immer in Paderborn getroffen, wo ich wohne. Aber wieso erzähle ich Ihnen das eigentlich?«
»Wo müssen Sie denn hin?«
»Gelsenkirchen. Er wohnt ein Stück vom Bahnhof entfernt.«
»Gelsenkirchen? Dort fahre ich auch hin. Dort wohne ich. In welchem Teil der Stadt wohnt denn Ihr Freund? Ich könnte ihnen erklären, wie Sie hinkommen.«
Ihr Lächeln wurde breiter.
»Danke, aber ich denke, er wird mich vom Bahnhof abholen.«
Wir unterhielten uns eine Weile über Belanglosigkeiten, als die Beleuchtung des Zuges plötzlich flackerte und ein Ruck durch den Waggon ging. Unwillkürlich hielten wir uns an unseren Sitzen fest.
»Was war das?«, fragte sie.
»Ich habe keine Ahnung.«
Ich schaute mich um, aber keiner der anderen Reisenden schien beunruhigt zu sein. Es wirkte fast, als hätte - abgesehen von uns - niemand diesen Vorfall bemerkt. Die Beleuchtung brannte jetzt wieder konstant und die S-Bahn fuhr unbehelligt weiter. Einige Minuten später erreichte der Zug den Hauptbahnhof in Gelsenkirchen.
Ich deutete mit dem Kopf nach draußen.
»Hier müssen wir raus.«
Wie viele andere Reisende stiegen wir aus und standen kurz beieinander.
»Und? Sehen Sie Ihren Freund irgendwo?«
Sie spähte in beiden Richtungen am Bahnsteig entlang.
»Ich verstehe das nicht. Er sollte eigentlich hier sein.«
Sie zog ihr Handy aus der Tasche und warf einen Blick darauf.
»Das darf doch nicht wahr sein! Der Akku ist völlig leer. Ich hab das Ding erst gestern Abend aufgeladen.«
»Wenn sie ihn anrufen wollen, können Sie auch gern meines nehmen.«
Ich zog mein Handy aus der Jacke und stellte verblüfft fest, dass mein Telefon ebenfalls tot war. Es ließ sich nicht einmal starten.
Hilflos zuckte ich die Schultern. »Das ist jetzt ein eigenartiges Zusammentreffen. Ich hätte Ihnen gern noch geholfen.«
»Danke. Ist nicht schlimm. Er kommt sicher gleich. Ich warte halt noch ein paar Minuten. Gehen Sie ruhig. Ich bin ein großes Mädchen und komme schon zurecht.«
»In Ordnung. War nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich wünsche Ihnen beiden noch schöne Tage.«
Ich machte mich auf den Weg. Der Vorteil, wenn man in der Innenstadt wohnte, war, dass man vom Bahnhof nach Hause laufen konnte. Die fünf Minuten durch die frische Luft vertrieben die Müdigkeit, die mich im Zug übermannt hatte. Jetzt freute ich mich darauf, heim zu kommen. Die Last des Alltags fiel bereits von mir ab, als ich unseren Hausflur betrat. Den Schlüssel in der Hand, ging ich auf unsere Haustür zu. Ich stand im Begriff, aufschließen, als die Tür von innen geöffnet wurde. Unser Nachbar von der Wohnung über uns stand mir gegenüber.
»Tag Arno«, grüßte ich ihn. »Auf dem Weg zum Schrebergarten?«
Arno sagte nichts, sah mich nur fragend an und quetschte sich an mir vorbei. Ich blickte hinterher. Was war ihm denn über die Leber gelaufen? Hatte es Stress im Haus gegeben und Anja hatte mir davon nichts erzählt? Ich beschloss, das später mit ihr zu besprechen.
In Gedanken vertieft, schloss ich unsere Wohnungstür auf und bemerkte verblüfft, dass die Sicherheitskette von innen vorgelegt war. Seit wann machte Anja das denn? Bei unserem Einzug hielten wir das für eine gute Idee, aber benutzt hatten wir sie praktisch nie.
»Hallo?«, rief ich durch den Türspalt. »Ich bin zu Hause! Die Kette ist vorgelegt.«
Ich hörte, wie sich Schritte näherten und Anjas Gesicht erschien in dem Spalt. Sie riss ihre Augen weit auf, als sie mich erblickte.
»Frank? Was machst du denn hier? Woher hast du einen Schlüssel zu unserer Wohnung?«
»Anja! Bitte! Ich hatte einen wirklich anstrengenden Tag! Mach bitte auf. Ich bin froh, zu Hause zu sein.«
»Sag mal Frank, willst du mich verarschen? Dieses Thema haben wir doch wohl durch, oder? Verschwinde gefälligst! Aber den Schlüssel lässt du hier. Und dann will ich dich nicht mehr sehen!«
Hier lief etwas gehörig falsch.
»Anja, was soll das? Wir haben uns doch nicht gestritten! Als ich heute morgen zur Arbeit ging und wir uns verabschiedet haben, war doch noch alles in Ordnung ...«
»Heute morgen? Bist du völlig übergeschnappt? Hast du getrunken? Lass mich endlich in Ruhe! Du tauchst nach fast sechs Jahren auf einmal hier auf und ... Ich finde einfach keine Worte dafür. Verschwinde einfach, bevor Sven dich hier sieht.«
Ich verstand nicht, was hier vorging. »Sven? Welcher Sven?«
Ich überlegte fieberhaft. Kannte ich einen Sven? Da fiel mir ein, dass ein alter Freund vor Jahren in die USA ausgewandert war. Sein Name war Sven. Einen anderen kannte ich nicht. Und ihn konnte sie ja kaum meinen.
»Jetzt tu nicht so, als wärst du blöd! Ich bin seit fünf Jahren mit Sven verheiratet. Du hast in all dieser Zeit nicht verwunden, dass ich mich für ihn entschieden habe? Und das wundert dich auch noch? Stell dir besser selbst die Frage, wieso ich dir einen Tritt in den Arsch verpasst habe. Und jetzt hau endlich ab, sonst rufe ich die Polizei.«
»Anja, Schatz, hier läuft doch irgendetwas ...«
»Ich bin nicht dein Schatz, verdammt noch mal! Verschwinde!«
»Komm, mach auf!«
Sie schlug die Tür mit einem Ruck zu und ich hätte mir fast die Finger geklemmt.
»Ich rufe jetzt die Polizei!«
Von oben näherten sich Schritte im Hausflur.
»Was ist denn da unten los?«, hörte ich die Stimme von Renate, Arnos Frau.
»Ich weiß es nicht, Renate. Anja benimmt sich eigenartig und lässt mich nicht in die Wohnung.«
Oben erschien Renates Kopf über dem Geländer. »Und wer zum Teufel sind Sie? Lassen Sie Anja gefälligst in Ruhe und verlassen das Haus. Wenn sie die Polizei nicht ruft, werde ich das tun!«
Ich versuchte es noch einmal: »Renate, ich bin es. Frank. Ich bin eben von der Arbeit nach Hause gekommen und Anja erzählt mir was von einem Sven.«
»Natürlich Sven. So heißt ja auch ihr Mann. Sie dagegen habe ich noch nie im Leben gesehen. Und jetzt machen Sie, dass sie Land gewinnen! In diesem Haus passen wir aufeinander auf - damit Sie es wissen!«
Ich begriff zwar überhaupt nichts mehr - oder was ich falsch gemacht haben könnte, aber es war klar, dass ich hier nicht weiterkam. Resigniert verließ ich den Hausflur und trat auf die Straße. Irritiert wandte ich mich um und blickte an der Fassade hoch. Gardinen bewegten sich - ich wurde beobachtet. Meine Hoffnung, Anja würde aus dem Fenster schauen, erfüllte sich nicht.
Was nun? Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, wieso, hatte ich soeben mein Zuhause verloren. Warum erkannte unsere Nachbarin mich nicht? Und Anja? Sie wäre mit diesem Sven verheiratet? Ich verstand die Welt nicht mehr.
Und ich? Hatte ich irgendetwas angestellt, um Anja zu verärgern oder zu enttäuschen? Vor sechs Jahren? Ich war mir keiner Schuld bewusst. Sven? Der Sven, den ich kannte, hatte an der Uni mal versucht, bei Anja zu landen, aber sie hatte immer klargestellt, dass er nicht ihr Typ wäre und nach dem Studium war er in die USA ausgewandert. Ich kann mich an die Party anlässlich der Greencard erinnern, die er bekommen hatte. Seitdem hatte ich nie wieder etwas von ihm gehört. Vermisst hatte ich ihn auch nicht.
Was war hier los?
Während ich mir das Hirn zermarterte, lief ich ohne Sinn und Ziel umher, die Einkaufszone rauf und runter, wich Passanten aus und nahm im Grunde nichts von meiner Umgebung wahr. Es wirkte alles so vollkommen normal. Menschen hasteten von einem Geschäft ins andere, ein Straßenmusiker spielte erbärmlich schlecht auf einer Geige, Kinder jagten Tauben ... Es war wie immer und doch wieder nicht.
Nach einer Weile war ich wieder am Bahnhof. Die Hektik dort hatte inzwischen etwas nachgelassen und die Schlangen an den Imbissbuden und Backständen waren nicht mehr so lang. Ich bemerkte, dass mein Magen knurrte. Klar, ich hatte seit Stunden nichts gegessen. An einen China-Schnellimbiss orderte ich gebratene Nudeln mit Hühnchen. Als ich bezahlen wollte, fielen mir ein paar Münzen aus der Hand und ich bückte mich, um sie aufzusammeln. Dabei stieß ich mit meinem Kopf gegen einen anderen. Jemand hatte sich ebenfalls gebückt, um mir zu helfen.
Als ich mich aufrichtete, erkannte ich die junge Frau, die ich in der S-Bahn getroffen hatte. Ihre Miene hellte sich auf, als sie mich erkannte.
»Ich hätte nicht gedacht, Sie noch einmal wiederzusehen«, sagte sie.
»Das geht mir genauso«, gab ich zu. »Ich hoffe, Sie haben sich nicht wehgetan. Ich habe einen harten Schädel.«
Sie lachte. »Nein, es ist nichts. Wollten Sie nicht nach Hause zu Ihrer Frau?«
Sie muss mir angesehen haben, dass etwas nicht stimmte. »Sie sehen unglücklich aus? Ist etwas nicht in Ordnung?«
Ich nickte. »Kann man so sagen, aber damit möchte ich Sie nicht belasten. Und Sie? Ist Ihr Freund nicht gekommen?«
Sie wurde ernst. »Nein, ist er nicht. Ich habe von einer Telefonzelle aus seine Nummer angerufen und jetzt stellen Sie sich vor: Er hat doch glatt behauptet, mich nicht zu kennen. Er hätte von mir noch nie etwas gehört. Ich komme mir so ... erniedrigt vor. Er hat einfach aufgelegt und später ging er nicht mal mehr ran, als ich es noch einmal versucht habe. Das mit dem Freund hat sich wohl erledigt. Dummerweise ist mein Zug nach Paderborn weg und ich stecke jetzt hier erst mal eine Stunde fest, bevor ich nach Hause fahren kann.«
Die Parallelität unserer Situationen erschien mir eigenartig. Mir war danach, mich ausgiebiger mit dieser Frau unterhalten.
»Ich glaube, wir sollten uns unterhalten. Der Grund, aus dem ich jetzt hier bin, ähnelt Ihrer Geschichte. Ich schlage vor, wir setzen uns in ein Lokal, trinken etwas und reden. Ich verspreche Ihnen, dass Sie verstehen werden, nachdem ich Ihnen meine Geschichte erzählt habe.«
Sie überlegte einen Moment, dann schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben.
»In Ordnung. Etwas trinken. Reden. Bis mein Zug kommt. Nicht mehr, okay?«
Ich hob abwehrend meine Hände. »Ich will Ihnen ganz sicher nicht zu nahe treten. Es ist nur so ein unbestimmtes Gefühl, dass mit uns etwas geschehen ist. Fragen Sie mich nicht, was – aber Sie müssen doch zugeben, dass es nicht normal ist, wenn Ihr Freund Sie erst zu sich einlädt und dann leugnet, Sie überhaupt zu kennen.«
Sie überlegte.
»Das ist schon richtig, aber was hat das mit Ihnen, oder mit uns zu tun? Wir kennen uns doch überhaupt nicht.«
Ich deutete zum Ausgang des Bahnhofs. »Bitte begleiten Sie mich doch. Ich kenne ein nettes Lokal, gleich um die Ecke. Alles öffentlich und um diese Zeit sind sicher viele andere Gäste dort. Sie haben nichts zu befürchten.«
Sie lachte. »Wirke ich so ängstlich auf Sie? Sie müssen sich nicht so ins Zeug legen, mir zu beweisen, wie ehrlich und korrekt Sie sind. Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich neugierig bin, was Sie mir zu sagen haben.«
Wir liefen gemeinsam zum Südausgang des Bahnhofs und überquerten einen Platz, der eher den Charakter eines morgenländischen Basars hatte, als den einer deutschen Großstadt. Meine Begleiterin sah mich misstrauisch an, doch ich versicherte ihr, dass es nur ein paar Meter wären.
Direkt hinter dem Platz stand eine Kirche und daneben war das Lokal, das ich im Auge hatte. Dort konnte man in ruhiger Atmosphäre etwas trinken aber auch leckeres Essen bekommen.
Als wir zur Tür hereinkamen, winkte mir der Wirt schon von weitem zu.
»Mensch Frank, Dich habe ich ja eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wohnst du wieder in Gelsenkirchen?«
Ich sah meine Begleiterin, dann den Wirt verblüfft an.
»Paul, willst du mich verscheißern? Ich war doch erst vorgestern mit meiner Frau hier und wir haben gegessen. Du selbst hast uns bedient.«
Paul kam zu uns herüber und musterte die Frau an meiner Seite.
»Frank, diese Frage muss ich dir stellen. Ich bin ja durchaus vergesslicher als vor Jahren, aber wenn du kürzlich hier gewesen wärst, wüsste ich das. Was soll das überhaupt heißen? Mit deiner Frau. Hast du wirklich geheiratet? Du warst doch immer so ein unentwegter Junggeselle ...«
Ich schüttelte den Kopf. »Paul, ich schwöre dir ... vor zwei Tagen. Mit Anja.«
Pauls Gesichtszüge froren förmlich ein. Er warf meiner Begleiterin einen kurzen Blick zu und ließ seinen Zeigefinger neben seiner Stirn kreisen.
»Mädchen, ich muss dir leider sagen: Entweder macht er sich einen Spaß mit mir oder der hat sie nicht alle. Ich kenne diese Anja, aber sie ist ganz sicher nicht die Ehefrau von diesem Kerl hier. Es gab damals einige hässliche Szenen zwischen den beiden und danach verschwand er von der Bildfläche. Das muss jetzt so um die ... sechs Jahre her sein.«
Er sah wieder mich an. »Ist es nicht so?«
Ich winkte ab. »Lass sein, Paul. Wir wollen nur etwas trinken und reden. Wir klären das später, okay?«
Paul sagte einen Moment lang nichts und starrte mich nur prüfend an. »Was darf's denn sein?«
»Für mich ein Weizenbier. Und was möchten ...?«
»Nur einen Kaffee bitte. Viel Milch.«
Paul nickte und ich schob sie an der Theke vorbei zu den Tischen.
»Was war das eben?«, fragte sie, nachdem wir uns gesetzt hatten. Was meinte er damit: Hässliche Szenen und Sie wären verschwunden?«
Ich hob hilflos meine Arme. »Ich habe absolut keine Ahnung. Ich dachte, es wäre nur bei mir zu Hause eigenartig, aber das Ganze geht offenbar weiter.«
Ihr Blick wirkte jetzt deutlich distanzierter.
»Gut. Ich bin mitgekommen. Aber Sie müssen zugeben, dass es mich nicht gerade beruhigen kann, was ich bis jetzt gehört habe.«
»Ich weiß, wie das für Sie klingen muss, aber es verhält sich wirklich ganz anders. Zunächst einmal: Ich heiße Frank. Frank Jochheim. Seit fast sechs Jahren bin ich mit meiner Frau Anja verheiratet.«
Die Frau deutete mit dem Daumen über ihre Schulter. »Der Wirt behauptet aber ...«
Ich hielt meine rechte Hand hoch und präsentierte ihr meinen Ehering.
Sie musterte mich skeptisch. »Okay, wenn wir schon unsere Namen austauschen – ich heiße Lara. Ich verstehe nur noch immer nicht, wozu du mir das alles überhaupt erzählst. Du sagst also, du wärst verheiratet. Schön für dich. Aber was willst du dann von mir?«
»Du verstehst nicht ... Ich will nichts von dir. Nein, das ist auch falsch ausgedrückt. Pass auf! Wir haben uns im Zug kennengelernt – nun ja, nicht wirklich – aber wir haben uns dort getroffen. Du warst auf dem Weg zu deinem Freund, ich auf dem Weg nach Hause zu meiner Frau. Dass es bei dir nicht glatt gelaufen ist, hast du schon erzählt, aber auch bei mir stimmt einiges nicht. Als ich zu Hause ankam und mit meinem Schlüssel die Wohnungstür aufschloss, war von innen eine Sicherheitskette vorgelegt. Das macht Anja sonst nie. Wir hatten dieses Ding aus Sicherheitsgründen nach unserem Einzug in die Wohnung angebracht, dann aber nicht verwendet. Anja drehte nahezu durch, als sie mich durch den Türspalt erkannte und sagte, ich solle verschwinden. Sie behauptete sogar, wir hätten uns seit Jahren nicht gesehen und es wäre eine Frechheit, jetzt einfach vor ihrer Tür zu stehen. Es ging sogar so weit, dass sie mir sagte, sie wäre schon seit Langem mit einem Sven verheiratet. Der einzige Sven den ich kenne, hat sie vor Jahren mal angebaggert. Sie hat ihn damals abblitzen lassen. Später ist er dann in die USA ausgewandert.«
»Das klingt völlig verrückt«, sagte Lara nachdenklich.
»Das klingt nicht nur so. Das ist verrückt und es macht mich auch verrückt. Wieso habe ich plötzlich kein Zuhause mehr? Wieso ist meine Frau mit jemand anderem verheiratet? Wieso denkt jeder, ich wäre seit Jahren nicht mehr im Lande gewesen? Verdammt, ich bin mit dem Zug von der Arbeit nach Hause gefahren. Ich habe unsere Wohnung erst heute morgen verlassen!«
»Frank, das klingt alles zwar äußerst dramatisch, aber wieso ist es wichtig, dass du mir das alles erzählst? Ich habe zwar hier eine Enttäuschung erlebt, aber ich setze mich später in einen Zug und fahre zurück nach Hause. Ich kann ganz gewiss deine Probleme nicht lösen.«
»Ich erzähle dir das, weil ich glaube, dass wir ein gemeinsames Erlebnis hatten, das der Auslöser für dein und mein Problem war.«
Lara lachte schallend. »Jetzt trägst du aber wirklich dick auf. Wir haben uns im Zug kurz unterhalten – Smalltalk, wenn du mich fragst. Und jetzt sitzen wir hier beieinander. Wo siehst du denn ein 'gemeinsames Erlebnis'? Ist das doch so eine Art Masche von dir?«
»Das Flackern der Zugbeleuchtung. Der kurze Ruck, der durch den Waggon ging. Ich weiß, dass du das ebenfalls bemerkt hattest. All die anderen Menschen im Waggon nahmen davon keine Notiz. Erinnerst du dich? Dieser Augenblick muss etwas bedeutet haben. In diesem Moment ist etwas geschehen – mit uns geschehen.«
Ich sah, wie es in ihrem Gesicht arbeitete. »Ja, ich erinnere mich. Fragte ich nicht: Was war das?«
»Genau! Danach hörte das Flackern der Beleuchtung auf und wir dachten nicht weiter darüber nach. Aber die Akkus unserer beiden Handys waren direkt danach leer.«
»Und du denkst allen Ernstes, diese harmlose Sache hätte für uns beide die Geschichte verändert? Bist du so ein Verschwörungstheoretiker oder sowas?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Aber es ist eine Tatsache, dass meine Erinnerungen absolut nicht mit dem Übereinstimmen, was die Menschen hier über mich und meine Frau denken. Sie selbst benimmt sich ja nach meinem Gefühl auch mehr als merkwürdig. Dein Erlebnis ist jetzt nicht so gravierend, aber auch das ist merkwürdig.«
»Trotzdem«, sagte Lara. »Deine Theorie klingt weit hergeholt. Erzähle das den falschen Leuten und du landest in einer Nervenheilanstalt. Sag selbst: Würdest du dir selbst so etwas glauben?
Ich hielt inne. Hatte sie recht? Verrückt klang meine Theorie schon. Andererseits: Ich saß hier mit Lara und hatte definitiv kein Zuhause mehr. Dorthin zurückkehren hatte heute sicher keinen Sinn mehr, und noch so eine Zurückweisung würde ich heute nicht mehr ertragen. Eine Hotelübernachtung? Vermutlich die einzige Alternative. Schlafen und schauen, ob die Welt morgen wieder in Ordnung war.
Ich bemerkte, dass Lara mich anstarrte.
»Ist etwas?«
Sie verzog die Mundwinkel. »Du warst gedanklich völlig weggetreten. Ich versuche dir seit Minuten zu sagen, dass ich mich besser wieder auf den Weg mache. Es ist schon spät und ich werde allmählich müde.«
»Entschuldige, aber mir geht das alles immer wieder durch den Kopf. Hattest du nicht gesagt, du müsstest auf deinen Zug warten?«
»Ja, hatte ich gesagt. Aber der fährt bald. Ich könnte mit dem Regionalexpress nach Hamm fahren und von dort mit dem Intercity nach Gera weiterfahren. Der hält in Paderborn.«
Ich fand es auf einmal schade, dass Lara mich schon verlassen würde. Aber ich konnte sie verstehen. Aus ihrer Sicht war ich ein Spinner und da wollte sie beizeiten auf Distanz gehen. Trotzdem fand ich es schade, denn sie war eine sympathische Person.
»Okay, dann werde ich jetzt zahlen und dann trennen sich unsere Wege. Wann geht denn dein Regionalexpress nach Hamm?«
»Ich weiß es nicht genau, aber fahren diese Dinger nicht zumindest stündlich? Im Bahnhof hängen ja Fahrpläne.«
Ich ging zur Theke und zahlte Paul die Getränke. Wortlos nahm er das Geld entgegen. Als ich mich umdrehte, stand Lara hinter mir. Die Jacke, die sie im Lokal abgelegt hatte, hatte sie wieder angezogen. Gemeinsam verließen wir das Lokal und liefen schweigend nebeneinander her zurück zum Bahnhof. Ich wusste nicht, was ich jetzt sagen sollte. Lara war die einzige Person, die überhaupt Verständnis für die Situation aufbringen konnte, denn sie war – wie ich – ein Teil davon. Leider begriff sie das nicht. Das Ganze war ein undurchsichtiger Knoten und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass Lara zu seiner Auflösung notwendig war. In wenigen Minuten würde sie mit einem Zug verschwinden und ich würde sie sicher nicht mehr wiedersehen.
»Frank?«
Ich zuckte zusammen. »Ja?«
»Du könntest mir noch einen Gefallen tun. Du wohnst doch hier. Wo finde ich hier einen Geldautomaten? Ich habe kaum noch Bargeld in der Tasche und wenn ich mit dem Intercity fahren muss ...«
Ich wies mit der Hand zu den Schließfächern. »Dort. Neben den Schließfächern ist ein Automat.«
Sie sah mich hilfesuchend an. »Könntest du mich begleiten? Mir ist bei diesen offenen Automaten immer unwohl. Ich denke immer, man beobachtet mich dabei und dann wäre es für einen Dieb leicht, mir Geld und Karte zu entwenden.«
Ich lächelte sie an. »Sicher. Komm, ich schirme dich gegen fremde Blicke ab.«
Lara schob ihre Karte in den Kartenschlitz den Automaten und gab ihre PIN ein. Sie schrie erschreckt auf. Der Automat meldete, die Karte wäre ungültig und würde somit einbehalten. Eine Telefonnummer wurde angezeigt, unter der man weitere Informationen erhalten könne.
»Was mache ich denn jetzt?«, fragte Lara verzweifelt. »Ich habe gestern noch damit im Supermarkt bezahlt. Die kann nicht ungültig sein.«
Ich langte an ihr vorbei und drückte die Abbruch-Taste, aber der Automat schien nicht bereit, die Karte wieder auszuspucken.
»Keine Ahnung, was man jetzt machen kann. Ich habe einen Kugelschreiber. Lass uns die Nummer notieren und die Automatennummer, dann können wir morgen klären, wie du deine Karte zurückbekommst.«
»Ja, aber erst morgen! Ich will aber jetzt nach Hause! Verdammt! Ich hab nicht genug Geld für den Anschlusszug!«
»Mach dir deswegen keine Gedanken. Ich habe genug Bargeld bei mir. Wieviel brauchst du denn?«
Sie sah mich entgeistert an. »Ich nehme von dir doch kein Geld an. Wie sieht das denn aus?«
»Willst du nach Hause oder nicht? Sieh es als kleine Entschädigung dafür an, dass ich dich vollgequatscht habe.«
»Blödsinn.«
»Nein, im Ernst. Es wäre mir ein Bedürfnis, dir jetzt zu helfen. Ich weiß inzwischen, dass du von meinen Ideen nicht viel hältst, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei der Sache – als wärst du doch stärker betroffen als du denkst.«
»Man kann auch Gespenster sehen.«
Ich lächelte. »Du ahnst nicht, wie sehr ich mir wünschen würde, dass es so ist.«
Da kam mir ein Gedanke.
»Sag mal, was hältst du davon, wenn ich dich nach Paderborn begleite?«
»Bitte?«
»Ich will dich nicht stalken, Lara. Ich begleite dich nach Paderborn, bringe dich nach Hause und wenn dann alles in Ordnung ist, bist du mich los. Ich muss sowieso für diese Nacht in ein Hotel und da ist es gleich, ob das in Gelsenkirchen oder Paderborn ist. Aber ich hätte die Gewissheit, dass bei dir alles in Ordnung ist.«
Sie überlegte einen Moment und schien eine Entscheidung getroffen zu haben.
»Frank, ich kenne dich nicht. Ich finde dich durchaus sympathisch, habe aber allmählich das Gefühl, du versuchst Schritt für Schritt in mein Leben einzudringen. Dabei bist du verheiratet, wie du sagst. Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst, in meiner Nähe zu bleiben. Ich kann dich nicht daran hindern, mich nach Paderborn zu begleiten, aber wenn ich zu Hause bin, trennen sich unsere Wege. Ist das klar?«
»Völlig klar. Also sind wir und einig?«
»Habe ich eine Wahl?«
Was konnte ich darauf sagen? Ich nutzte ja jede Möglichkeit, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Etwas sagte mir immer, dass ich sie brauchen würde, um das Rätsel zu lösen.
Gemeinsam betraten wir das Reisezentrum der Deutschen Bahn und kauften dort die erforderlichen Tickets nach Paderborn. Eine halbe Stunden später saßen wir im Zug.
Der Umstieg in Hamm verlief komfortabel, da der Intercity Verspätung hatte. Zumindest das war ein Stück Normalität in dem Chaos, in dem wir derzeit steckten.
Erst neunzig Minuten später erreichten wir den Hauptbahnhof von Paderborn. Da ich noch nie in dieser Stadt war, übernahm Lara die Führung.
»Wir könnten den Bus nehmen, aber ich schlage vor, wir laufen zu Fuß. Es ist nicht weit. Ich wohne in der Brüderstraße, in der Nähe des Krankenhauses.«
Da mir das alles nichts sagte, überließ ich ihr die Führung und wir liefen zügig zu ihrer Wohnung. Als wir das Haus erreicht hatten, drehte sie sich zu mir um.
»Ich danke dir, dass du mich begleitet hast. Ich wollte es zunächst nicht, aber jetzt bin ich doch froh, dass du mich nicht alleingelassen hast. Vielleicht war ich doch etwas zu misstrauisch. Magst du noch einen Moment mit raufkommen? Ich könnte dir das geliehene Geld zurückgeben und vielleicht einen Kaffee machen.«
»Warum nicht? Ich will dich aber nicht drängen.«
Sie grub in ihrer Tasche nach dem Schlüssel und stocherte am Schloss der Haustür herum. »Was zum Henker ...?«
»Gibt's ein Problem?«
»Ich weiß nicht. Ich bekomme den Schlüssel nicht rein. Der geht sonst immer ganz leicht ins Schloss.«
Ich trat einen Schritt nach vorn. »Soll ich es mal versuchen?«
»Denkst du, ich bin zu blöd, ein Schloss aufzuschließen?«
»Nein. Ich dachte nur ...«
»Ich bin zwar blond, aber das beschränkt sich auf die Haare!«
Vermutlich hatte ich das verdient, aber Anja überließ mir solche Dinge immer sofort. Lara war halt nicht Anja. Wir konnten es jedoch drehen und wenden, wie wir wollten – der Schlüssel passte nicht.
»Vielleicht wurde das Schloss ausgewechselt«, vermutete ich.
Sie deutete auf den Schließzylinder. »Sieht der neu aus? Das ist kein neues Schloss.«
Wir standen etwas ratlos vor der Tür.
»In welcher Etage wohnst du denn?«
»Im zweiten Stock.«
Ich warf einen Blick auf das Brett mit den Türklingeln. Zweiter Stock. Was stand dort?
Onur Özgün und B. Lennard.
Ich deutete darauf. »Wie ist eigentlich dein Hausname? Im zweiten Stock kommt nur B. Lennard infrage, oder hast du einen türkischen Namen?«
»Wie kommst du darauf? Ich habe den seltenen Namen Schmidt und der steht ... dort nicht ...«
Sie sah mich geschockt an. »Im Ernst, ich habe erst heute meine Wohnung im zweiten Stock dieses Hauses verlassen. Und jetzt sieht es so aus, als hätte ich nie hier gewohnt.«
Beherzt drückte sie mit der flachen Hand auf alle Knöpfe. Kurz darauf ließ sich die Haustür öffnen und wir betraten das Haus.
»Das ist das Haus, in dem ich wohne. Ganz sicher.«
»Ich glaube dir das«, sagte ich. »Du erinnerst dich? Meine Welt ist ebenfalls zerbrochen. Ich hätte dir gegönnt, dass es bei dir nicht der Fall ist.«
Eine ältere Frau öffnete ihre Wohnungstür im Erdgeschoss. Neugierig musterte sie uns. »Ja bitte?«
Lara lächelte ihr zu. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich habe offenbar den falschen Schlüssel eingesteckt und konnte die Haustür nicht öffnen.«
»Den falschen Schlüssel? Wohnen Sie denn hier im Haus?«
»Frau Doblinski, das fragen Sie doch nicht im Ernst. Ich wohne doch schon seit ein paar Jahren zwei Etagen über Ihnen.«
»Das sollte ich doch wohl wissen, oder?«
Sie sind doch nicht bei diesem Türken eingezogen? Die Pflegerin von Herrn Lennard sind Sie jedenfalls nicht.«
Wir hielten uns nicht weiter mit dieser Frau auf und ignorierten ihr Gezeter, als wir an ihr vorbei die Treppen nach oben stiegen. In der zweiten Etage zeigte Lara auf die Tür, an der ein türkischer Name an der Tür stand. »Das ist meine Wohnung.«
»Vermutlich war sie das – bis heute Nachmittag.«
Sie drückte auf die Türklingel. Ein scheppernder, lauter Ton hallte durch die Wohnung hinter der Tür. Als sie geöffnet wurde, blickte uns eine junge Frau mit Kopftuch an. Auf ihrem Arm hielt sie ein Kind von vielleicht zehn Monaten.
»Ja?«
Lara war jetzt doch fassungslos. »Äh, vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche Lara Schmidt. Sie soll hier in diesem Haus wohnen – oder gewohnt haben. Wissen Sie etwas darüber?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich kenne keine Lara Schmidt. Wohnt nicht hier im Haus.«
»Darf ich fragen, wie lange Sie schon hier wohnen?«
»Mein Mann seit fast sechs Jahren. Ich erst seit der Hochzeit vor zwei Jahren. Vielleicht kennt mein Mann eine Lara Schmidt, aber er kommt erst spät von der Arbeit.«
»Nein, ist schon in Ordnung. Ich frage mal in den Nachbarhäusern.«
Wir stiegen die Treppen wieder herab, vorbei an Frau Doblinski, die uns misstrauisch beäugte, und verließen das Haus.
Lara lehnte sich kurz an mich, wich aber gleich wieder zurück. »Entschuldige. Ich bin etwas durcheinander.«
Sie machte in diesem Moment einen so niedergeschlagenen Eindruck, dass ich sie an mich zog und meine Arme um sie legte. Sie wehrte sich einen kurzen Moment, doch ließ es dann zu, in meinem Arm zu liegen. Ich spürte, wie ihre Schultern zuckten und sie schluchzte. Ich wartete, bis sie sich wieder beruhigte. Nach einiger Zeit löste sie sich aus meinem Arm, wischte sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus den Augen und lächelte mich hilflos an.
»Tut mir leid, ich wollte das nicht. Ich ...«
»Es ist in Ordnung. Entschuldige dich nicht dafür. Deine Welt ist genauso zerbrochen wie meine und letztlich sind wir keinen Schritt weiter. Was ist mit uns geschehen?«
»Und wo gehen wir jetzt hin? Ich habe auch kein Zuhause mehr.«
»Wenn du weißt, wo hier ein günstiges Hotel zu finden ist, schlage ich vor, dort zu übernachten. Morgen überlegen wir dann, wie wir mit unserer verfahrenen Situation umgehen.«
Lara überlegte einen Moment, dann sah ich an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte.
»Komm mit!«
Sie griff meinen Ärmel und zog mich fort. Den ganzen Tag schon erlebte ich wie im Fieber, aber das erschien mir doch zu schnell. Ich hätte gedacht, dass sie jetzt völlig durcheinander wäre, doch das Gegenteil schien der Fall zu sein.
»Hey, was hast du jetzt vor?«
Sie blieb stehen, dass ich fast auf sie aufgelaufen wäre. Ihr Gesicht befand sich nur Zentimeter von meinem entfernt.
»Was willst du? Hast du nicht eben gesagt, wir müssten ein Hotel finden? Normalerweise würde ich einem Mann, der mir nur Stunden, nachdem ich ihn kennengelernt hätte, so etwas vorschlägt, einfach in die Eier getreten. Nur ist unsere Situation alles andere als normal. Ich kenne ein kleines Hotel ganz in der Nähe. Die Frage ist, ob wir das auch bezahlen können. Du weißt, ich habe gerade kein Geld. Wie viel hast du noch?«
Ich zog meine Geldbörse hervor und zählte die Scheine. Ich beglückwünschte mich innerlich, dass ich am Morgen an einem Geldautomaten war. »Dreihundert Euro. Das wird für heute Nacht sicher reichen.«
Lara nickte. »Okay, aber das wird nicht lange reichen. Du solltest gleich prüfen, ob wenigstens deine EC-Karte noch funktioniert.«
»Und wenn die auch eingezogen wird?«
Lara dachte erfrischend pragmatisch. »Na und? Was macht es für einen Unterschied, ob die Karte eingezogen wird, oder sie uns nichts nutzt, weil du sie nicht verwendest?«
»Auch wieder wahr. Dann sollten wir bald checken, ob ich sie noch verwenden kann. Was ist nun mit einem Hotel?«
Sie lächelte humorlos. Hätte mir gestern jemand gesagt, ich würde mit einem Kerl ins Hotel gehen, den ich erst seit wenigen Stunden kenne, hätte ich ihm gesagt, er wäre verrückt.
»Wir können es auch lassen.«
»Und dann?«
»Oder wir könnten getrennte Zimmer nehmen.«
»Ja klar! Und dann reicht dein Geld am Ende nicht mal für die nächsten zwei Tage ...«
»Also du meinst wirklich, es macht dir nichts aus, wenn wir ...?«
Lara rollte mit den Augen. »Entspann dich, Frank. Du wirst ja nicht gleich über mich herfallen, oder?«
Ich lächelte. »Dein Vertrauen ehrt mich.«
»Quatsch! Du hast dich um mich gekümmert, obwohl du es nicht musstest, bist mit mir nach Paderborn gefahren. Nein, ich denke nicht, dass du so ein Typ bist. Lass uns ein Doppelzimmer nehmen. Vielleicht klärt sich ja morgen alles.«
»Ja. Hoffentlich.«
Lara führte mich zu einem kleinen Hotel in Bahnhofsnähe. Sie hatten dort ein freies Zimmer für uns und wir checkten dort ein. Den Betrag für die Nacht zahlte ich im Voraus. Ab sieben Uhr sollte es Frühstück geben. Ich fragte den Portier nach einem Geldautomaten und erfuhr, dass gleich um die Ecke einer wäre. So kehrten wir zurück auf die Straße, da ich gern testen wollte, ob ich noch über Geld verfügen konnte.
Es handelte sich sogar um einen Automaten meiner eigenen Bank. Etwas nervös schob ich die Karte in den Eingabeschlitz. Nach kurzer Zeit erschien auf dem Bildschirm die Frage, ob ich eine Auszahlung wünsche oder den Kontostand erfahren wolle. Es sah alles gut aus. Ich tippte auf 'Auszahlung' und der Automat verlangte die PIN. Ich tippte die Ziffernfolge ein und sie wurde akzeptiert. Sicherheitshalber forderte ich gleich fünfhundert Euro an und der Automat verarbeitete es klaglos. Wenige Sekunden später erhielt ich zunächst die Karte und dann mein Geld.
Triumphierend hielt ich die Scheine hoch.
»Wir können erst mal entspannt hier übernachten, denke ich.«
Lara nickte und kaute auf ihrer Unterlippe. »Ich wüsste nur gern, wieso mich scheinbar niemand mehr kennt und selbst der Geldautomat mir sagt, die Karte wäre ungültig.«
»Da kommen wir auch noch dahinter«, versuchte ich sie zu beruhigen.
Ich wollte meine Bankkarte schon wegstecken, als mir einfiel, dass es nicht schaden konnte, zu erfahren, welchen Kontostand ich derzeit hatte. Also noch einmal die Karte rein, die PIN eingegeben und Kontostand angefordert. Als die Zahlen auf dem Monitor erschienen, erstarrte ich.
»Was ist los?«, fragte Lara. »Bist du auch pleite?«
Ich trat beiseite und deutete auf den Bildschirm. Lara trat näher heran und ich erkannte von der Seite, wie sie ihre Augen aufriss.
»Du hast 762.000 Euro auf dem Konto?«
Sie wandte sich mir ruckartig zu. »Verdammt, wer bist du?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Wenn ich das wüsste. Klar, ich habe einen ganz guten Job, aber mehr als zweitausend habe ich nach Abzug aller Lastschriften selten auf dem Konto. Ich schwöre, so viel Geld habe ich noch nie besessen – und es war heute morgen auch noch nicht da.«
»Es wird immer rätselhafter.«
Ich zog meine Karte aus dem Gerät und verstaute sie sorgfältig. »Lass uns auf unser Zimmer gehen – oder wir trinken noch etwas. Der Portier sagte etwas von einer Mini-Bar.«
Das Hotel war doch nicht so klein, wie ich zunächst erwartete. Es gab einen Aufzug und unser Zimmer befand sich im fünften Stock. Es war nicht groß, aber es gab ein ausreichend großes Doppelbett, ein Bad und zwei schmale Sessel, die zu beiden Seiten eines dreieckigen Tisches standen. Nach kurzem Suchen fand ich die Mini-Bar. Während ich den Inhalt inspizierte, fand Lara in einer Schublade ein Universalladegerät für Geräte mit Micro-USB-Anschluss. Wir konnten damit unsere Handys gleichzeitig aufladen.
Wir saßen eine Weile in den Sesseln und tranken eine Flasche von dem Wein aus der Mini-Bar. Ich muss gestehen, dass ich schon besseren getrunken hatte, aber er erfüllte seinen Zweck. Wir entspannten und entwickelten eine gewisse Bettschwere.
Unsere Ausstattung war mehr als dürftig. Zwar gab es im Bad Handtücher und Badetücher, sowie Zahnbürsten und Zahncreme, aber wir hatten ja nur das, was wir auf dem Leib trugen. Es blieb nichts anderes übrig, als in Unterwäsche ins Bett zu schlüpfen. Ich fand Lara schon vorher äußerst attraktiv, aber sie in Unterwäsche zu sehen, war eine Schau. Als sie meinen Blick bemerkte, beeilte sie sich, unter der Decke zu verschwinden.
»Hast du mich gerade angestarrt?«
Ich fühlte mich ertappt. »Ja, irgendwie schon. Entschuldige.«
»Und warum hast du das getan? Dir ist doch wohl klar, dass ich dir diesen Anblick normalerweise nicht geboten hätte.«
Ich fand, dass sie den Bogen jetzt etwas überspannte. »Jetzt reg dich nicht auf. Wenn du dich im Bikini am Strand aufhältst, sieht das auch nicht viel anders aus. Dort wirst du auch nicht jeden Kerl anmachen, der dich anschaut, oder?«
»Auch wieder wahr. Ach, ich weiß auch nicht ...«
Ich krabbelte unter meine Decke. Zum Glück hatte jeder seine eigene.
»Und du?«, fragte ich.
»Was?«
»Hast du nicht geguckt?«
»Du meinst, ob ich dich ...?«
»Und? Hast du?«
Lara kicherte. »Ja, verdammt. Natürlich hab ich dich auch betrachtet. Ist irgendwie schon bescheuert, was? Da steigt man zusammen ins Bett und ziehrt sich, wenn der andere einen anschaut.«
»Na, unter 'zusammen ins Bett steigen' verstehe ich aber was anderes«, sagte ich lachend.
»Du weißt genau, was ich meine!«, sagte sie laut und schlug mich mit ihrem Kissen.
Ich revanchierte mich sofort und mit einem Mal war eine Kissenschlacht im Gange.
Irgendwann hielt ich ihre Arme fest und unsere Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Wir atmeten schwer und unsere Blicke trafen sich. Wir wurden wieder ernst.
»Was tun wir hier?«, fragte ich und ließ sie los.
»Ich weiß nicht.«
Sie rückte von mir weg und zog sich ihre Decke bis zum Hals. Die lockere Stimmung war verflogen. Ich wünschte ihr eine gute Nacht, drehte mich von ihr weg und löschte das Licht auf meinem Nachttisch.