1 Isla dos Flores
1.1 Heiligabend

cuprum11Es war noch sehr früher Morgen, als ich mit meinem Fahrrad die letzte Steigung nach Farol de Albarnaz nahm. Bis zur Brücke über den Moinho war es immer recht angenehm, zu fahren, doch das letzte Stück verlangte mir doch jedes Mal einiges ab. Im Grunde mochte ich es, so früh unterwegs zu sein. Es half mir, den Kopf frei zu bekommen und mich auf meine Arbeit vorzubereiten. Es war noch dunkel und der Scheinwerferkegel meines Rades tanzte mit jedem Tritt in die Pedalen über das rissige Pflaster der schmalen Straße. Das Meer zu meiner Rechten rauschte leise und trotz der Anstrengung genoss ich den milden Dezember dieses Jahres. Früher, in Deutschland, wäre ich zu dieser Zeit nicht auf die Idee gekommen, nur mit einer relativ dünnen Jacke bekleidet, mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Das Meer war nur durch die leise Brandung zu erahnen, denn zu dieser Stunde präsentierte es sich noch in absoluter Schwärze. Früher hätte man die vorbeifahrenden Schiffe wie die Perlen einer imaginären Kette erkennen können, doch das hatte inzwischen fast vollständig aufgehört.
In der Ferne konnte ich schon die Außenbeleuchtung der Station erahnen. Dort war meine Arbeitsstätte - eine Station am Ende der Welt, in der Mitte von Nirgendwo.
Ich legte mich noch einmal richtig ins Zeug, um die letzten Meter bis zum Parkplatz zu schaffen. Oben angekommen, stellte ich mein Zweirad unter einen Carport, der ursprünglich für die Autos der Angestellten gedacht war, aber heute fuhren - wenn überhaupt - sowieso nur noch Lastwagen und die Carports wurden anderweitig genutzt.
Nach der Dunkelheit des Weges und dem trüben Lichtkegel meiner Lampe tat das grelle Licht auf dem Parkplatz vor dem Stationsgebäude fast weh in den Augen. Das Gebäude war sicherlich keine Schönheit - es war halt ein Zweckbau und die GulfGen-Corporation hatte seinerzeit sicher anderes im Sinn gehabt, als ein gefälliges Design. Es war eben ein kalter, hässlicher Betonklotz. Ich betrat das Gebäude und lief sofort in die Messwarte, weil ich wusste, dass mein Kollege Ronald auf seine Ablösung wartete.
Die Messwarte war ein großer, quadratischer Raum ohne Fenster, der über und über mit Anzeigeinstrumenten übersät war. Ronald hatte die Deckenbeleuchtung abgeschaltet und so wurde der Raum nur gespenstisch durch die vielen Instrumentenbeleuchtungen etwas erhellt. Ronald saß in seinem Drehsessel und schwang darin zu mir herum, als er meine Schritte hörte.


»Du hast das Licht draußen brennen lassen«, begrüßte ich ihn. Es war eine Art von Running Gag zwischen uns, denn elektrische Energie war so ziemlich das Einzige, woran auf Flores kein Mangel herrschte.
»Wie unaufmerksam von mir«, lachte Ronald. »Du bist früh dran, heute.«
»Ach, ich konnte nicht mehr schlafen und da dachte ich, dass du es mir nicht übel nehmen würdest, wenn ich dich ablöse.«
Ronald grinste. »Worauf du einen lassen kannst. Aber mal im Ernst: In deiner Situation wäre ich garantiert nie so pünktlich hier wie du. Habt Ihr etwa Probleme?«
»Mach dir keine Hoffnungen, du Casanova. Zwischen Marina und mir ist alles in Ordnung. Das darfst du mir glauben.«
Ronald seufzte. »Man wird doch noch träumen dürfen. Ich hab sowieso nie verstanden, was sie an dir findet - wo sie doch einen Kerl wie mich haben könnte.«
»Tja, vielleicht bist du doch nicht der Adonis, der du gern sein möchtest. Vielleicht solltest du am Wochenende mal nach Ponto Delgado kommen. In manchen Lokalen gibt es Tanz, und soweit ich gehört habe, besteht fast immer Mangelware an netten, jungen Männern. Aber ich habe das Gefühl, dass du dich nicht traust.«
»Ich? Mich nicht trauen? Das sagt so ein schüchternes Bürschchen wie du?«
Ich lachte. »Ich hab nie behauptet, ein Weiberheld zu sein. Aber das muss man ja auch nicht sein, oder? Komm einfach am Wochenende bei uns vorbei und wir gehen zusammen in eines der Lokale, die Marina kennt. Da ist sicher für dich auch was Passendes dabei.«
Er verzog das Gesicht und wandte sich dem Kontrollpult zu. Ich wusste, dass er meine Frau sehr mochte und auch, dass alles Gerede nur Spaß war. Allerdings fühlte er sich auch einsam und konnte nicht aus seiner Haut heraus - genau wie ich, nur, dass Marina mich aus meinem Gefängnis befreit hatte. Ronald war offenbar nicht bereit, das Thema weiterzuführen, also wurde ich dienstlich.
»Gab es während deiner Schicht Besonderheiten?«
»Turbine 9 hatte ein paar Aussetzer. Ich konnte die Spannung aber durch Lastverteilung mit den Reserveturbinen konstant halten. Ich hab Sea-Eye vorbeigeschickt.«
»Und? Hat die Drohne etwas herausgefunden?«
»Es war nur ein dicker Ballen Seetang, der sich am Rotor verfangen hatte und ihn gebremst hat. Nichts Ernstes, aber wir sollten das Wartungsteam mit dem U-Boot dort hin beordern. Ich möchte die Reserveturbinen nicht zu lange in Betrieb halten.«
»Das muss ja auch nicht sein. Wir hatten in den letzten Wochen dauernd diesen verdammten Tang in den Turbinen. Wir sollten über Abschirmungen nachdenken.«
Ronald lachte humorlos. »Tolle Idee. Und wo willst du das Material dafür herbekommen?«
»Ja, ich weiß. Es kommen aber sicher wieder bessere Tage.«
»Sicher?«
»Was heißt 'sicher'? Es muss einfach wieder besser werden!«
Wir schwiegen einen Moment, bis Ronald sagte: »Du denkst daran, dass um zehn der turnusmäßige Funkspruch mit São Miguel fällig ist?«
»Na klar. Ich mach das schon. Sieh du zu, dass du in die Koje kommst und etwas Schlaf bekommst.«
Ronald erhob sich träge und streckte seine Glieder. Dabei gähnte er herzhaft. »Weißt du was? Genau das werde ich jetzt tun. Ich überlass dich deinem Schicksal. Du kannst mich aber jederzeit anfunken, wenn es hier brennt.«
Ich winkte ab. »Hau einfach ab. Was soll schon geschehen? Schlaf dich aus - wir sehen uns später.«
Ronald grinste, während er sich seine alte, speckige Jacke überzog. »Wenn man so nett gebeten wird, ziert man sich nicht länger. Bis später dann.«
Er hob noch einmal grüßend die Hand und verließ die Messwarte. Ich ließ mich auf den Drehsessel gleiten, auf dem Ronald eben noch gesessen hatte, und stellte ihn für meine Größe ein. Auf dem Monitor der Eingangskamera sah ich ihn zu seinem Fahrrad gehen. Als wüsste er, dass ich ihn beobachte, grüßte er noch einmal militärisch mit der Hand, bevor er aufs Rad stieg und den Parkplatz verließ. Nun war ich allein. Bis die Wartungsteams kamen, dauerte es noch ein paar Stunden - ich hatte also Zeit, alle Systeme in Ruhe zu checken. Ich lief noch einmal in die kleine Teeküche, die neben der Messwarte gelegen war, und stellte zufrieden fest, dass Ronald eine große Kanne Kaffee gekocht hatte. Noch gab es genügend Kaffee auf Flores, aber ich wusste nicht, was käme, wenn erst die ersten gravierenden Versorgungslücken entstehen würden. Ich nahm mir einen Becher Kaffee und schlenderte zurück zu meinem Sessel. Die schwache Beleuchtung machte mich müde, also schaltete ich das Deckenlicht ein. Auf dem Pult lag die Checkliste, die ich durcharbeiten musste. Ein flüchtiger Blick darauf sagte mir, dass die Probleme an Turbine 9 tatsächlich das Einzige gewesen war, das während Ronalds Schicht vorgefallen war. Routinemäßig ging ich die einzelnen Positionen durch und nach einer knappen Stunde war ich damit fertig. Jetzt drang die Müdigkeit wieder durch - vermutlich der Tribut an das viel zu frühe Aufstehen am Morgen. Ich nickte etwas ein, wissend, dass die automatischen Sensoren an unseren unterseeischen Generatoren sofort Alarm auslösen würden, wenn etwas Unvorhergesehenes geschah.
Erst das durchdringende Piepsen des Funkgeräts ließ mich aus meinem Schlaf hochschrecken. Die große Uhr über dem Messpult zeigte zehn Uhr - es war der Routineruf von unserer Zentrale auf der Hauptinsel São Miguel.
Hektisch drückte ich auf den Knopf für die Rufannahme. »Messwarte auf Flores, Ferdinand Menzel hier.«
»Na, hab ich dich geweckt?«, drang es aus dem Lautsprecher, und es folgte ein wissendes Lachen. »Hier ist Sebasto Pereira, GulfGen-Labor Achada, São Miguel. Wie geht es euch?«
»Danke der Nachfrage«, lachte ich. »Mensch, Sebasto, wir haben uns ja ewig nicht mehr gesprochen. Wenn ich das nächste Mal auf São Miguel bin, sollten wir mal zusammen einen trinken gehen. Bist du noch immer mit dieser kleinen Schwarzhaarigen zusammen?«
»Constanzia? Nun, wir haben im Oktober geheiratet, wenn du das meinst.«
»Meinen Glückwunsch, Sebasto.«
»Danke. Und wie ist es bei dir? Noch immer der einsame Wolf?«
»Als einsamen Wolf hab ich mich eigentlich nie empfunden. Aber nein, ich bin nicht mehr solo. Ich bin seit ein paar Monaten ebenfalls verheiratet.«
»Ach, mach keinen Quatsch! Du hast doch immer gesagt, dass du von Flores weg bist, sobald sich wieder eine Gelegenheit ergibt - und nun heiratest du sogar eines von unseren Mädels? Wie heißt sie denn?«
»Marina. Und, wie du dir denken kannst, bin ich gar nicht mehr so scharf darauf, hier wegzukommen.«
Sebasto lachte. »Ja, die Azoren haben durchaus ihre Reize, was? Aber mal was anderes: Gibt es bei euch Besonderheiten? Laufen die Generatoren? Wie sieht es an der Ersatzteilfront aus?«
»Alles im grünen Bereich. Die Unregelmäßigkeiten betreffen meist nur Tang, der sich in den Rotoren verfängt. Das bekommen die Wartungsteams immer schnell in den Griff. Die U-Boote sind in Ordnung. Ersatzteile haben wir während der letzten Wochen nur wenige gebraucht. Der Bestand ist auch noch reichlich. Was uns fehlt, sind Masten.«
»Masten?«
»Ja, wir leben ja auf einer sehr kleinen Insel und haben entschieden, sie soweit es geht, zu elektrifizieren. Wir haben so viel von diesem verdammten Strom und können ihn nicht unter die Leute bringen. Wir haben kilometerweise Kabel, aber kaum Masten, um es zu verlegen. Wir können ja schlecht alle Bäume auf Flores dafür fällen.«
Sebasto schwieg einen Moment. »Eure Idee ist nicht schlecht, aber wir können euch keine Masten liefern. Da müsst ihr schon selbst sehen, wie ihr zurechtkommt. Die Vorräte an brennbaren Treibstoffen werden nicht mehr lange reichen. Da wäre es schon gut, so viele Haushalte wie möglich an das Versorgungsnetz anzuschließen. Ich werde diesen Vorschlag auch mal in der nächsten Nachmittagsbesprechung vorbringen. Das wäre eventuell auch was für São Miguel.«
Jedes Mal, wenn ich mit den Leuten in Achada sprach, musste ich an meine Familie denken, die im fernen Deutschland lebte - wenn sie noch lebte. Achada hatte mitunter schon mal Kontakt zum Festland. Die Insel lag eben fünfhundert Kilometer näher am Festland als Flores. »Sag mal, habt ihr etwas aus Europa gehört?«
»Ja, das haben wir tatsächlich. Wir hatten erst gestern Funkkontakt zu einem privaten Funker in Spanien und mit einem in Stockholm. Ich kann dir sagen, dass wir es wirklich nicht schlecht getroffen haben. Die Situation auf dem Festland ist katastrophal. Die ersten beiden Weltkriege waren ja schon schlimm genug, aber dieser Krieg hat eine ganz andere Qualität. Diesmal haben sie uns in die Steinzeit zurückgeworfen. Regierungen gibt es im Grunde nicht mehr. Alle, die behaupten, die Ordnung wiederherstellen zu wollen, sind eigentlich Führer von irgendwelchen Milizen, die selbst jetzt noch eine Scheibe vom Kuchen abhaben wollen. Sie haben noch nicht begriffen, dass sie auf dem letzten Ast sitzen, der noch am Baum ist, und sägen fleißig daran herum.«
»Also stimmt es, dass die gesamte Technologie nicht mehr funktioniert?«
»So ist es. Alles, was mit Kupfer zu tun hat, ist nur noch bröseliger Dreck. Leiterplatinen in Computern, Stromleitungen, Wicklungen in Motoren, einfach alles funktioniert nicht mehr. Die Kommunikation ist quasi vollständig zum Erliegen gekommen, die Versorgung der Städte klappt nicht mehr, sie haben keine medizinische Versorgung mehr. Diese verdammten Naniten haben ganze Arbeit geleistet.«
»Weiß man denn, wo diese Dinger hergekommen sind? Wir hatten alle Angst vor nuklearen Waffen und nun werden wir von - kaum sichtbaren - Winzlingen in die Knie gezwungen.«
»Da hast du Recht, Ferdi. Aber es gab sehr wohl auch nukleare Zwischenfälle. Man machte zwar immer Terroristen dafür verantwortlich, als die Reaktorkerne in Olkiluoto in Finnland, Brokdorf in Deutschland oder Flamanville in Frankreich durchbrannten, aber ich bin fast sicher, dass es auch diese Naniten gewesen sein können, die das Steuer- und Kontrollsystem der Kraftwerke zerstört haben können. Wir haben es schlichtweg verbockt - ich meine: wir Menschen haben es verbockt. Wir sind so unglaublich verbohrt darin, unsere Vorteile zu nutzen, dass wir nie die Konsequenzen bedenken. Wir können uns nur glücklich schätzen, dass wir hier auf den Azoren so unwichtig waren, dass uns niemand beschossen hat.«
»Habt ihr diese Informationen nur durch diese Funkkontakte erhalten?«
»Na ja, nicht ganz. Du weißt ja selbst, welche Möglichkeiten wir hier in Achada haben. Einer unserer Softwarespezialisten hat früher mal für amerikanische Nachrichtendienste gearbeitet. Er hat uns erst kürzlich gestanden, dass er für die Steuerung von Spionagesatelliten zuständig war und gewisse Backdoors in seinen Programmen habe. Er meinte, dass es gang und gäbe wäre, und viele Programmierer sowas als eine Art von Signatur empfinden. Durch ihn kamen wir an das alte Satellitensystem der USA heran und konnten uns selbst ein Bild von der Situation in Europa und der übrigen Welt machen. Es sieht schlecht aus.«
»Könnt ihr uns die Steuercodes und Zugangscodes für die Satelliten schicken?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Wir würden uns auch gern mit unseren eigenen Augen ein Bild machen.«
»Ich weiß nicht ... ich müsste erst ...«
»Sebasto?«
»Ja?«
»Worin siehst du ein Problem? Die Amis werden wohl kaum im Augenblick Verwendung für die Dinger haben. Und sitzen wir nicht im selben Boot?«
»Hmm, ja du hast Recht. Weißt du was? Ich schick dir eine codierte Textmeldung. Lass deinen Empfänger eingeschaltet ... Gib mir ein paar Minuten.«
»Kein Problem. Und ... danke Sebasto.«
»Wir sind doch Freunde. Du musst uns mit deiner Frau mal besuchen kommen, wenn ihr nach São Miguel kommt.«
»Versprochen.«
»Okay, dann bis zur nächsten Routinemeldung. Ich bin jetzt weg, aber erst abschalten, wenn die Textmeldung bei dir eingetroffen ist.«
Es knackte und Sebasto hatte sich ausgeklinkt. Diese Routinemeldungen waren meist die einzigen Kontakte, die wir zu unserer Zentrale auf der Hauptinsel hatten. Es waren etwa zweihundert Kilometer über den Ozean bis dorthin und diese Entfernung legte man nicht mal eben zurück - zumal jetzt nicht, wo Treibstoff immer mehr zur Mangelware wurde. Es gab zwar inzwischen wieder einige Segler, aber in diesen kleinen Schiffen über den Atlantik zu segeln war nicht jedermanns Sache.
Ein akustisches Signal ertönte und zeigte an, dass eine Textmeldung eingegangen war. Ich ließ die Datei gleich über den Drucker ausgeben und hielt nur wenig später mehrere Seiten in der Hand, die mit 'Hieroglyphen' übersät waren. Grover, unser Softwarespezialist und Elektroniker, würde etwas damit anfangen können. Ich wollte ihm gleich bei meiner Ablösung die Unterlagen in die Hand drücken.
Der Rest meiner Schicht verlief recht ereignislos. Etwas Abwechslung gab es, als die Jungs vom Wartungsdienst kamen. Ich erzählte ihnen, dass Turbine 9 Schwierigkeiten gemacht hatte und sie machten sich mit einem der Klein-U-Boote auf den Weg zum Strömungskraftwerk. Ein paar Stunden später erschien Grover Lambert, um mich abzulösen.
»Hi Ferdi!«, rief er vom Eingang aus. »Alles klar mit unserem Baby?«
»Alles grün, Grover. Turbine 9 hatte ein Problem, aber die Jungs sind schon dabei, es in Ordnung zu bringen.«
»Cool, dann kann ich ja gleich ein Schläfchen machen, oder?«
Ich grinste, da ich genau wusste, dass er das niemals tun würde. Grover war ein Workoholic und suchte sich Arbeit, wenn er keine hatte. Ich hielt ihm die Ausdrucke hin, die ich von Sebasto erhalten hatte.
»Was ist das?«
»Hab ich von Sebasto bekommen. Es sollen Zugangs- und Steuercodes sein. Für mich ist das Fach-Chinesisch, aber du solltest damit was anfangen können.«
Stirnrunzelnd blickte er auf die Seiten und blätterte von Zeit zu Zeit um. Später setzte er sich und blickte mich an. »Kannst du mir sagen, was man hiermit steuert?«
»Angeblich Spionagesatelliten der Vereinigten Staaten.«
»Im Ernst?«
Ich nickte. »Sebasto meinte, sie hätten bereits erste Bilder aus Europa gesehen.«
»Das wäre ja ... das ist ... einfach unglaublich. Ich werde mich gleich mal damit befassen und versuchen, einen dieser Dinger anzusteuern. Unsere große Schüssel sollte eigentlich in der Lage sein, Kontakt zu diesen Satelliten aufzunehmen. Mit etwas Glück bekommen auch wir auf Flores mal einen vernünftigen Einblick in die Situation auf dem Festland.«
Ich wusste, dass er Familie in England hatte und - genau wie ich - nicht wusste, was aus ihr geworden war. Ich war sicher, dass Grover schon in wenigen Stunden einen dieser Satelliten steuern würde.
»Ich mach dann mal Feierabend, okay?«
»Fahr nur. Es ist Heiliger Abend und deine Frau wird nicht böse sein, dich zu sehen.«
»Schon richtig, aber es ist ein eigenartiges Weihnachten, nicht wahr?«
Grover nickte. »Aber ist Weihnachten nicht auch eine Zeit der Hoffnung? Wir sollten sie niemals aufgeben.«
»Ich gebe sie niemals auf. Ich wünsch dir eine ruhige Schicht.«
Ich klopfte ihm auf die Schulter und wandte mich zum Gehen. Draußen war es hell, aber trübe, der Himmel grau. Es war so gar keine weihnachtliche Stimmung. Glücklicherweise regnete es nicht, als ich auf mein Rad stieg und den Weg nach Ponto Delgado einschlug. Ich mochte diese einsamen Wege durch die Natur von Flores. Es waren die Zeiten, in denen ich einfach nur nachdenken konnte - mich an Dinge erinnern konnte.
Ich war damals schrecklich sauer gewesen, als das Unternehmen mich nach Flores abkommandiert hatte. Ich hatte meinen Master in Elektrotechnik in der Tasche und trat voller Hoffnung eine hochdotierte Stellung bei der SeaGen Inc. in Bristol an. Niemals hatte ich damit gerechnet, dass bereits zu diesem Zeitpunkt Bauarbeiten am größten Strömungskraftwerk im Gange waren, das die Menschheit je gebaut hatte. Ich war mit den Anlagen vor der irischen Küste vertraut und auch mit dem Prototyp vor Cornwall, aber das Projekt GulfGen war mir neu. Die Azoren-Inseln waren als optimaler Standort für ein gigantisches Strömungskraftwerk auserwählt worden, das die unerschöpflichen Energien des Golfstroms nutzbar machen sollte.
Nach einem Crashkurs in portugiesischer Sprache wurde ich kurzerhand nach Sao Miguel geflogen, von wo es mit einem Boot nach Flores weiterging. Mit Fug und Recht darf ich behaupten, dass wir hier am Ende der Welt leben - insbesondere heute.
In der ersten Zeit drückte mir die Einsamkeit hier aufs Gemüt und ich stürzte mich mit einem Feuereifer in die Arbeit, um auf andere Gedanken zu kommen. Das änderte sich erst, als ich mit einem unserer Geländewagen nach Santa Cruz fahren musste, um Nachschub für unsere kleine Küche zu besorgen. Santa Cruz war - wie alles auf dieser kleinen Insel - einfach nur winzig. Ein paar Häuser, in denen Fischer wohnten, eine winzige Kirche und ein Lebensmittelgeschäft waren so ziemlich alles, was diesen verschlafenen Ort ausmachten. Ich änderte jedoch meine Meinung, nachdem ich den Laden betreten hatte. Hinter der Ladentheke stand eine junge Frau mit langen, schwarzen Haaren, die einer Kundin etwas mit einer sanften, wohlklingenden Stimme erklärte. Mir war erst gar nicht bewusst, dass ich sie anstarrte, bis sie mich ansah und die Stirn runzelte. Ich war im Grunde kein schüchterner Mensch, doch in diesem Moment empfand ich mich selbst einfach nur als peinlich. Als ich an der Reihe war, lächelte sie mich offen an und fragte, was ich wollte. Es war von Beginn an eine Spannung zwischen uns und es dauerte nicht lange, bis ich sie fragte, ob sie mit mir ausgehen wolle. Das alles liegt jetzt drei Jahre zurück und seit fast einem Jahr sind Marina und ich nun schon verheiratet.
Der Weg zurück nach Hause erschien mir von jeher kürzer, da er überwiegend nur bergab führte. Schon konnte ich die Häuser von Ponto Delgado in der Ferne erkennen, doch so weit musste ich gar nicht mehr fahren. Marinas Familie bewohnte ein Haus, etwas außerhalb des Ortes. Carlos, mein Schwiegervater, hatte uns schweren Herzens seinen alten Anbau überlassen, damit Marina und ich ihn als kleine Wohnung für uns einrichten konnten. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, von ihm anerkannt zu werden. Für ihn war ich der Fremde, der seine Tochter angegraben hatte und der sich beizeiten wieder aus dem Staub machen würde. In der ersten Zeit hatte er mich wie einen Gegner behandelt. Meine Schwiegermutter, Elisa, war zwar etwas entgegenkommender, doch auch bei ihr hatte ich immer die Angst gespürt, dass ich ihre Tochter - womöglich noch mit einem Kind - sitzen lassen könnte. Ich bin zwar katholisch getauft, doch hatte ich in der Vergangenheit nie viel mit der Kirche zu tun gehabt. Ich begriff jedoch, dass Kirche und Religion auf den Inseln noch eine weitaus größere Bedeutung haben. Elisas Ablehnung begann zu bröckeln, als sie erfuhr, dass ich auch katholisch war. Der große Wandel in Carlos‘ Verhalten kam, nachdem ich ihn hochoffiziell um die Hand seiner Tochter angehalten hatte - und nachdem wir zusammen eine ganze Flasche selbstgebrannten Medronho geleert hatten. Ich meine, noch heute den Brummschädel zu spüren, den ich anschließend hatte. Am nächsten Tag nahm er mich in die Arme, wie einen alten Freund und fragte, wann wir denn zu heiraten gedenken, da er ja denn einige Vorbereitungen treffen müsse. Bevor er mich losließ, flüsterte er mir noch ins Ohr, dass er mich kastrieren würde, wenn ich seiner Tochter jemals wehtun würde. Mein Gesichtsausdruck muss sehr erheiternd gewesen sein, da er lauthals lachte, bis ihm die Tränen kamen. Nun, heute betrachtet er mich als seinen Sohn, den er nie hatte und da ich Marina niemals Gewalt antun würde, brauche ich auch die Drohung meines Schwiegervaters nicht zu fürchten.
Als ich am Haus der Dos Santos ankam, welches nun auch mein Heim war, kam mir schon der Duft eines Bratens entgegen, den Elisa vorbereitet hatte. Carlos hatte eine Gans geschlachtet, die unser Festmahl sein sollte. Gutgelaunt betrat ich die große Küche und Elisa lächelte mir zu. Ich drückte sie kurz und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Ist Marina noch nicht da?«
»Sie muss bald kommen. Sie musste nur noch einmal nach Santa Cruz ins Geschäft. Es ist zwar Heiliger Abend, aber die Menschen brauchen auch Lebensmittel für den Feiertag.«
»Gibt es denn überhaupt noch Waren? Es ist doch schon seit Monaten kein Schiff mehr vom Festland angekommen.«
»Seit die Notlage eingetreten ist, sind die Menschen hier auf Flores ungemein solidarisch. Sie haben begonnen, ihre eigenen Produkte in die Läden zu bringen und nutzen sie als Tauschbörse. Geld hat weitgehend seine Bedeutung verloren, solange die Versorgung von draußen ausbleibt.«
Ich nickte, denn ich hatte so etwas schon gehört und eigentlich war es vollkommen vernünftig, so zu handeln. Leider funktionierte ein solches System meist nur in sehr kleinen Gemeinden, wie der Bevölkerung von Flores.
»Marina ist doch nicht etwas mit dem Fahrrad gefahren?«, fragte ich.
»Um Gottes Willen, nein! Sie hat die Kutsche genommen. Schau doch mal, ob du sie nicht schon sehen kannst. Sie wollte eigentlich schon zu Hause sein.«
Ich trat ans Fenster und blickte die Straße nach Ponto Delgado hinunter. Da es die einzige Straße war, musste sie auch aus dieser Richtung kommen. Es war nie viel Verkehr auf dieser Straße gewesen, aber nach Ausbruch des Krieges in Europa war das Benzin knapp geworden und heute sah man höchstens mal Radfahrer oder Pferdekutschen, soweit es sie überhaupt noch gab. Carlos hatte aus reiner Liebhaberei stets ein Pferd und eine Kutsche behalten. Nun war er einer der Wenigen, die noch Transporte durchführen konnten. Mir war es ganz recht, dass Marina mit dem Pferdefuhrwerk unterwegs war, denn die Straße von Santa Cruz bis Ponto Delgado war sehr beschwerlich, wenn man sie mit dem Rad zurücklegen wollte.
In der Ferne sah ich eine Bewegung und trat zur Tür hinaus auf die Straße. Mit der Hand beschattete ich meine Augen und blickte angestrengt nach Osten. Es war eine Kutsche. Marina kam nach Hause. Schon von Weitem winkte sie mir zu und ich sah ihre langen Haare im Wind fliegen. »Da kommt sie ja.«
Ich wandte mich um. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass Carlos ebenfalls vor das Haus getreten war. »Dann kann der Heilige Abend ja beginnen.«
Marina hielt die Kutsche vor uns an und sprang mit einem Satz vom Kutschbock. Mit zwei Schritten war sie bei mir und warf sich in meine Arme. Mein Herz machte immer wieder einen Satz, wenn sie so ungestüm war. Ich küsste sie lange und ausgiebig, bis Carlos sich hörbar räusperte. »Ihr benehmt euch, als hättet ihr euch seit Wochen nicht gesehen.«
Sie wandte ihm das Gesicht zu. »Und wenn es mir so vorkommt, Vater? War es bei dir und Mutter früher anders?«
»Das war auch früher etwas ganz anderes ...«, grummelte Carlos und breitete seine Arme aus. »Willst du deinen alten Vater etwa nicht begrüßen?«
Marina lächelte und löste sich von mir, um Carlos zu begrüßen, der sie mit seinen Armen umfing und ihr einen Kuss gab. »Man darf doch auch erwarten, von seiner Lieblingstochter einen Kuss zu bekommen, oder?«
Sie boxte ihn leicht gegen die Schulter. »Ich bin deine einzige Tochter!«
Er lachte. »Na und? Aber geht schon, ihr zwei. Elisa bereitet in der Küche unsere Gans. Ich versorge schon mal das Pferd, damit es uns gleich die Nachtfahrt nicht übelnimmt.« Dabei zwinkerte er mir zu. Ich verstand nicht, was er meinte.
Marina wandte sich noch einmal um. »Auf dem Wagen liegt noch ein Sack mit Kartoffeln und ein Sack Mehl. Es ist die Bezahlung für die Transporte, die du für die Sanchez aus Santa Cruz erledigt hast.«
»Ah, prima. Besonders das Mehl ist wichtig. Wir haben kaum noch etwas.«
Wir betraten gemeinsam das Haus und der Geruch der Gans im Ofen ließ uns sogleich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Elisa lächelte, als sie uns Hand in Hand hereinkommen sah. Sie gab Marina einen Kuss. »Schön, dass du so zeitig gekommen bist, mein Schatz. Ich könnte noch etwas Hilfe gebrauchen, dann bleibt uns allen noch genügend Zeit, uns fertigzumachen.«
»Fertigzumachen?«, fragte ich.
Die Frauen sahen mich fragend an. »Ferdi, du willst doch nicht so am Heiligen Abend in die Kirche gehen?«
Ich blickte an mir herunter. »Was ist an meinem Aufzug auszusetzen?«
Marinas Gesicht drückte Missbilligung aus. »So nehm ich dich jedenfalls nicht mit. Und zu essen bekommst du auch nichts. Es ist Heiliger Abend ...«
Ich spürte, dass es hier keinen Spielraum für Diskussionen gab. »Okay, dann zieh ich mich eben noch mal um.«
Als ich den Raum verließ, hörte ich die Frauen hinter mir lachen. Mir war nicht ganz klar, ob ich der Grund für ihre Heiterkeit war. Irgendwo hatten sie ja Recht.
Auch wenn ich schon seit einigen Jahren nicht mehr sehr viel mit der Kirche zu tun gehabt hatte, konnte ich mich dennoch gut daran erinnern, dass wir früher - als ich noch ein Kind war - in Hannover auch immer unsere besten Sachen angezogen hatten. Dann ging es erst in die Kirche und anschließend wurde richtig geschlemmt. Meine Mutter war eine ausnehmend gute Köchin und es war jedes Mal ein wahrer Festschmaus. Wieso sollte es also hier auf Flores anders sein? Immerhin war fast die gesamte Bevölkerung von Flores katholisch. Also ging ich ins Bad und rasierte mich zum zweiten Mal an diesem Tag. Marina hatte es gern, wenn ich nicht kratzte, wenn sie mir einen Kuss gab und ich wollte nicht riskieren, den ganzen Abend über keinen zu bekommen. Als ich fertig war und in unser Schlafzimmer kam, um meine besten Sachen aus dem Schrank zu holen, stand sie bereits vor dem Spiegel und trug ein Kleid, das ich noch nicht kannte. Es war aus einem schwarzen, glatten Stoff, reichte bis zu den Knien und ließ ihre Schultern frei, um die sie einen durchsichtigen Schal geschlungen hatte. Sie war gerade dabei, ihre langen schwarzen Haare zu bürsten, um sie nach der Kutschfahrt wieder zu ordnen. Ich blieb, wie eingefroren, in der Tür stehen und starrte sie an, als wäre sie eine Erscheinung. Marina musste meinen Blick gespürt haben, denn sie wandte kurz den Kopf in meine Richtung und sah mich mit einem Augenaufschlag an, der meinen Herzschlag stocken ließ. »Hallo Fremder, was machen Sie hier in meinem Schlafzimmer?«
Ihr Lächeln wurde breiter und ihre großen, dunklen Augen schienen mich gefangenzunehmen. Ich weiß, dass sich das kitschig anhören muss, aber in der Situation kam es mir exakt so vor.
»Du weißt, dass du ... atemberaubend aussiehst?«, fragte ich, als ich mich wieder bewegen konnte. Ich trat hinter sie, worauf sie mir ihre Halsbeuge präsentierte, damit ich sie küsste.
»Ja«, antwortete sie schlicht. »Für dich will ich das auch sein.«
»Dir ist schon klar, dass du mich auf eine ganz bestimmte Idee bringst?«
Sie lachte. »Vielleicht ist das ja Absicht. Später. Jetzt zieh dich bitte an. Die Eltern warten.«
Als wir die Stube wieder betraten, standen Carlos und Elisa schon bereit und sahen so elegant aus, wie zu unserer Hochzeitsfeier. Es war mir ein Rätsel, wie sie das so schnell geschafft hatten.
»Schön, dass ihr auch noch erscheint«, empfing uns Carlos. »Ich hab schon das Pferd versorgt und ihr müsst nur noch in die Kutsche steigen. Der Pfarrer in Santa Cruz wird nicht auf uns warten, bevor er mit der Messe beginnt. Es wird Zeit.«
Elisa warf noch einen kurzen Blick auf die Gans in der Bratröhre. »Sie braucht sicher noch zwei Stunden. Wenn wir zurück sind, können wir bald essen.«
Wir löschten das Licht im Haus und stiegen auf die Kutsche. Wie üblich ließ Carlos die Türe unverschlossen, da es äußerst unwahrscheinlich war, dass jemand während unserer Abwesenheit dort eindrang. Carlos nahm die Zügel in die Hand, nachdem er sich in eine dicke Wolldecke gewickelt hatte. Wir griffen ebenfalls zu solchen Decken. Marina und ich teilten uns eine und wärmten uns gegenseitig. Elisa lächelte still, als sie uns anblickte. Es war ihr anzusehen, dass sie glücklich war.
Das Wetter war trocken und kühl, sodass wir nicht befürchten mussten, auf dem Weg zur Kirche nass zu werden. Das Klackern der Hufe auf dem rissigen Plaster war das einzige Geräusch, das uns bis Ponto Delgado begleitete. Von dort aus schlossen sich uns noch ein paar weitere Kutschen an, deren Insassen ebenfalls zur Kirche nach Santa Cruz wollten. Für mich war es ein ungewohntes Gefühl, wieder einmal eine Messe am Heiligen Abend zu besuchen, doch musste ich zugeben, dass ich dadurch allmählich in eine feierliche Stimmung kam.
Als wir die Kirche in Santa Cruz erreichten, war es schon stockfinster und der Platz vor dem Eingang wurde durch zahlreiche Fackeln beleuchtet, die in eigens dafür vorgesehenen Ständern steckten. Drinnen wurde die Orgel gespielt und das durch die Fenster fallende Licht erzeugte eine einladende Atmosphäre. Carlos übergab einem Mann, den er offenbar gut kannte, unsere Kutsche, nachdem er Elisa beim Absteigen geholfen hatte. Ich hob Marina herunter, wofür ich ein strahlendes Lächeln erntete.
Carlos zwinkerte mir zu, griff Elisas Arm und hakte ihn an seinen ein. Ich tat es im gleich und gemeinsam führten wir feierlich unsere Frauen in die Kirche. Drinnen war es bereits sehr voll und man hatte zusätzliche Klappstühle aufgestellt. Die Kirche von Santa Cruz war nicht sonderlich groß, dennoch gab es eine Orgel, an der ein sehr guter Organist spielte und ein Chor stimmte sich auf die anstehenden Lieder ein. Die Atmosphäre war sehr feierlich und ich konnte nicht umhin, mich davon anstecken zu lassen. Ich bin niemand, der gern singt, aber mitten zwischen all den Bürgern von Flores, die alle Kirchenlieder voller Inbrunst mitsangen, stimmte ich irgendwann mit ein, was mir ein Lächeln Marinas einbrachte. Auch Elisa drehte sich überrascht zu mir um und lachte. Während der zwei Stunden, die wir in der Kirche verbrachten, dachte niemand an die Situation, in der wir uns befanden. Wir waren einfach nur glücklich und dankbar dafür, dass es uns und unseren Familien gut ging. Nur zwischendurch keimte der Gedanke an meine Familie in Deutschland in mir auf. Ich hatte keine Ahnung, wie es ihnen ging und ob ich daheim in Deutschland überhaupt noch eine Familie hatte. Ich hätte viel dafür gegeben, wenn ich gewusst hätte, wie ich Kontakt aufnehmen könnte.
Auf dem Heimweg waren wir äußerst guter Laune. Nie hätte ich erwartet, dass mich der Besuch einer Messe so sehr in eine weihnachtliche Stimmung versetzen könnte.
Zu Hause half ich Carlos noch dabei, die Kutsche in den Stall zu bringen und das Pferd zu versorgen, während die Frauen schon ins Haus gingen, um den Tisch für das Essen vorzubereiten.
Als wir die Stube betraten, hatte Elisa bereits den Tisch gedeckt und überall Kerzen aufgestellt. Es sah sehr gemütlich aus. Es war schon ein eigenartiges Gefühl, in dieser Weise ein Weihnachtsfest zu feiern, in einer Welt, die aus den Fugen geraten war. Wir lebten buchstäblich auf einer Insel der Glückseligkeit, einem winzigen Fleck mitten im Atlantik, der von den Wirrungen der Welt vergessen worden war. Wir setzten uns an den Tisch und mit einem Mal hatte ich ein Gefühl von Frieden und Zuversicht, dass es für uns - für jeden, auf dieser Welt - noch einen Funken Hoffnung geben musste.
Carlos faltete seine Hände und begann zu beten. Es hatte mir früher nie viel bedeutet, doch seit ich ein Mitglied von Marinas Familie geworden bin, hatte ich mich verändert. So faltete auch ich meine Hände und begann die Gebete zu sprechen, die ich in meiner Kindheit gelernt, und von denen ich nicht gewusst hatte, dass ich sie noch immer beherrschte.
Es mag sich merkwürdig anhören, aber dieses Weihnachtsfest war das Schönste, das ich jemals erlebt hatte.