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Reise ins Ungewisse
Ein schrilles Signal lässt Sven hochfahren. Das Wecksignal macht ihm jeden Morgen zu schaffen. Gerade an diesem Morgen hätte er es am liebsten überhört, hätte sich die Decke wieder über den Kopf gezogen und die vor ihm liegende Aufgabe einfach ignoriert. Natürlich weiß er, dass es keinen Zweck hätte, und er damit niemals durchkommen würde.
»Licht«, ruft er, doch die Deckenbeleuchtung seines Zimmers produziert nur ein trübes Dämmerlicht - gerade genug, um sich zu orientieren. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, und wie es scheint, hat die dichte Wolkendecke vom Vortag nicht genügend Sonnenlicht durchgelassen, um die Kollektoren seines Wohnblocks aufzuladen.
Seufzend schaltet er seine eigene Akkulampe ein und steht auf. Heute ist der Tag, der alles verändern würde. Für diesen Tag ist er lange ausgebildet worden, und diesen Tag hat er herbeigesehnt und gleichermaßen auch gefürchtet.
Mit schleppenden Schritten geht er ins Bad, wo er seine Akkulampe auf die Ablage des Rasierspiegels stellt. Er betrachtet den Mann im Spiegel.
Er ist gut in Form, gibt er zu. Ob ihm das helfen würde, weiß er zwar nicht, aber er hat stets Wert auf eine gute körperliche Verfassung und Kondition gelegt. Die auf seinen Oberarm tätowierte Zahl 213 ist ihm seit vielen Jahren geläufig und er beachtet sie nicht weiter. Sie ist es, die ihn von den meisten Menschen unterscheidet, die noch in Australien leben. Als Kind hat es ihm etwas ausgemacht, doch er hat sich schon vor Jahren damit abgefunden, dass man ihn aus Stammzellen eines bestimmten Menschen geklont hat und er dadurch zum 217. Sven geworden ist. Schon damals ist ihm bewusst geworden, dass er auf eine ganz spezielle Aufgabe vorbereitet wird. Seine Kindheit ist anders verlaufen als die der meisten Menschen. Wie hat er sie darum beneidet, einen Vater und eine Mutter zu haben – eben Eltern. Die Geborgenheit einer Familie stellt er sich wunderschön vor. Nein, es ist keine schlechte Kindheit gewesen, aber sie war eben nicht so unbeschwert wie die normaler Menschen.
Er blickt noch immer in den Spiegel, lässt das Bild eines gut aussehenden jungen Mannes auf sich wirken.
»Hey, du bist nur ein Klon«, sagt er leise und lächelt. Nur ein Klon? Man hat sich sehr viel Mühe gegeben, ihm und seinen Kollegen einen gewissen Stolz auf ihren Status einzuimpfen, und irgendwie ist ihnen das sogar gelungen. Es hat ihm einmal zu schaffen gemacht, doch inzwischen ist es ihm egal.
Er aktiviert den Wasserspender und hält probeweise seine Handfläche unter den Strahl. Das Wasser ist kalt. Hat er vorher noch beabsichtigt, ein furchtbar teures Duschbad zu nehmen, hat sich das jetzt erledigt.
Sven macht sich mit kaltem Wasser frisch und blickt erneut in den Spiegel.
»Willkommen im 24. Jahrhundert«, sagt er und schlüpft in seinen Overall, den er voraussichtlich auch an Bord des Schiffes tragen würde, das er zu steuern hat.
Als er die Nasszelle verlässt, ist es draußen bereits heller geworden.
Der Kommunikator blinkt.
»Annehmen!«, ruft Sven. »Hier Sven 213. Was gibt es?«
»John Harper, Raumüberwachung. Ich wollte Sie darauf hinweisen, dass die RENEGAT 4 startbereit ist. Ihre Passagiere sind bereits an Bord. Wir brauchen Sie so schnell wie möglich hier auf dem Raumhafen. Für den Swing-by brauchen wir einen sonnennahen Kurs. Das Schiff muss innerhalb der nächsten zwanzig Units starten, sonst müssen wir den Treibstoff neu berechnen. Schaffen Sie das?«
»Sie machen Scherze. Sie wissen doch, dass meine Wohneinheit in Albany ist. Wie soll das gehen? Ich weiß genau, dass ich erst zum Abend starten sollte. Warum also dieser Stress?«
»Sven213!«, blafft Harper. »Sie wissen, was es bedeutet, wenn wir den Treibstoff neu kalkulieren müssen. Die Passagiere haben ihre Passage bezahlt. Von ihnen können wir die Mehrkosten für technische Probleme nicht fordern. Abgesehen davon schlafen sie bereits seit einigen Stunden. Schwingen Sie Ihren Hintern gefälligst hier her!«
»Mein eCar ist nicht ausreichend aufgeladen. Gestern hatten wir fast keine Sonnenstunden, wie Sie wissen. Ich muss warten, bis die Helligkeit ausreicht, um die Live-Kollektoren ausreichend zu versorgen. Sobald ich kann, komme ich rüber zu Ihnen.«
»Wollen Sie mich verarschen? Nehmen Sie notfalls ein Miet-Car mit Brennstoffzellen. Die Kosten tragen wir.«
Sven lässt es unkommentiert und schaltet ab. Harper ist ein wichtigtuerischer Idiot. Er ist Argumenten noch nie zugänglich gewesen und das ist auch der Grund, aus dem er nie mit ihm zurechtgekommen ist.
Eigentlich hat er noch frühstücken wollen, doch wenn der Raumhafen es so dringend macht, würde er stattdessen lieber dort etwas essen. Es ist zwar nicht sicher, ob er es auch mit einem Wasserstoff-Fahrzeug rechtzeitig schaffen würde, aber er will zumindest nicht dafür verantwortlich sein, wenn es nicht klappt. Er blickt sich noch einmal in seinem Zimmer um. Seine wenigen privaten Dinge sind bereits vor einigen Tagen abgeholt worden. Trotzdem fällt es ihm schwer, jetzt wegzugehen. Sein gesamtes bisheriges Leben hat er in diesen Wänden verbracht. Wenn er als Klon überhaupt von Heimat sprechen kann, dann von dieser Wohnung in Albany. Und das ist jetzt mit einem Schnippen der Finger einfach vorbei. Ob er jemals zurückkehren würde, ist mehr als ungewiss, und wie seine Zukunft aussehen wird, ebenfalls.
Entschlossen zieht er die Tür hinter sich zu und geht ohne abzuschließen.
Der Himmel ist noch immer bleigrau. Es ist nicht mehr damit zu rechnen, dass die Sonne an diesem Tag noch durchbrechen würde, also wendet er sich gleich zum Mietstand, wo die teuren Brennstoffzellen-Fahrzeuge stehen. Was soll es auch? Wenn die Gesellschaft es zahlt. Sven klettert in ein freies Fahrzeug und nennt sein Ziel: Raumhafen Perth.
»Das macht 1377 Credits«, plärrt es aus einem Lautsprecher im Armaturenbrett. »Wie möchten Sie zahlen?«
»Rechnung an Raumhafenverwaltung Perth«, sagt Sven. »Und bitte die Reisezeit minimieren. Es ist eilig.«
»Das macht 300 Credits zusätzlich. Soll der Betrag ebenfalls der Raumhafenverwaltung in Rechnung gestellt werden?«
Sven bestätigt es mit einem Druck auf die OK-Taste auf dem Armaturenbrett. Er verspürt keine Lust, sich weiter mit diesem Automaten zu unterhalten.
»Die geschätzte Fahrzeit beträgt 18,3 Units. Machen Sie es sich bequem. Danke, dass Sie Aussie-Cab gebucht haben.«
Das Fahrzeug setzt sich in Bewegung, und Sven lehnt sich entspannt zurück. Gedanken schießen ihm durch den Kopf.
Sein bisheriges Leben als Klon ist eigentlich nicht schlecht gewesen. Er hat sogar einige Freiheiten mehr genossen, als vielen Normalbürgern zuteilwurden. Dafür wusste er allerdings von Anfang an, dass er irgendwann in einem der großen Siedlerraumschiffe sitzen würde, um es an sein fernes Ziel zu steuern. Jahre würden vergehen, bis er wieder einen Menschen sehen würde, mit dem er sich unterhalten kann.
Beinahe lautlos gleitet sein Fahrzeug autonom über den breiten Highway, der durch eine trostlose, rote Wüstenlandschaft nach Perth führt. Obwohl er hier aufgewachsen ist, fühlt er sich diesem Land, diesem Planeten überhaupt, nicht verbunden. Australien ist der letzte Kontinent, der noch weitgehend bewohnbar geblieben ist. Der Rest der Welt ist ein ausgezehrter Torso, heruntergewirtschaftet und unbewohnbar gemacht durch endlose Glaubens-, Ressourcen-, Rassen- und Wirtschaftskriege. Sven überlegt, wie groß die Erdbevölkerung nach der letzten Zählung ist. Er glaubt, sich an eine Zahl von 20 Millionen zu erinnern, und es werden ständig weniger. Es ist ein Wunder, dass sie es überhaupt geschafft haben, zumindest in Australien wieder eine funktionierende Gesellschaft aufzubauen, mit wissenschaftlichen Errungenschaften, von denen man in früheren Jahrhunderten nur geträumt hat.
Trotzdem sind die Tage der Menschen auf der Erde gezählt. Die Strahlungszonen nehmen allmählich zu, und das Leben besteht aus ständigem Rückzug.
Die RENEGAT 4 kommt ihm in den Sinn. Sein Schiff. Noch heute wird er damit die Erde verlassen, zusammen mit 50.000 Siedlern, die in Kälteschlafkammern, bei Temperaturen in der Nähe des absoluten Nullpunkts an ihr fernes Ziel gebracht werden müssen.
Die RENEGAT 4 ist eines von mehreren Siedlerschiffen, die gebaut worden sind, um die Reste der Menschheit zu evakuieren. Die Renegat-Serie verfügt über spezielle Triebwerke, die eine Reise mit Geschwindigkeiten jenseits der Lichtgeschwindigkeit ermöglicht. Bis es jedoch zum Einsatz kommen kann, braucht es eine Menge Zeit.
Ein Geräusch schreckt ihn aus seinen Gedanken. Das Fahrzeug hat ein Warnsignal angezeigt. Eine angenehme Frauenstimme verkündet: »Bitte bereit machen für manuelle Übernahme. Die Induktionsschleifen in der Straßendecke sind für die nächsten 35 Meilen außer Betrieb.«
Ein Steuerknüppel fährt automatisch aus der Frontkonsole, sodass Sven ihn greifen kann. »Bitte drücken Sie eine Taste, wenn Sie bereit sind, das Fahrzeug manuell zu steuern.«
Sven hat in seinem Leben nur wenige Male ein Fahrzeug selbst gesteuert, und fühlt sich nicht wohl bei dem Gedanken. Er muss über sich selbst lachen. Da ist er auf dem Weg, ein riesiges Raumschiff zum zweiten Planeten der Sonne Beta Hydri im Sternbild Wasserschlange zu steuern, und scheut davor zurück, ein Miet-Car zu steuern. Er ist froh, dass die Automatik wieder übernimmt, als die defekte Stelle der Straße überwunden ist.
Als er später den Raumhafen erreicht, wird er schon erwartet.
»Wurde auch Zeit, S213«, sagt der Leiter des Mission-Centers vorwurfsvoll. »Sie können gleich an Bord gehen. Wir haben keine Zeit mehr. Das Schiff muss starten, wenn wir nicht noch etliche Tonnen Reaktionsmasse zusätzlich einsetzen wollen.«
Sven hasst es, wenn man ihn nur mit seiner Klon-Nummer anspricht. Er hat sich für den Namen Sven entschieden, aber die meisten Verantwortlichen des Raumhafens kümmern sich nicht darum. Für sie ist er der maßgeschneiderte Pilot ihres Schiffes und hat einfach nur ihre Anweisungen zu befolgen.
»Ich würde mich vorher gern noch etwas frisch machen«, sagt er. »Außerdem habe ich noch nicht frühstücken können. Alles, was Recht ist, aber ich habe Hunger.«
Sein Chef winkt ab. »Dazu ist später an Bord noch genug Zeit. Bewegen Sie Ihren Hintern in die Zentrale der RENEGAT 4. Der Countdown für den Start steht bei minus 2 Units und ein paar Klicks.«.
Als Sven die Zentrale seines Schiffes betritt, das für die kommenden Jahre sein Zuhause sein würde, hat er tatsächlich das Gefühl, nach Hause zu kommen. Er kann nicht sagen, wie viele Tage und Wochen er während seiner Ausbildung in Simulatoren verbracht hat, die diesem Raum ähneln. Ein großer, runder Raum mit zahllosen Monitoren rundherum, Schalttafeln mit - für fremde Menschen - verwirrenden Anzeigen und Tasten. Dann die schweren Kontursessel, die ihm die erste Phase des Starts erleichtern werden - das ausgeklügelte Schienensystem, in dem die Sessel stecken und das seinen Sitz in kürzester Zeit zu den zu bedienenden Armaturen transportieren wird.
Alles wirkt blitzblank und neu, aber Sven weiß es besser. Die RENEGAT 4 hat die Reise schon zweimal gemacht und einige Jahre auf dem Buckel. Er kann nur hoffen, dass die Bodencrew ihren Job sorgfältig gemacht hat und das Schiff wieder auf dem neuesten Stand der Sicherheitstechnik ist ...
Er nimmt vor dem Hauptpult Platz und öffnet einen Kommunikationskanal zum Mission-Center: »Sven 213 ist an Bord und übernimmt die Schiffskontrollen. Countdown bei minus 80 Zenti-Units. Führe jetzt die Startchecks durch.«
»Okay«, ist die schlichte Antwort.
Sven weiß nicht, was er erwartet hat, aber Mission-Center dürfte ruhig etwas gesprächiger sein. Immerhin wird er lange Zeit mit niemandem mehr sprechen können.
In den folgenden Zenti-Units geht Sven die Checkliste durch und überprüft den Status aller Systeme. Noch können Reparaturen vorgenommen werden. Ist er erst einmal unterwegs, hat er nur Werkzeuge für einfache Probleme und Reparaturen.
Er hat jedoch nichts zu beanstanden und meldet kurz vor Ablauf des Countdowns, dass er startbereit ist. Der Moment des endgültigen Abschieds ist gekommen. Einen kurzen Augenblick lang ziehen die letzten Monate an seinem geistigen Auge vorbei. Etwas Wehmut mischt sich darunter. Mit seiner letzten Freundin hat er sich wirklich gut verstanden. Es hat ihm leidgetan, mit ihr Schluss zu machen. Aber es muss sein. Er kann es ihr nicht zumuten ... Es ist wohl das Schicksal aller Klone. Er gibt sich einen Ruck.
Mit geübten Griffen zieht er die Sicherungsgurte über seinem Körper straff und lässt sie einrasten. Automatisch kippt der Sitz in eine liegende Position, um den Startandruck erträglicher zu machen. Die letzten vierzehn Zenti-Units des Countdowns laufen auf einem kleinen Monitor an der Decke ab, während das Dröhnen der fernen Korpuskulartriebwerke allmählich lauter wird.
»Sven!«, klingt es aus einem Lautsprecher, und ein weiterer Monitor springt an. Er erkennt Manuel 173, einen der Techniker, mit dem er während der langen Ausbildung immer wieder zu tun hatte, und mit dem er seit Langem befreundet ist.
»Manuel«, wundert er sich. »Was gibt es noch? Wir stecken mitten in der Startsequenz. Ich hab jetzt keine Zeit mehr für private Gespräche ...«
»Ich wollte dir auch nur Lebewohl sagen. Tu mir den Gefallen und bring das Baby sicher ans Ziel. Ich würde dir wirklich wünschen, dass du es schaffst. Genieße dein Leben auf Beta Hydri 2. Das musst du mir versprechen!«
Sven grinst. Manuel wäre am liebsten mitgeflogen, aber Techniker-Klone werden fast immer nur in den Raumhäfen und den Montagehallen gebraucht. Er hätte es begrüßt, Manuel bei sich zu haben, während der langen und langweiligen Beschleunigungs- und Bremsphasen.
»Ich verspreche es dir, Manuel. mach’s gut. Wenn es geht, lass ich dir eine Nachricht mit einem Rückkehrschiff überbringen.« Er will gerade abschalten, als Manuel noch etwas ruft.
»Ja? Wolltest du noch etwas sagen?«
»Es gibt da eine Sache, die ich für dich geregelt habe. Niemand weiß davon. Eine Überraschung - mein letztes Geschenk an dich sozusagen.«
»Was ist es?«
Manuel zeigt ein breites Grinsen. »Du wirst es selbst herausfinden müssen. Hast ja genug Zeit in den kommenden Monaten. Vergiss deinen alten Kumpel nicht.« Er schaltet ab und das Bild auf dem Monitor verschwindet.
Die letzten Klicks werden heruntergezählt. Ein Ruck geht durch die RENEGAT 4 und ein Gewicht legt sich wie eine eiserne Faust auf seine Brust. Für die nächsten Minuten muss er den Druck von etwa 7 G ertragen, bis das Schiff die Fluchtgeschwindigkeit der Erde erreicht hat.
Es ist eine Wohltat, als die Startbeschleunigung vorüber ist, und die Automatik die Triebwerke auf einen Schub von 1 G einstellen. Sein Sitz kippt wieder in die Ausgangsposition zurück. Sven atmet schwer aus. Er ist unterwegs, so wie es immer für ihn bestimmt gewesen ist. Szenenhaft zieht sein bisheriges Leben an ihm vorbei: Die relativ unbeschwerte Zeit in der Kinderkrippe, die Schulzeit, der Drill der Pilotenschule, die Theorie, seine kurzen Affären mit weiblichen Klonen, die wie er für das Umsiedlungsprogramm gezüchtet worden sind. Nichts in diesem Leben ist dem Zufall überlassen worden, niemals ist er gefragt worden, wie er sich sein Leben vorstellt. Manchmal fragt er sich, was sein Original für ein Mensch gewesen ist. Ob er auch immer nur gezwungen war, den Anweisungen des Umsiedlungsprogramms Folge zu leisten?
Er muss an Cynthia denken. Sie ist eine der weiblichen Klone, mit der er erst vor kurzer Zeit eine Affäre gehabt hat. Mit ihr ist es anders gewesen als mit den Frauen davor. Bei ihr hat er zum ersten Mal auch eine emotionale Verbindung gespürt. Er wagt es nicht, bereits von Liebe zu sprechen, aber es hat ihn erheblich belastet, als er den Befehl erhalten hat, sich für die Renegat-Mission bereitzuhalten. Es bedeutete die unverzügliche Trennung von Cynthia. Vor seinem geistigen Auge sah er noch immer ihr trauriges Gesicht, als er ihr die Nachricht übermittelt hat. Sie hat sich an ihn geklammert, wollte ihn nicht gehen lassen. Doch was sollten sie tun? Sie sind nichts weiter als zwei Klone, geschaffen für klar umrissene Aufgaben, zum Wohle der Menschheit. Sven wird übel bei dem Gedanken. Auch, wenn er eine Kopie eines normal geborenen Menschen ist, zählt doch auch er zu dem, was man ›Menschheit‹ nennt. Cynthia wird halt weiterhin beim Hibernationsprojekt arbeiten und Kälteschlafkammern zusammenschrauben, damit die vielen Tausend Menschen von der Erde evakuiert werden können. Sie wird schon einen neuen Partner finden, und er ...? Aber das hat ein paar Jahre Zeit.
Ein Signal auf dem Pult erfordert seine Aufmerksamkeit. Ein Funkspruch vom Raumhafen.
»RENEGAT 4, wie ist Ihr Status? Nach unseren Daten befindet sich das Schiff - wie vorgesehen - auf Sonnenkurs. Können Sie das verifizieren?«
Sven geht automatisch alle Anzeigen durch, die ihm darüber Aufschluss geben. Es ist alles in Ordnung.
»RENEGAT 4 ist auf Kurs. Triebwerke erzeugen Schub von etwa 1 G. Erreichen der Merkur-Bahn in circa 117 Units und Swing-By ab Unit 142. Alle Parameter in den zulässigen Toleranzen.«
»Gut RENEGAT 4. Das Antwortzeitverhalten unserer Steuerimpulse wird ungünstig. Wir entkoppeln jetzt unsere Kontrollsysteme von Ihrem Schiff. Ab jetzt sind Sie auf sich gestellt. Bringen Sie unsere Leute heil ans Ziel. Wir wünschen Ihnen viel Glück!«
»Danke! RENEGAT 4 meldet sich ab. Ende.«
Sven schaltet die Verbindung ab. Es ist ihm bewusst, dass er damit endgültig seine Verbindung zur Erde gekappt hat. Natürlich könnte er die Antennen auch weiterhin auf die Erde gerichtet lassen und Nachrichten und Video-Messages austauschen, doch welchen Sinn hätte das? Besser, er macht gleich einen harten Schnitt. Er ist überrascht, wie leicht ihm das fällt. Was ihn jetzt beschäftigt, ist der Swing-By um die Sonne. Um die hohen Geschwindigkeiten zu erreichen, die im relativistischen Bereich erforderlich sind, muss extrem viel Reaktionsmasse bereitgestellt werden. Aus diesem Grund nutzt man die gewaltige Anziehungskraft der Sonne quasi als Schwungscheibe für das Raumschiff. Man steuert mit hoher Geschwindigkeit einen möglichst niedrigen Orbit um das Zentralgestirn an und lässt sich von der Sonne aus dem Sonnensystem katapultieren. Es kommt nur darauf an, nicht zu dicht an die Sonne heranzugeraten, da die Hitzeschilde es sonst nicht mehr absorbieren können. Ein Risiko ist es allemal, da man nie wissen kann, ob es der Sonne nicht im falschen Moment in den Sinn kommt, eine Protuberanz auszustoßen. Da solche Plasmafackeln leicht eine Reichweite von einigen Hunderttausend Kilometern haben können, wäre es das Ende eines jeden Schiffes, das davon getroffen oder auch nur in seine Nähe gelangen würde. Bisher ist es jedoch noch nie zu Problemen bei diesem Manöver gekommen. Trotzdem ist es ein eigenartiges Gefühl, direkt die Sonne anzusteuern, auch, wenn man sie nur umfliegen will.
Unwillkürlich kontrolliert Sven die Logdateien der Hibernationstanks, aber wie erwartet, erhalten sie keinerlei Besonderheiten. Die Systeme sind inzwischen weitgehend ausgereift. Nur selten kommt es zu außergewöhnlichen Zwischenfällen, und noch seltener kommt ein Mensch dabei zu Schaden. 50.000 Menschen - Siedler für den neuen Planeten, der die neue Heimat der Menschheit werden soll. Sie schlafen einer Zukunft entgegen, die sie auf ihrem Heimatplaneten nicht mehr haben würden.
Ein Vorteil der permanenten Beschleunigung von 1 G ist, dass man das Gefühl hat, auf dem Erdboden zu stehen. Er würde sich also während des kommenden Jahres nicht mit Schwerelosigkeit herumschlagen müssen. Sven erhebt sich aus seinem Sessel und verlässt die Zentrale. Unterhalb der Steuerzentrale befindet sich seine private Suite, in die man seine Sachen gebracht hat. Interessiert kontrolliert er, was man ihm an Filmen, virtuellen Spielen, Musik und Buchdateien zur Verfügung gestellt hat. Die Zeit würde lang werden auf dieser Reise. Zwar ist die RENEGAT 4 ein überlichtschnelles Schiff, aber zunächst muss sie ein Jahr lang mit 1 G beschleunigen, um möglichst nah an die Lichtgeschwindigkeit heran zu gelangen. Zum Ende hin würde es ein Tanz auf der Rasierklinge sein. Mit jedem Prozent, das er näher an die magische Grenze der Lichtgeschwindigkeit heranreicht, werden sich auch die Auswirkungen der Relativität verstärken. Seine Zeitwahrnehmung wird sich verlangsamen, während seine Masse stetig zunimmt. Für ihn persönlich ist das gleich, da er selbst Bestandteil dieses Systems ist. Kommunikation mit der Erde würde jedoch äußerst schwierig sein, falls sie notwendig werden sollte. Am Ende wird wichtig sein, im exakt richtigen Augenblick zu reagieren und das Überlicht-Triebwerk zu aktivieren, da sonst zu viel Reaktionsmasse verbraucht wird, und ein Abbremsen im Zielgebiet nicht mehr möglich ist.
Im entscheidenden Moment würde Sven den Gravitonen-Antrieb einschalten. Im Grunde ähnelt der Antrieb dem normalen Korpuskular-Antrieb, bei dem nukleare Reaktionsmasse ausgestoßen wird, nur, dass Gravitonen sich schneller bewegen konnten als Licht. Die RENEGAT 4 wird einen Stoß bekommen, der sie aus dem drei-dimensionalen Raumzeit-Kontinuum katapultiert, in dem Geschwindigkeiten oberhalb der Lichtgeschwindigkeit nicht möglich sind.
Der Effekt ist bei unbemannten Schiffen zunächst entdeckt und dann vervollkommnet worden. Seit über 50 Jahren reisen Siedlerschiffe auf diesem Wege ins 24 Lichtjahre entfernte Beta Hydri-System, wo es einen Planeten gibt, der der Erde so sehr ähnelt, dass dort ein Neuanfang der Menschheit versucht werden soll.
Schiffe, die diesen Weg nehmen, stürzen in der Nähe von Beta Hydri unvermittelt zurück in den dreidimensionalen Raum. Warum das so ist und ob es möglich ist, auch weitere Entfernungen zu überbrücken, weiß bisher niemand. Es ist halt noch nie versucht worden.
Zwei Tage später liegt die Sonne bereits hinter ihm und der Bug der RENEGAT 4 weist auf das Sternbild Wasserschlange. Noch befindet er sich innerhalb des Sonnensystems, doch seine Geschwindigkeit wächst mit jeder Unit, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis es endgültig hinter ihm liegen würde. Sven hockt in seinem Sessel und betrachtet einfach nur die Sterne, als ein durchdringendes Signal ihn aus seinen Gedanken reißt.
»Ein Hibernationstank?«, wundert er sich. »Bitte nicht die Kälteschlafkammern! Wenn sie einen Defekt aufweisen, ist es jetzt für jede Hilfe zu spät.«
Hektisch fliegen seine Finger über die Tastatur des Bordcomputers. Es gilt, herauszufinden, welche der Kälteschlafkammern Probleme macht. Wenn die Temperatur zu sehr ansteigt, bedeutet das in der Regel den Tod des Schläfers. Aufwachprozesse sind komplizierte Vorgänge und müssen kontrolliert durchgeführt werden. Nach kurzer Zeit zeigt der Monitor die Daten des kritischen Moduls an und Sven blickt verblüfft auf die Anzeige. Offenbar hat Modul 50.001 ohne externen Befehl eine vollständige Aufwachroutine durchlaufen. Als er den Standort des Moduls abfragt, bleibt die Anzeige leer.
»Das gibt es doch nicht!«, entfährt es ihm. »Wie, zur Hölle, soll ich das Ding finden? In den Laderaumelementen lagern 50.000 Menschen!«
Plötzlich fällt ihm auf, was an der Sache nicht stimmt: Wieso hat das Modul die Nummer 50.001? Die Renegat 4 hat genau 50.000 eingetragene Siedler! Aber was auch immer da schiefgegangen ist ... Dem armen Kerl muss geholfen werden, wenn es nicht bereits zu spät ist.
Er springt auf und macht sich auf den Weg, die Schlafkammern seiner Passagiere direkt in Augenschein zu nehmen. Es wird Tage dauern, sie alle zu inspizieren, das ist ihm klar, aber zunächst wird er sich den Bereich ansehen, der aufgrund der Modulnummer infrage kommt. Er aktiviert die schwache Beleuchtung in den Ladezonen und klettert die Leiter hinunter in den Laderaum.
Als er den betreffenden Sektor erreicht hat, hört er rätselhafte Geräusche. Er bleibt stehen und lauscht.
Ist der Siedler etwa bereits vollständig erwacht und aktiv? Es klingt, als würden nackte Füße über glatten Boden laufen. Er hebt seine Handlampe und leuchtet in den Gang hinein, aus dem die Geräusche gekommen sind. Im Scheinwerferkegel bemerkt er eine Bewegung.
Eine Gestalt kommt ihm entgegen. Sie hat lange, nasse, blonde Haare, die ihr um den Kopf kleben, und hat sich eng in eine Decke gewickelt. Als sie ihn erreicht, stellt er überrascht fest, dass er sie kennt.
»Cynthia?«, fragt er verständnislos. »Du? Hier? Wie kommst du hierher?«
»Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass du mit diesem Schiff für immer aus meinem Leben verschwinden würdest.«
»Wir hatten das doch besprochen«, sagt Sven irritiert. »Wir hätten doch nie eine Zukunft gehabt. Beziehungen zwischen Klonen führen zu nichts. Wir wurden alle für bestimmte Aufgaben gezüchtet und können nicht zusammenbleiben. Du arbeitest in der Abteilung für Hibernationskammern und ich bin eben Pilot. Techniker werden nie auf die Schiffe ... Wie kommt du überhaupt hierher?«
»Bist du jetzt fertig?«, fragt sie trotzig. »Manuel hat mich in eine der Hibernationskammern geschmuggelt, die er beim letzten Wartungstermin zusätzlich eingebaut hat. Er hat sie persönlich so programmiert, dass eine Weile nach dem Swing-By ein vollständiges Aufwachprogramm automatisch abläuft. Da ich noch nicht lange geschlafen habe, bestand kaum die Gefahr, dabei zu sterben. Also: Hier bin ich.«
Sven ist sprachlos.
»Begreifst du nicht, dass es für dich kein Zurück mehr geben wird?«, fragt er schließlich.
»Freust du dich denn kein bisschen, dass ich an Bord bin?«
Sven zieht sie unvermittelt an sich und schließt sie in seine Arme. »Doch Cynthia, und wie ich mich darüber freue! Ich bin einfach viel zu durcheinander. Ich hatte unsere Zeit schon als Affäre zwischen Klonen abgehakt, und durch meine Abreise war sie ja eigentlich auch vorbei, nicht wahr?«
»Aber jetzt können wir zusammen sein«, sagt sie. »Niemand kann uns jetzt noch trennen. Was soll ich noch auf der Erde? Das Umsiedlungsprogramm hat jetzt keine Macht mehr über uns. Die RENEGAT 4 kann nicht umkehren. Und wenn wir unser Ziel erreichen, hat man uns zugesagt, dass wir frei sind. Auf Beta Hydri 2 sollen Klone einfach nur Menschen sein, sagt man.«
Sie umarmen und küssen einander. Svens Gedanken überschlagen sich. Er wird nicht allein sein, während der langen Zeit der Beschleunigung, und sie werden sogar eine Zukunft haben, wenn sie es richtig anstellen. Zum ersten Mal fühlt er sich nicht mehr nur als Klon, sondern als vollwertiger Mensch.
Er schiebt Cynthia ein Stück von sich weg und betrachtet sie. »Mein Gott, ist es schön, dass du hier bist! Aber jetzt brauchst du dringend eine Dusche und trockene Kleidung ...« Er stockt.
»Ich habe nur Männerkleidung für mich dabei. Was machen wir jetzt?«
Sie lächelt verschmitzt. »Mein Schatz, du hast offenbar dein Gepäck noch nicht in die Schränke der Kabine gepackt, oder?«
»N-Nein? Wieso?«
»Nun, du hättest dich sicher gewundert, wie viel Damenbekleidung dabei gewesen wäre. Manuel hat meine Sachen zwischen deine geschmuggelt, die man schon vor ein paar Tagen bei dir abgeholt hat. Aber es würde mir sehr gefallen, wenn mein Captain seinem blinden Passagier jetzt seine Nasszelle anbieten würde. Mir wird allmählich kalt.«
Sven nimmt sie bei der Hand und führt sie zur Leiter, die zum Kommandodeck führt. Dort schickt er sie gleich in seine Kabine, wo Cynthia sofort in die Nasszelle stürzt.
Sven hört, wie das Wasser aus dem Aufbereiter plätschert und sieht, wie die Scheibe der Dusche langsam beschlägt. Er hat geglaubt, sich von seiner Vergangenheit mental gelöst und alles hinter sich gelassen zu haben. Er stellt fest, dass er sich selbst belogen hat.
Jetzt plötzlich Cynthia hier bei sich im Raumschiff zu haben - auf einer Jahre dauernden Reise ins Ungewisse ... das gibt seinem Leben wieder eine völlig neue Perspektive. Eine Perspektive, die ihm sehr gefällt.
Das Rauschen in der Dusche hat aufgehört. Sven öffnet einen der wenigen Schränke, der bereits eingeräumt ist und zieht ein Badetuch heraus. Er erhebt sich und hält das Tuch für Cynthia bereit, die jeden Moment zu ihm heraustreten würde.
Die Tür der Nasszelle wird geöffnet und dichte Dampfschwaden quillen heraus. Cynthia tritt heraus. Sven kann nicht genug von ihrem Anblick bekommen. Wie ein Schuljunge steht er mit dem Badetuch in der Hand vor ihr.
Sie lächelt ihn an, tritt auf ihn zu und nimmt ihm das Tuch aus der Hand. »Danke, das ist sehr aufmerksam.«
Ihr Lächeln wird noch breiter. Sie wirft das Badetuch zur Seite und schmiegt sich, nass wie sie ist, in seine Arme. »Hast du gerade etwas Dringendes zu tun, oder Zeit, mir deine kleine Suite zu zeigen?«
»So, wie du bist?«, fragt er. »Willst du dir nicht erst etwas anziehen?«
Sie blickt ihm in die Augen. »Sicher. Später. Jetzt würde ich gern erst mal unser Wiedersehen feiern.«
Ein Lächeln stiehlt sich auf seine Lippen. Offenbar hält das Schicksal auch Glück für einen Klon bereit.
Unvermittelt packt er sie unter den Armen und Kniekehlen und hebt sie hoch. »Als erstes zeige ich dir mal unsere Schlafkammer.«
Sie legt ihre Arme um seinen Hals. »Darauf bin ich schon sehr gespannt ...«
Sven trägt sie zum Bett und kickt die Tür mit dem Fuß zu.
Der Flug wird noch lange dauern und sie haben jede Menge Zeit.