- Details
- Zugriffe: 1141
Havarie
Ich hätte meinen Kopf gegen die Wand schlagen können. Ich war einfach wütend – wütend und irgendwie auch rat- und hilflos.
Natürlich war mir bewusst, dass Einsätze dieser Art immer ein Risiko bargen. Aber die Bezahlung war okay und ein Einsatz, der auf nur sechs Monate angesetzt war, konnte mir dabei helfen, die vielen Rechnungen zu bezahlen, die zu Hause auf mich warteten.
Ich hatte es für Glück gehalten, dass die Raumstreitkräfte ausgerechnet meine Bewerbung gezogen hatten. Meine Pilotenlizenz war gerade mal noch nicht abgelaufen und hätten sie mich nicht genommen, wäre es jetzt mit der Raumfliegerei vorbei gewesen. Den Schein noch einmal neu machen? Nein, das hätte ich mir wirklich erspart. Dann lieber einen Job auf der Erde.
Eigentlich war mein Job eher die erdnahe Raumfahrt gewesen – Fähren zu den Raumstationen oder auch mal eine Reise zur Mondbasis. Die Streitkräfte wollte ich eigentlich immer vermeiden. Dieses Kriegspielen war einfach nicht mein Ding und noch vor ein paar Jahren war die politische Lage auf der Erde recht instabil. Doch als einige zivile Linien Konkurs angemeldet hatten, waren meine Möglichkeiten auf einen vernünftigen Job geschrumpft. Das war sogar noch freundlich ausgedrückt. Im Grunde hieß es für mich, das Kampf- und Jagdraumschiff Prodigy zu fliegen oder arbeitslos zu werden. Wer weiß, was meine Ex sich dann wieder hätte einfallen lassen? Vielleicht das Besuchsrecht für Steven streichen lassen? Nein, dann lieber für die Raumstreitkräfte arbeiten.
Insoweit war ich den Raumpiraten sogar dankbar, denn hätte es sie nicht gegeben, hätte man auch mich als Piloten nicht gebraucht.
Ich blickte in den Spiegel der winzigen Toilette der Prodigy. Ich sah einfach scheiße aus.
Steven kam mir wieder in den Sinn. Der Junge war jetzt sechs, kam in diesem Jahr in die Schule. Ich hatte schon so viel von ihm verpasst ... Und jetzt? Ich hätte heulen können.
Auf dem Weg zurück zur Zentrale musste ich mich an etlichen Griffen und Vorsprüngen festhalten, um nicht zu stürzen. Überall lag Zeug herum. Der Einschlag war heftig gewesen. Die künstliche Schwerkraft war komplett ausgefallen. Glücklicherweise rotierte die Schiffszelle noch und vermittelte zumindest einen Hauch von oben und unten.
Die Zentrale sah nicht viel besser aus als der Rest des Schiffes – oder besser dem, was davon übrig geblieben war.
»Art!«, rief ich in den nur dämmerig ausgeleuchteten Raum hinein. »Ablösung! Wo steckst du?«
Wo steckte dieser Kerl nur? Art war der Waffenoffizier der Prodigy und nach dem Einschlag hatte er sich ordentlich gehen lassen.«
Ein Grunzen ertönte aus der Richtung, in der einmal der Kampfstand gewesen war.
Ich hangelte mich um einen herumliegenden Computerblock herum und fand Art, der in einem Kontursessel hing, wie ein nasser Sack und mich dümmlich angrinste.
»Hast du etwa getrunken?«, fuhr ich ihn an. »Du stinkst wie eine Bar. Woher in Gottes Namen hast du das Zeug überhaupt?«
Art winkte fahrig ab. »Ist doch egal. Wir sind so was von im Arsch. Nenn mir auch nur einen Grund, aus dem ich hier nüchtern sitzen sollte, Keith. Es gibt absolut nichts, was verhindern könnte, dass wir in ... » Er blickte auf seine Armbanduhr. »... sechzehn Stunden mit hundert Kilometern in der Sekunde auf der Erde einschlagen. Kumpel, das möchte ich lieber zugedröhnt erleben.« Er hob eine Flasche Gin in die Höhe.
Ich entriss sie ihm und warf sie auf den Boden, wo sie zerplatzte und den Rest des Alkohols in alle Richtungen spritzte. »Noch sind wir nicht tot!«
Art erhob sich und stürzte fast, weil er seinen Körper kaum unter Kontrolle hatte. »Aber wir werden es sein!«, brüllte er. »Finde dich endlich damit ab! Der Antrieb ist hinüber, die Funkanlage, das Beiboot! Alles hinüber!«
Ich schüttelte den Kopf. »Noch haben wir Luft zum Atmen, du Idiot! Vielleicht sind wir im Arsch – kann sein. Aber im Augenblick leben wir noch und ganz ehrlich? Ich habe noch wirklich keinen Bock zu sterben. Ja, dieser verdammte Meteorit hat uns voll erwischt. Aber wir könnten auch jetzt schon Geschichte sein. Stattdessen können wir uns in diesem Trümmerhaufen noch immer unterhalten. Sieh zu, dass du deinen Schädel wieder frei bekommst und dann lass uns überlegen, welche Optionen wir überhaupt noch haben.«
»Optionen?«, lallte Art und lachte. »Optionen?«
»Verschwinde in der verdammten Hygienezelle und lass dir kaltes Wasser über den Kopf laufen!«, fuhr ich ihn erneut an. »Das zumindest funktioniert noch!«
Als mein Kollege den Raum verlassen hatte, ließ ich mich in den Pilotensitz gleiten. Die meisten Kontrollanzeigen auf dem Pult waren tot. Art hatte ja nicht völlig Unrecht. Die Prodigy war nicht mehr zu steuern und das Haupttriebwerk funktionierte ebenfalls nicht mehr. Bremsen war also völlig unmöglich.
Da verfolgte man Raumpiraten bis fast an den Asteroidenring, lieferte sich mit ihnen einen Kampf und gewann ihn auch noch. Es hatte mir zwar nicht gefallen, dass das gegnerische Schiff explodiert war, doch es hatte ja niemanden getroffen, der es nicht verdient hatte. Diese Piraten hatten monatelang Frachter überfallen und dabei meist die Besatzung getötet, um keine Zeugen zu hinterlassen. Ihr Pech, dass eine rechtzeitig vom letzten Opfer abgesetzte Sonde ihre Triebwerkssignatur erfassen und weitermelden konnte. So hatten wir eine Chance erhalten, diesen Verbrechern zu folgen. Auftrag ausgeführt. Alles super.
Wäre da nicht dieser Scheißmeteorit gewesen. Wie hoch ist eigentlich die Wahrscheinlichkeit, im leeren Raum von so einem Ding getroffen zu werden? Die Chance auf einen Hauptgewinn in einer beliebigen Lotterie ist Millionen Mal größer. Und trotzdem wurde die Prodigy von so einem Ding durchlöchert. Ein Sekundenbruchteil und ein stolzes Raumschiff der Streitkräfte war nur noch eine schrottreife Dose. Diese Lotterie hatten wir gewonnen. Schönen Dank auch.
Ich suchte das Pult nach Informationen ab, die noch abrufbar waren. Relativgeschwindigkeit zum Ziel: Hundert Sekundenkilometer. Art hatte recht gehabt.
Ich versuchte, das Ziel zu visualisieren, doch die elektronischen Kameraelemente außen waren zerstört. Optische Beobachtung? Sie funktionierte, konnte aber die Einschlagstelle nicht exakt anzeigen. Aber was waren ein paar hundert Kilometer Abweichung, wenn bereits jetzt feststand, dass wir den blauen Planeten relativ mittig treffen würden?
Sechzehn Stunden! Was konnte man in sechzehn Stunden tun? Den Antrieb reparieren? Aussichtslos! Im Übrigen war der verbliebene Treibstoff mit einem Schlag ins All entwichen. Der Funk! Wenn es gelang, zumindest eine der Orbitalstationen zu erreichen, könnte man uns unter Umständen ein kleines Rettungsschiff schicken.
Ich ließ diesen Gedanken wirken und meine Hoffnung verblasste wieder. Als Pilot wusste ich nur zu genau, was es bedeutete, uns ein Schiff entgegenzuschicken, es zu bremsen, mit Umkehrschub an unsere Geschwindigkeit anzupassen und anzudocken. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, aber dieser Gedanke kam mindestens zehn Stunden zu spät ... Und selbst dann ... Ach, was soll’s?
Ich hatte es zwar schon wiederholt getan, aber ich ließ erneut ein Analyseprogramm über den maroden Bordcomputer laufen.
Atemluft würde noch für vierundzwanzig Stunden reichen. Ersticken würden wir zumindest nicht. Luftaufbereitung? Defekt. Wasseraufbereitung? Defekt. Elektrische Energie? Intakt.
Super! Wir würden in unseren letzten Stunden zumindest lesen können. Es war zum Kotzen. Vielleicht hätte ich den Gin nicht leichtfertig zu Boden schleudern sollen ...
Ich begann, Art zu verstehen, aber einfach aufgeben? Das war nicht mein Ding. Vermutlich lag die Lösung direkt vor meiner Nase und ich war einfach nur zu blöd, sie zu erkennen.
Art hatte unser Beiboot überprüft. Er meinte, es wäre ebenfalls nur noch Schrott. Aber es war zumindest noch da. Es konnte nicht schaden ...
Ich aktivierte das Analyseprogramm für das Beiboot. Der Monitor flackerte. Bitte lass mich jetzt nicht im Stich, du blödes Computersystem ...
Die Atemluft würde für zwei Personen mehr als fünfzehn Stunden reichen. Nicht viel, aber immerhin etwas! Elektrische Energie intakt, Triebwerk offline. Ich versuchte, es online zu stellen, doch meldete der Monitor sogleich eine Fehlfunktion.
Als ich den Funk abfragte, erhielt ich einen Grünwert. Sekundenlang starrte ich auf die Anzeige. Grün? Wirklich Grün? Der Scheißfunk im Beiboot war intakt?
In diesem Moment hörte ich Geräusche hinter mir und wandte mich um. Es war Art, dessen nasse Haare wirr an seinem Kopf klebten.
»Wieder nüchtern?«, fragte ich ihn.
»Einen Scheiß bin ich«, stieß er rau hervor. »Aber einigermaßen kann ich wieder denken. Was machst du denn da eigentlich? Ich weiß nicht, ob es nicht besser gewesen wäre, mich weiter zu besaufen. Weißt du eigentlich, dass ich in diesem Moment Urlaub haben sollte? Ich sollte an einem verfickten Strand in der Sonne liegen, einen Cocktail in der Hand halten und eine hübsche Frau an meiner Seite haben. Aber stattdessen? Urlaubssperre und Raumeinsatz gegen Piraten! Gib mir nur einen Grund, warum ich mich zusammenreißen sollte!«
»Weil ich dich brauche, du Idiot!«, schrie ich ihn an. »Ich suche einen Ausweg und zermartere mir das Hirn und du? Du zergehst vor Selbstmitleid! Ich will nicht draufgehen, verstehst du? Ich habe da unten einen Sohn. Ich würde alles dafür geben, ihn wiederzusehen. Und Marjorie? Irgendwie würde ich auch sie gern wiedersehen.«
»Deine Ex?«, fragte Art ungläubig. »Hast du mir nicht erzählt, sie wäre eine furchtbare Zicke? Junge, ihr habt euch scheiden lassen.«
»Sie ist keine Zicke«, sagte ich leise. »Es ist ... Ach verdammt, manchmal laufen Dinge eben nicht so ... Scheiße, es geht dich auch im Grunde nichts an.«
»Du hängst noch an ihr«, konstatierte Art. »Verdammt, du hängst noch an deiner Ex.«
Er schüttelte den Kopf, was mich einfach nur wütend machte.
»Na und? Marjorie ist ein guter Mensch! Es ist nur ... Ach lassen wir das! Bringt ja doch nichts, wenn es uns nicht gelingt ...«
»Denkst du im Ernst, du könntest noch verhindern, dass wir als Klecks auf der Erdoberfläche enden?«, fragte Art.
Ich wandte mich wieder dem Pult zu. »Der Funk im Beiboot scheint zu funktionieren.«
»Ja und? Was soll uns das bringen? Die einzige Verbindung dorthin ist dieser Teleskoprüssel und der wurde vom Meteoriten zerfetzt. Du kannst dem Beiboot zuwinken. Was soll das alles noch? Lass es einfach. Ich hab in meiner Kabine noch eine Flasche. Besaufen wir uns gemeinsam und tragen es wie Männer ...«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie Männer? Du bist ein Arsch. Meinst du, wir könnten uns dermaßen abschießen, dass wir von all dem nichts mehr mitbekommen?«
»Wer weiß?«, sagte Art. »Wenn das nichts hilft, bleiben uns immer noch die Raketen.«
»Was?«
»Die restlichen Raketen, die wir nicht mehr gebraucht haben. Sie sind noch da. Zumindest zwei von ihnen. Machen wir sie scharf und ... Peng. Game over. Ist vielleicht besser, als zuzusehen, wie unsere gute alte Erde uns immer näher kommt.«
Es dauerte einen Moment, bis das in mein Hirn tröpfelte.
Ich fuhr zu ihm herum. »Wir haben noch zwei Raketen? Wieso hast du mir nichts davon gesagt?«
Art hob hilflos seine Arme. »Was hätte es gebracht? Hätte ich sie etwa abfeuern sollen? Wozu? Wir können sie aber immer noch verwenden, um uns schnell und schmerzlos ...«
»Stopp!«, brüllte ich. »Ich habe eine Idee!«
»Er hat eine Idee!«, echote Art. »Du bist ein Spinner!«
»Nein, im Ernst! Wo sind die Raketen? Doch gegenüber vom Beiboot, oder?«
»Ja klar. Wegen der Symmetrie und wegen des Schwerpunktes der Prodigy. Wieso?«
»Pass auf! Wir können durchaus noch ins Beiboot gelangen, wenn wir unsere Raumanzüge anlegen. Wir haben exakt einen Versuch, denn die Schleuse hat ebenfalls außen ein Leck. Öffnen wir sie, ist unsere Atemluft weg. Aber das Beiboot sieht noch recht unversehrt aus, wenn man vom defekten Triebwerk absieht und der Tatsache, dass wir den Entkopplungsmechanismus nicht auslösen können.«
»Was willst du dann in dem verdammten Beiboot, Mann?«
»Uns retten, wenn du das genau wissen willst. Im Beiboot ist der Funk in Ordnung. Wir sind schon so nah an der Erde, dass wir die Orbitalstationen sogar schon über UKW erreichen würden. Würdest du es hinbekommen, eine der Raketen scharf zu machen und sie auf Knopfdruck vom Beiboot aus detonieren zu lassen?«
»Keith, was soll das? Wenn du denkst, wir sollten uns tatsächlich in die Luft jagen, muss es doch nicht so kompliziert sein.«
Ich schüttelte meinen Kopf. »Ich weiß genau, was ich will, Art. Ich weiß nicht, ob es funktioniert, aber es ist die einzige Chance, die wir haben. Und je eher wir das tun, umso größer sind unsere Chancen, dass du demnächst einen Urlaub an einem der schönen Strände von Mutter Erde machen kannst.«
Art sah mich aus zusammen gekniffenen Augen an. »Du hast meine volle Aufmerksamkeit. Was hast du vor?«
»Ich will, dass wir so schnell wie möglich ins Beiboot übersiedeln. Vorher solltest du vorbereiten, dass wir durch einen kurzen Funkimpuls eine der Raketen – bitte nicht beide – explodieren lassen können. Wenn sie detoniert, haben wir die gesamte Prodigy zwischen uns und der Rakete. Sollte es gelingen, wird uns das einen solchen Seitenschub geben, dass es vielleicht ausreicht, unseren Anflugwinkel zu ändern. Noch reichen drei bis vier Grad Abweichung, um an der Erde vorbeizufliegen. Für einen Eintritt in die Umlaufbahn sind wir sowieso zu schnell. Aber wir können funken und den Stationen mitteilen, wer und wo wir sind und welchen Vektor wir fliegen.«
Arts Blick war voller Skepsis. »Es klingt im ersten Moment nicht schlecht, aber die Luft im Beiboot reicht auch nur für rund fünfzehn Stunden. Wenn die uns erst ein Rettungsschiff entgegenschicken müssen ... » Seine Miene erhellte sich.
»Verdammt!«, rief er. »Das müssten sie ja gar nicht. Wir rasen auf die Erde zu. Wenn wir ihnen diese Nachricht bald zukommen lassen können, brauchen sie nur ein Schiff auf den Weg bringen, das bereits etwa unseren Kurs fliegt.«
»Genau«, sagte ich. »Und wir haben in den Anzügen ja auch noch Luft. Art, das kann reichen. Es steht und fällt jetzt damit, wie schnell wir arbeiten und ob uns die Explosion nicht doch in Stücke reißt.«
Nachdem das geklärt war, schien Art wie ausgewechselt. Er klemmte sich hinter seinen Kampfstand, rief die Daten der verbliebenen Raketen ab und bereitete eine davon für eine manuelle Sprengung vor.
»Erledigt!«, rief er. »Jetzt nichts wie weg von hier. Du hast mir diesen Floh ins Ohr gesetzt und jetzt will ich auch ein verdammtes Happy End!«
Wir vergeudeten keine weitere Zeit mehr und legten direkt danach unsere Anzüge an. Ich hatte schon Angst, auch sie könnten beschädigt sein, doch diese Angst war unbegründet. Trotzdem hatte ich ein mulmiges Gefühl dabei, unsere gesamte Atemluft aus dem Schiff abzulassen, um mich auf ein Abenteuer einzulassen, das mich ebenfalls das Leben kosten konnte.
Als wir die Außenschleuse geöffnet hatten, sahen wir sogleich, dass wir sie nicht mehr schließen konnten. Es war pures Glück, dass wir sie überhaupt öffnen konnten. Mit einer Sicherungsleine gesichert, hangelten wir uns an der demolierten Halterung entlang zum Beiboot. Der Anblick, den die Prodigy uns dabei bot, war entsetzlich. Ein einziger Meteorit hatte uns getroffen, doch das Schiff sah aus, als hätte die Faust eines Riesen zugeschlagen.
Meine Finger wurden schweißig in den klobigen Handschuhen. Es war eine Mischung aus Angst und Nervosität. Hinzu kam dieses beklemmende Gefühl, das ich immer bekam, wenn ich im All einen Außeneinsatz hatte.
Art war der Erste an der Beibootschleuse und ich atmete erleichtert auf, als er sie widerstandslos öffnen konnte.
Wir kletterten in die Schleusenkammer und schlossen die schwere Luke. Der Vorgang des Schleusens dauert eigentlich nicht lange, doch uns erschienen es viele Minuten zu sein – subjektiv natürlich. Irgendwann sprang die Anzeige über die Innenluke auf grün, was bedeutete, dass der Druckausgleich erfolgt war.
Das Beiboot war zwar vergleichsweise winzig, aber dafür sprang gleich die Beleuchtung an und die Bedienelemente auf dem Pult erwachten zu Leben. Ein Hauch von Normalität in diesem Chaos.
Ich hangelte ich sofort zum Funkgerät und aktivierte es. Die wichtigsten Notfrequenzen hat jeder Raumfahrer im Kopf und so sendete ich nach kurzer Zeit unseren Notruf zur Erde.
Ich hätte weinen können, als ich die Stimme des Wachhabenden der Orbitalstation Kolumbus im Lautsprecher hörte. Wir redeten gleichzeitig auf diesen Mann ein und mussten uns kurz zusammenreißen und klären, wer die notwendigen Daten ins Mikrofon spricht. Art hatte sich schon etwas zurechtgelegt, während ich das Funkgerät vorbereitet hatte und gab alle Daten zügig weiter.
»Sind Sie sicher, dass Sie das machen wollen?«, fragte der Mann. »Es könnte Sie zerreißen, das wissen Sie.«
»Ja, das oder der Aufschlag auf der Erde«, sagte ich sarkastisch. »Eine andere Chance bekommen wir nicht mehr.«
»Wenn es gelingt, wissen Sie aber nicht, in welche Richtung Sie abgelenkt werden«, gab der Mann zu bedenken.«
»Da müssen wir uns auf Sie uns ihre Fantasie verlassen«, sagte ich. »Sie wissen jetzt, wo wir sind und müssen ihre Ortungsantennen auf uns ausrichten. Wir zünden in zehn Minuten, gerechnet von jetzt an. Achten Sie auf unseren Kurs und bringen ein Rettungsschiff auf den Weg. Wir verlassen uns auf Sie.«
»Wir tun unser Bestes. Ich wünsche Ihnen viel Glück.«
Art und ich schauten einander einen Moment lang schweigend an. Er nickte.
»Dann kommt jetzt der unberechenbare Teil«, sagte er. »Zehn Minuten?«
Ich nickte. »Stell es ein. Und wenn die Zeit um ist, sprengst du.«
»Wir sollten uns anschnallen und die Anzüge anbehalten«, schlug Art vor.
Es war alles gesagt. Wir schlossen unsere Gurte über den Anzügen, nachdem wir in den Gelkissen der Beibootsitze lagen. Nervös beobachtete ich die Anzeige des Countdowns auf der Uhr, welche die verbleibende Zeit bis zur Sprengung anzeigte. Als die Null erschien, sahen wir einander wieder an und nickten beide. Art drückte eine Taste an dem Zünder, den er schon aus der Prodigy mitgenommen hatte.
Mehr bekam ich nicht mehr mit. Es gab einen mörderischen Schlag und ich war regelrecht ausgeknipst.
Als mein bewusstes Empfinden wieder einsetzte, fühlte ich mich, wie durch eine Mangel gedreht. Alle Glieder schmerzten und mein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand mit einem Knüppel darauf herumgehämmert.
War ich das, der da so furchtbar stöhnte? In meinem Mund schmeckte es metallisch. Ich zwang mich, die Augen zu öffnen. Die Erinnerung kam wieder. Das Beiboot. Die Explosion ... Mein Kopf ruckte zur Seite. Ich hätte es nicht tun sollen, denn die Stiche in meinem Schädel waren nicht spaßig. Trotzdem zwang ich mich dazu, den Kopf noch einmal zu schütteln, um die Tränen loszuwerden, die sich in meinen Augen angesammelt hatten. Ich trug noch immer den Raumhelm, dessen Innenseite mit etwas rotem bespritzt war. Der metallische Geschmack – ich musste wohl geblutet haben. Aber ich war am Leben. Art, auf der Liege neben mir, rührte sich noch nicht. Ich betete im Stillen, dass er es ebenfalls überstanden hatte. Verletzungen spielten keine so große Rolle, wenn unser Plan wenigstens geglückt war.
Erst jetzt bemerkte ich dieses merkwürdige blaue Blinken. Ich wandte meinen Kopf zu beiden Seiten und sah, dass es eine Lampe am Funkgerät war. Mein Versuch, diesen Knopf zu erreichen, scheiterte kläglich. Ich konnte mich so schnell nicht aus diesem dummen Gelkissen befreien.
»Art, wach auf!«, rief ich, in der Hoffnung, dass er nicht schwerer verletzt war als ich. Es bedurfte mehrerer Versuche, doch dann rührte es sich auch bei meinem Nachbarn.
»Was ist denn?«, kam es quälend aus dem Außenlautsprecher von Arts Anzug.
»Gott sei Dank, du lebst!«, rief ich. »Es geht ein Anruf über Funk ein. Der Knopf ist auf deiner Seite. Schaffst du es, ihn zu drücken?«
Er ächzte und versuchte, sich aufzurichten. »Oh fuck, tut das weh!«, schimpfte er.
Ich kannte Art inzwischen ganz gut, und wenn er fluchte, war es meist nicht so schlimm.«
Quälend langsam hob er seinen Arm und streckte den Finger aus, bis er endlich den Knopf gedrückt hatte.
»Kolumbus ruft Raumschiff Prodigy«, ertönte es aus dem Lautsprecher. »Bitte melden Sie sich. Wir haben eine Explosion geortet. Kolumbus ruft Raumschiff Prodigy.«
»Können die uns hören?«, fragte ich Art.
»Moment, ich öffne den Sendekanal.« Er beugte sich ächzend noch weiter vor und drückte ein paar weitere Tasten. »Jetzt, Keith. Mach du das. Ich bin einfach nur fertig.«
»Prodigy an Kolumbus«, rief ich. »Wir hören Sie. Können Sie uns Angaben über unseren Status machen?«
»Sie meinen, ob sie es geschafft haben, ihren Flugvektor so weit zu verändern, dass Sie die Erde verfehlen? Positiv. Das haben Sie. Die Prodigy, oder was davon noch übrig ist, wird die Erde in Höhe des 54. Breitengrades südlicher Breite um fast hunderttausend Kilometer verfehlen. Eine Rettungsmission ist bereits auf dem Weg. Sie werden sich noch etwa zehn Stunden gedulden müssen, bis die Crew der Magellan bei ihnen andockt und sie aufnehmen kann.«
Ich stieß erleichtert meine Luft aus und atmete mehrmals tief durch.
»Prodigy?«
»Alles gut«, sagte ich. »Wir sind einfach nur erleichtert, dass wir weiterleben dürfen.«
Auf der Gegenseite ertönte ein leises Lachen. »Das dürfen Sie auch sein. Und Glückwunsch, dass Ihnen diese tollkühne Aktion gelungen ist.«
»Danke«, sagte ich. »Ich schalte jetzt ab. Ich denke, wir haben uns etwas Ruhe verdient.«
Wir schwiegen eine Weile. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Irgendwie waren wir wiedergeboren worden. Den sicheren Tod vor Augen hatten wir es durch einen verrückten Schachzug geschafft, ihn zu überlisten. Oder spielte dabei eine höhere Macht mit, deren Existenz ich bislang immer verleugnet hatte? Ich wusste es nicht.
»Was tust du, wenn das alles vorbei ist?«, fragte Art.
»Keine Ahnung.«
Ich dachte einen Moment nach. »Vermutlich werde ich nie wieder bei einer Lotterie mitmachen. Den Hauptgewinn hatte ich jetzt schon. Und ... ich glaube, ich werde nie wieder ein Raumschiff betreten. Diese Art der Fliegerei werde ich an den Nagel hängen.«
»Das gilt auch für mich. Jetzt weiß ich, was du nicht mehr tun wirst«, sagte Art. »Aber was wirst du tun, später, unten auf der Erde.«
»Frag mich das, wenn wir tatsächlich dort angekommen sind. Jetzt brauche ich erst einmal Ruhe. Und zehn Stunden sind eine lange Zeit.«
Die Anspannung der letzten Stunden forderten ihren Tribut und ich merkte, wie die Müdigkeit mich übermannte. Das Schiff, die Katastrophe ... Alles trat in den Hintergrund. Meine Gedanken schweiften ab. Was war eigentlich damals der Grund für meine Trennung von Marjorie gewesen? Ich wusste es nicht einmal mehr genau, nur, dass ich zu einem gewissen Teil Schuld daran war. Der Streit? Der Job? Mein Egoismus? Das Bild von Steven erschien vor meinem geistigen Auge. Verdammt, ich hatte so viel falsch gemacht. Vielleicht war es an der Zeit, einiges davon wieder gut zu machen. Einen Versuch wäre es zumindest wert. Vielleicht ließ Marjorie sich ja überzeugen, dass ich mich geändert hatte. Ein Neuanfang, das wäre es. Das wäre wirklich schön. Ich hatte es mir bisher nicht eingestanden, doch jetzt wusste ich es auf einmal: Ich liebte sie noch immer.
Dieser letzte Gedanke zauberte mir ein Lächeln auf die Lippen und ließ mich endlich einschlafen.
moriazwo (C) April 2021