- Details
- Zugriffe: 3257
Diese Geschichte war ein Beitrag für die Anthologie "Die magnetische Stadt" - 2014 Collection of Science-Fiction Stories vom Verlag für moderne Phantastik. In diesem Falle gab es eine klare Themenvorgabe, der man als Autor folgen musste:
Eine Krankheit rafft einen großen Teil der Menschheit nieder. Heilung scheint ausgeschlossen. In ihrer Verzweiflung unterwirft sich jeder, der es sich leisten kann, einer völlig neuen, ungetesteten Technologie: Man lässt sein Bewusstsein - das Ego - in das Hochleistungsgehirn eines künstlichen Körpers übertragen. Nach und nach entsteht so eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Völlig unerwartet findet man schließlich die Heilung gegen die Krankheit und weitere "Übertragungen" sind nicht mehr erforderlich. Wie geht die Gesellschaft damit um?
Die folgende Geschichte entstand unter dieser Prämisse:
»Machen Sie Feierabend, Alina.« Dr. Wagner schloss die Tür zu seinem Behandlungsraum. »Es kommt doch sowieso niemand mehr.«
Sie sah von ihrem Monitor zu ihm auf. »Ich muss nur noch diese Listen hier abgleichen, Herr Doktor. Gehen Sie ruhig. Ich schließe nachher schon ab.«
Dr. Wagner trat an die Theke heran. »Kann es sein, dass Sie das nur tun, um nicht nach Hause zu müssen? Wie geht es denn Ihrem Mann?«
Alina lachte lautlos auf. »Wie soll es ihm gehen? Wie ist denn die Beziehung zu Ihrer Frau, seit wir wissen, dass der Impfstoff gegen das NT-Virus funktioniert?«
Er überlegte einen Augenblick. »Sie haben ja recht. Genau betrachtet war die Übertragung in Androidenkörper ein schwerer Fehler, aber das wusste man ja vorher nicht. Als Lisa mit der Nachricht vom Institut heimkam, dass sie sich mit NT infiziert hatte, hätte ich alles getan, um ihr Leben zu retten.«
»Eben. Und wir hatten sogar einen Kredit aufgenommen, um Kevin einen dieser Körper kaufen zu können. Es sah doch alles so gut aus. Ich kann es einfach nicht verstehen.«
Dr. Wagner nahm sich einen Bürostuhl und setzte sich zu Alina hinter die Theke. »Lassen Sie mich raten: direkt nach der Übertragung des Bewusstseins war noch alles in Ordnung. Sein Leben war nicht mehr gefährdet, und auch seine körperliche Leistungsfähigkeit schien normal. Ich weiß, dass es indiskret ist, aber haben Sie noch eine richtige Ehe geführt?«
Sie kaute auf ihrer Unterlippe. »Sie meinen, ob wir noch miteinander geschlafen haben? Ja, das haben wir. Es war sogar sehr schön, bis …«
»Bis was?«
»Nun, es war mein Kevin … und er benahm sich wie er. Sein neuer Körper ist äußerst wohlgeformt. Dennoch: Irgendwie ist er anders geworden. Ich wollte es zunächst nicht sehen, aber jetzt?«
»Es ist das Emotionale, nicht wahr?«, fragte Dr. Wagner. »Die Handlungen waren wie immer, doch es fehlte ihnen die Wärme und das Gefühl.«
»Genau! Ich hatte immer nur das Empfinden, mit einem Roboter zusammenzuleben, der alles über mich weiß. Mir ist klar, dass das falsch ist, denn sie haben ja ein Image seines vollständigen menschlichen Bewusstseins in die Hirnzelle des Androiden geladen. Es ist Kevin, und doch …«
Dr. Wagner nickte. »Ich kann Sie gut verstehen. Auch Lisa scheint mir immer gefühlskalter zu werden. Es ist ein unheimlicher Prozess. Ich beginne mich zu fragen, ob die Androidenkörper schon ausgereift waren, als man sie plötzlich in Massen produzieren musste.«
»Es war die einzige Möglichkeit, unser Milliardenvolk zu retten. Eigentlich hätten wir beide auch längst in Androidenkörpern stecken sollen.«
»Ja, und manchmal denke ich, dass wir dann weniger Probleme hätten. Es wäre dann normal für uns. So aber – durch den Impfstoff – sind wir immun und können weiter in unseren eigenen Körpern leben. Der Gedanke, jetzt noch transferiert zu werden, erfüllt mich mit Grauen.«
»Mir geht es ebenso. Beim Gedanken, bald nach Hause fahren zu müssen, befällt mich Unbehagen. Ich weiß genau, wie es dort zugehen wird. Die Wohnung wird dunkel sein, und er wird irgendwo in dieser Dunkelheit auf mich warten.« Sie schüttelte sich.
»Dass die Androiden kein Licht benötigen …«, sagte Wagner. »Allein das macht sie für uns fremdartig.«
Alina blickte ihn an. »Meinen Sie, das wäre alles? Manchmal hab ich das Gefühl, als ziehe sich eine Schlinge langsam um meinen Hals zusammen.«
Wagner schüttelte den Kopf. »Na, nun sehen Sie aber Gespenster.« Er erhob sich und holte seine Jacke von der Garderobe. »Wissen Sie was? Lassen Sie uns noch in der Stadt einen Drink zusammen nehmen. Ich geb einen aus.«
»Wie darf ich das verstehen?«
Wagner hob abwehrend seine Hände. »Nicht, dass Sie denken, ich wollte Ihnen zu nahe treten. Ich möchte einfach noch etwas ungezwungen mit einem echten Menschen plaudern, und ich hab das Gefühl, Ihnen könnte das auch guttun.«
Sie überlegte einen Moment. »Warum eigentlich nicht?« Sie schaltete ihren Computer aus und zog ebenfalls ihre Jacke an.
Im Labor war noch das Radio zu hören. In den Nachrichten verkündeten sie soeben, dass die Parlamentswahlen zum ersten Mal eine Mehrheit der »Liga der Transferierten« erbracht hatten. Der angehende Kanzler, ein Android namens Gunnar Sohrbeck, kündigte an, sich neben der Förderung der Wirtschaft insbesondere für die Stärkung der Androidenrechte einzusetzen.
Wagner und Alina blickten sich an. »Der scheint es ja sehr eilig zu haben, Veränderungen durchzusetzen.«
Wagner zuckte mit den Achseln. »Vermutlich wird es bedeuten, dass wir noch weniger Patienten bekommen und irgendwann schließen müssen.«
Gemeinsam verließen sie die Praxis und verriegelten die Tür. Wagners Wagen stand in der Tiefgarage, und sie fuhren mit dem Aufzug hinunter. Als sie die Kabine betraten, stand bereits ein Mann darin und grüßte höflich. »Dr. Wagner, Frau Leupert, ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend.«
»Kennen wir uns?«, fragte Wagner und sah ihn unter zusammengezogenen Brauen an.
»Nicht persönlich, aber natürlich kennt man die einzigen Bios, die noch hier im Gebäude arbeiten. Es muss deprimierend sein, wenn man als Arzt keine Patienten mehr bekommt. Sie sollten überlegen, die Praxis zu schließen.«
»Wie bitte? Wer sind Sie?«
»Alex Crohn. Ich bin von der Hausverwaltung. Nur wegen ihrer Praxis muss das gesamte Gebäude noch klimatisiert werden. Sobald das Majoritätsgesetz verabschiedet ist, werden wir uns über Ihren Mietvertrag unterhalten müssen.«
Der Lift war unten angekommen, und sie stiegen aus. Wagner und Alina waren froh, diesen sonderbaren Mann loszuwerden, der in ein Elektroauto der Hausverwaltung einstieg und davonfuhr.
Alina sah ihm hinterher. »Ein eigenartiger Mensch. Was wollte er von uns? Was ist das Majoritätsgesetz?«
Wagner schloss seinen Wagen auf, einen 2024er-Toyota mit Hybridmotor, und bedeutete seiner Mitarbeiterin, einzusteigen. Als sie die Rampe hinauffuhren und sich in den Straßenverkehr einreihten, fragte er: »Haben Sie es nicht mitbekommen? Selbst in der Regierung gibt es eine beachtliche Zahl von Androiden. Sie haben es doch eben im Radio gehört. Die Transferierten wollen erreichen, dass überall dort, wo die Bios – wie sie uns inzwischen nennen – in der Minderheit sind, alle für Androiden nicht erforderlichen Geräte abgeschaltet werden. Sie würden der Praxis quasi die Luft zum Atmen abstellen, um Energie zu sparen. Lisa redet auch nur noch davon, dass man die Bios über kurz oder lang in eigenen Stadtteilen konzentrieren muss. Ich hatte das lange für Gerede gehalten, aber die Gesetzesvorlage gibt es tatsächlich, und ich fürchte, nach dieser Wahl wird sich für uns einiges ändern.«
Alina sah ihn ängstlich an. »Dann müssen wir wirklich schließen, Dr. Wagner?«
»Nennen Sie mich Gero. Ja, ich fürchte, diese Bedrohung ist sehr real.«
Alina blickte auf die Straße. Alles wirkte wie immer. Viele Fahrzeuge waren um diese Zeit unterwegs, und ständig stockte der Verkehrsfluss. Sie sah Wagner von der Seite an. »Was wird aus uns, wenn wir die Praxis schließen müssen? Es muss doch noch Menschen wie uns geben, die einen Arzt brauchen. Wie viele Androiden gibt es in dieser Stadt?«
»Die Zahl der Infizierten hier in Berlin war ungemein hoch. Ich fürchte, dass fast drei viertel der Einwohner Androidenkörper besitzen. Vielleicht ist die Idee, zu schließen, nicht so verkehrt. Wir sollten überlegen, die Stadt zu verlassen.«
»Und dann?« Alina sah ihn ratlos an. »Was ist mit Kevin? Oder mit Ihrer Frau?«
Wagner schwieg einen Moment. In seinem Gesicht arbeitete es. »Lieben Sie Ihren Mann noch, Alina?«
»Er ist mein Ehemann.«
»Das hab ich nicht gefragt. Ich möchte wissen, ob Sie ihn noch lieben – so wie vor der NT-Epidemie?«
Sie schwieg.
»Das dachte ich mir. Ich sehe in Lisa auch nicht mehr die Frau, für die ich einmal alles getan hätte. Mir wird, genau wie Ihnen, regelrecht unwohl, wenn ich daran denke, nach Hause zu fahren.«
Der Verkehr stockte vollends. Leichter Regen hatte eingesetzt.
Wagner schlug mit der Faust auf sein Lenkrad. »Ein Stau hat uns noch gefehlt!«
Alina starrte angestrengt nach vorn. »Was ist da los? Ein Unfall? Da sind Blinklichter von Polizeifahrzeugen.«
Ganz allmählich schob sich die Autoschlange auf die Blinklichter zu.
»Das ist kein Unfall, sondern eine Polizeikontrolle«, sagte Gero. »Keine Ahnung, was das soll, aber wir haben ja nichts zu verbergen.«
Alina angelte in ihrer Handtasche nach ihrer Brieftasche. Als sie die Kontrolle erreicht hatten, blickte ein Polizeibeamter in ihren Wagen. Wagner kannte diesen besonderen, ausdruckslosen Blick. Der Mann war ein Androide.
»Zwei Personen?«, fragte er. »Dürfte ich kurz Ihre Ausweise scannen?«
Wagner hielt ihm ihre Papiere hin.
»Sie sind Bios. Warum tragen Sie keine Transponder? Die Stadtverwaltung weiß immer gern, wo ihre biologischen Bürger sind.«
Wagner spürte Ärger in sich hochsteigen. »Was soll das? Wir sind nicht verpflichtet, diese Dinger zu tragen!«
»Dann muss ich Sie über etwas aufklären: Der Stadtrat hat heute beschlossen, dass Bios ab sofort Transponder tragen müssen. Das Leben von Bios ist zu wertvoll, als dass man es riskieren kann, sie nicht umfassend zu schützen.«
»Müssen wir jetzt auch noch dankbar dafür sein, dass man uns kontrollieren will?«, fragte Alina ärgerlich vom Beifahrersitz aus.
»Kein Grund, unfreundlich zu sein, Frau Leupert. Ich frage Sie ja nicht, wieso Sie mit Herrn Dr. Wagner zusammen im Auto in eine Richtung fahren, in der niemand von Ihnen wohnt. Es geht nur um Ihr Wohl. Ich werde Ihnen heute nur eine mündliche Verwarnung geben. Ab morgen tragen Sie bitte Ihre Transponder. Und dieses Fahrzeug muss abgemeldet werden.«
»Sind Sie noch zu retten?«, fragte Wagner. »Was ist an meinem Auto auszusetzen?«
»Hybridmotor. In wenigen Tagen werden wir beschließen, dass nur noch reine Elektrofahrzeuge die Stadt befahren dürfen. Der Wagen verfügt doch über einen Transponder?«
»Herrgott, natürlich nicht!«, brauste Wagner auf. »Sie können doch nicht von jetzt auf gleich solche Regeln aufstellen. Mir reicht es allmählich. Lassen Sie uns endlich weiterfahren. Wir haben uns doch nichts zuschulden kommen lassen!«
Ein weiterer Beamter trat zu ihnen an den Wagen. »Schon wieder uneinsichtige Bios? Sollen wir sie mit auf die Wache nehmen?«
Der erste Beamte nickte. »Wäre wohl das Beste. Sie müssen begreifen lernen, dass die Welt nicht mehr so ist, wie sie einmal war.«
Gero konnte kaum glauben, was er hörte. Wütend kletterte er aus dem Wagen. »Hören Sie sich eigentlich selbst reden? Erst werden wir nur kontrolliert, dann verwarnt, weil wir keine Sender tragen, ich soll mein Auto stilllegen, und jetzt wollen Sie uns auch noch verhaften?«
Die beiden Polizisten sahen ihn nur ungerührt an. »Niemand hat von Verhaftung gesprochen, Dr. Wagner. Wir nehmen Sie mit, um Sie mit den neuen Gegebenheiten in dieser Stadt vertraut zu machen. Ihre Ehepartner wurden bereits verständigt. Würden Sie nun bitte in unseren Wagen einsteigen? Wir kümmern uns um die Entsorgung Ihres alten Fahrzeugs.«
Wagner sah Alina ratlos an, die ebenfalls ausgestiegen war. »Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein.«
»Bitte kommen Sie!« Die Beamten fassten sie beide an den Armen und führten sie ruhig, aber bestimmt zum Streifenwagen. Alina wehrte sich verzweifelt, doch hatte sie dem festen Griff des Androiden nichts entgegenzusetzen.
»Was wollen Sie überhaupt von uns?«, fragte sie matt. »Dies ist ein Rechtsstaat. Hier kann man nicht grundlos Menschen festnehmen.«
»Frau Leupert, wer sagt, dass wir keinen Grund haben? Außerdem arbeiten wir auf Weisung der Stadtverwaltung. Die neuen Bestimmungen sind vorzeitig in Kraft getreten. Jetzt, wo wir Androiden in den Gremien fast überall die Mehrheit haben, sind wir nicht mehr darauf angewiesen, uns durch einen schwerfälligen Gesetzesapparat behindern zu lassen.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Wagner. »Soll das etwa bedeuten, dass wir normalen Menschen jetzt von euch unterdrückt werden sollen?«
»So dürfen Sie das nicht sehen«, antwortete der Mann auf dem Beifahrersitz. »Was ist normal? Ist es nicht das, was die Mehrheit ausmacht? Aus unserer Sicht sind wir Androiden in diesem Staat eine deutliche Mehrheit, also bestimmen wir ab jetzt den Kurs. So einfach ist das.«
»Dann geht es hier überhaupt nicht um eine Belehrung, wie Sie uns gesagt haben? Ich will endlich wissen, was Sie von uns wollen!«
Die Beamten sagten nichts mehr, und der Streifenwagen zwängte sich weiter durch den späten Feierabendverkehr. Es war Wagner zunächst nicht aufgefallen, aber es waren ungewöhnlich viele Streifenwagen unterwegs, und überall wurden ähnliche Kontrollen durchgeführt wie jene, bei der Alina und er aufgegriffen worden waren. Hilflos schaute er aus dem Seitenfenster. Seine Welt begann zu zerbröckeln. Was war er denn noch? Ein Arzt ohne Patienten, ein Mann ohne Ehefrau, denn Lisa war schon lange nicht mehr die Person, die er geliebt hatte. Jetzt schafften sie ihn irgendwohin, und er hatte keine Ahnung, was ihm bevorstand.
Plötzlich blendete ihn ein Licht aus einem der vorüberfahrenden Wagen. Er sah genauer hin. Jemand hielt einen Zettel aus dem geöffneten Seitenfenster: »Festhalten!«
Alina hatte es ebenfalls gesehen. »Was ist denn …?«
In diesem Moment rammte das fremde Fahrzeug ihren Streifenwagen von der Seite und drängte ihn von der Fahrbahn gegen die Seitenbegrenzung. Metall kreischte, und Funken stoben in alle Richtungen. Allmählich kamen sie zum Stehen, und die Beamten sprangen aus dem Auto – zogen ihre Waffen. Sie stürmten zu dem fremden Fahrzeug, das mit zerbeultem Kotflügel quer vor dem Streifenwagen stand.
Mit befehlsgewohnter Stimme forderten die Beamten die Insassen auf, auszusteigen. Gero und Alina waren im Fonds des Polizeiautos sitzen geblieben, verfolgten jedoch gebannt, was draußen geschah. Mit einem Ruck wurden die Türen des fremden Fahrzeugs aufgestoßen, und aus dem Dunkel heraus krachten Schüsse. Er konnte erkennen, dass kleine Blitze aus den Körpern der Polizisten schlugen. Sie zitterten kurz, wankten und sackten dann in sich zusammen, vorläufig außer Gefecht gesetzt.
Alina schrie auf. »Mein Gott! Was hat das zu bedeuten?«
Wagner legte einen Finger über seine Lippen und flüsterte: »Keine Ahnung, aber wir sollten versuchen, zu verschwinden. Öffnen Sie Ihre Tür, wir schleichen auf Ihrer Seite heraus, dann sehen sie uns vielleicht nicht.«
Inzwischen waren zwei Männer – offenbar Androiden – aus dem fremden Wagen gesprungen. Sie hielten Schusswaffen in den Händen. Wagner warf einen raschen Blick durchs Fenster. Einer der Polizisten versuchte, nach seiner eigenen Waffe zu greifen, die ihm entfallen war. Seine Bewegungen waren unkoordiniert und ruckartig. Bevor er sie zu fassen bekam, jagte einer der Männer ihm zwei Kugeln in die Schulter, worauf leichter Rauch aus seinem Körper aufstieg.
»Damit kommt ihr nicht durch!«, rief der Beamte. »Es wird nicht lange dauern, bis Verstärkung eintrifft. Das müsstet ihr doch wissen.«
»Ach, halt doch das Maul«, sagte der Androide, riss eine kleine Klappe im Nacken des Polizisten auf und durchtrennte ein kleines Kabel, worauf der Mann leblos zusammensackte.
»Das könnt ihr nicht machen!«, brüllte der andere Beamte in Panik.
»Nein? Dann wart mal ab.« Der Fremde öffnete auch bei ihm die Nackenklappe und legte ihn still.
Wagner wandte sich ab. Das alles war so schnell gegangen! Als er sich zu Alina umdrehte, war die schon mit einem Bein aus dem Auto geklettert. Plötzlich hatte er es eilig, zu verschwinden. Draußen schlichen sie davon, um in der Dunkelheit verschwinden zu können.
»Halt!«, rief einer der Fremden. »Bleibt stehen! Wir sind hier, um euch zu befreien!«
»Was sollen wir tun?«, fragte Alina, die Augen vor Angst geweitet.
Wagners Schultern sackten nach unten. »Es ist vorbei. Die beiden sind bewaffnet, und wir haben gesehen, was sie mit den Polizisten gemacht haben. Was immer sie wollen – ich will nicht hier auf der Straße von ihnen erschossen werden.« Langsam erhob er sich und hob seine Hände über den Kopf. »Nicht schießen! Wir sind unbewaffnet!«
Der Fremde winkte ab und steckte seine Waffe weg. »Niemand will auf Sie schießen, Dr. Wagner. Frau Leupert, Sie können sich auch erheben. Wir müssen hier weg. Insoweit haben die beiden Gesetzeshüter hier recht. Kommen Sie. Wir bringen Sie in Sicherheit.«
Zögernd gingen sie auf den Wagen zu, der sie gerammt hatte. Der andere Fremde hielt ihnen bereits die Tür zum Fonds auf. »Bitte. Wir werden Ihnen alles erklären, aber steigen Sie jetzt ein. Wir können es nicht mit einer Sondereinheit aufnehmen.«
Schweigend setzten sie sich auf die Rückbank, und die beiden Androiden starteten den Elektromotor.
»Sie haben sicher ein paar Fragen«, sagte der Fahrer.
»Das können Sie laut sagen. Was wird hier eigentlich gespielt? Ich hab ja schon nicht verstanden, warum aus einer kleinen Polizeikontrolle plötzlich eine Verhaftung wurde. Aber als Sie auftauchten und die Polizisten getötet haben … und das nur, um uns zu befreien? So wichtig sind wir ganz sicher nicht.«
»Also zunächst einmal: Wir haben die Polizisten nicht getötet. Sie werden sicher einen neuen Körper brauchen, aber ihr Hirn wurde nicht beschädigt. Es ging uns nur darum, dass sie keine weiteren Details an ihre Dienststelle senden können.«
»Ich blick trotzdem nicht durch. Sie sind doch ebenfalls Androiden. Bekämpfen Sie sich jetzt gegenseitig? Dann ist doch die Rettungsaktion für die Menschheit ein Witz.« Wagner redete sich in Rage, um seine Angst in den Griff zu bekommen.
»Genau!«, stimmte Alina zu.
»Es muss auf Sie so wirken – da gebe ich Ihnen recht. Ich bin jedoch ein Mensch wie Sie – aus Fleisch und Blut. Die beiden Androidenkörper hier im Wagen enthalten kein Bewusstsein. Sie werden von uns ferngesteuert. Wir bringen Sie jetzt zu einem Treffpunkt, wo Sie das Fahrzeug wechseln. Dieser Wagen und die beiden künstlichen Körper werden aufgegeben.«
»Sie haben immer noch nicht gesagt, wieso Sie das alles tun. Warum lassen Sie uns nicht einfach nach Hause gehen?«
»Wollen Sie von denen wieder eingefangen werden? Glauben Sie allen Ernstes, dass Sie durch Ihre Ehepartner Rückendeckung erhalten? Die gehören zu denen. Das, was wir heute erleben, wurde von langer Hand vorbereitet.«
Der Wagen bog von der Schnellstraße ab und folgte einer kleinen Seitenstraße, die zu einem verlassenen Fabrikgelände führte. Auf dem ehemaligen Firmenparkplatz stand ein Truck, an dessen Steuer ein Android saß. Ihr Fahrer steuerte den Wagen neben den Truck und hielt an. Er drehte sich um und sagte: »Endstation. Sie steigen hier aus. Gehen Sie zum Ende des Trucks. Man wird Ihnen öffnen.«
Mitten in der Bewegung froren die Bewegungen der Androiden ein, als wäre ihnen der Strom ausgegangen. Alina und Gero stiegen aus und liefen zum Ende des großen Fahrzeugs, wo bereits eine kleine Luke geöffnet worden war, durch die sie hineinklettern konnten. Aus den Augenwinkeln sahen sie, wie der Fahrer des Trucks zwei kleine Bälle in den Wagen warf, mit dem sie gekommen waren. Anschließend kletterte er in seine Fahrerkabine zurück. Sie stiegen nach oben und hörten einen Knall. Aus dem verlassenen Auto stieg erst eine undurchsichtige Wolke auf, dann schlugen Flammen empor.
»Kommen Sie!«, trieb der Mann im Truck sie an. »Wir müssen weg. Ich werd Ihnen alles erklären.«
Sie betraten den geräumigen Innenraum des Lkws, der mit allerlei technischen Gerätschaften angefüllt war. Einige Männer und Frauen saßen an Konsolen und hantierten an rätselhaften Instrumenten herum. Ihr neuer Gastgeber ließ ihnen einen Moment Zeit, sich umzusehen. Er lächelte sie an und reichte ihnen seine Hand. »Mein Name ist Mike Hammersham. Ich leite diese Unternehmung.«
»Darf man fragen, was für eine Unternehmung das sein soll?«, fragte Alina. »Innerhalb von nur zwei Stunden wurde unser Leben komplett auf den Kopf gestellt.«
Hammersham nickte. »Ich verstehe Sie. Wir hatten auch nie die Absicht, so rigoros zu operieren, aber die Entwicklung zwingt uns dazu.«
Gero sah Hammersham prüfend an. »Ich hab Ihr Gesicht schon irgendwo gesehen. Es ging durch die Presse, aber ich kann mich nicht erinnern, worum es ging.«
»Sie haben recht. Es hat eine Zeit gegeben, da war mein Gesicht viel zu oft in den Medien. Ich war es, der die Androidenkörper entwickelt hat. Doch ich war lange nicht so weit, sie als serienreif zu betrachten. Leider hat mich die NT-Seuche förmlich überrollt, und man hat mir die Kontrolle entzogen.«
»Wollen Sie damit sagen, die künstlichen Körper waren noch fehlerhaft?«
Hammersham wiegte seinen Kopf. »Wie man’s nimmt. Sie funktionieren perfekt, sind robust, leistungsfähig und langlebig. Ihre Hirne sind völlig ausreichend, um ein digitalisiertes menschliches Bewusstsein zu verwalten. Das hat die Androiden während der Krise als rettende Lösung für Milliarden von Menschen erscheinen lassen, aber …«
»Aber was?«, fragte Alina.
»… sie sind nicht in der Lage, Gefühle zu empfinden. Wir hatten versucht, sie über eine ganz spezielle Art von Zufallsschaltung so zu gestalten, dass Emotionen simuliert werden, aber wir waren weit davon entfernt, dieses Problem zu lösen. Die Regierungen der Welt aber wollten und konnten angesichts der Seuche nicht warten. Sie sahen nur, dass immer mehr Menschen starben. Man kann es ihnen nicht einmal vorwerfen. Wenn ich die Wahl hätte, ob ich sterben muss oder als Androide weiterleben darf, fällt die Entscheidung nicht schwer. Was jedoch niemand geahnt hat – abgesehen von meinen Leuten und mir –, ist, dass wir uns ein viel größeres Problem geschaffen haben.«
»Wovon reden Sie?«
»Die Logiksektoren der Androidenhirne kompensieren nach einiger Zeit die improvisierte Zufallsschaltung und lassen nur noch logische Gedanken zu. Die scheinbare Emotionalität schwindet, und die Persönlichkeiten in den Androidenkörpern werden immer gefühlskalter. Die meisten von ihnen dürften gegenwärtig nur noch wie Maschinen reagieren. Dabei sind sie hochintelligent und besitzen das gesamte Wissen ihrer ursprünglichen Charaktere. Sie sind auch noch diese Personen, die sie einmal waren, irgendwie – nur: Mit uns Menschen sind sie nicht mehr kompatibel.«
»Was ist mit unseren Ehepartnern?«, fragte Alina. »Überhaupt: Wieso haben Sie uns eigentlich aus dem Polizeiwagen befreit?«
Wagner nickte. »Das wollte ich auch schon fragen.«
Hammersham presste die Lippen aufeinander. »Wie ich schon sagte: Die Androiden sind hochintelligent. Dennoch fehlt ihnen die Fantasie. Sie haben begriffen, dass sie ein langes Leben haben, sich aber nicht weiterentwickeln werden. Sie können repariert werden, bis eines Tages etwas Wichtiges ausfällt – dann sterben auch sie. Sie wissen, dass es ohne uns nicht gehen wird. Nur wir Menschen sind in der Lage, uns fortzupflanzen und dadurch Erneuerung und Veränderung zu bringen. Nun gibt es aber von uns nicht mehr so viele, und daher haben sie beschlossen, uns zu internieren. Sie wollen uns kontrollieren und mit uns ein Zuchtprogramm durchführen. Wir sollen ihr Plan B sein – zu ihren Bedingungen.«
Sie starrten ihn fassungslos an. »Woher wollen Sie das alles wissen?«
Hammersham deutete auf seine Mitarbeiter. »Was glauben Sie, was diese Leute tun? Sie klinken sich in die Kommunikation der Androiden ein. Schließlich haben wir sie entwickelt. Wir haben nur eine einzige Chance: Wir müssen ihnen zuvorkommen. Im Augenblick versuchen unsere Teams, so viele Menschen wie möglich einzusammeln. Ihre Rettung war im Grunde ein Zufall, weil eines unserer Teams beobachtet hat, wie man Sie überprüft und dann festgenommen hat.«
»Sie haben Androidenteams, die das machen?«, fragte Wagner ungläubig.
»Natürlich. Androiden können sich überall frei bewegen. Man sieht ja unseren Teams nicht an, dass sie nur ferngesteuert werden. Wir Menschen können uns keine Verluste leisten, und Androiden sind ersetzbar.«
»Was haben Sie denn jetzt mit uns vor?«
Hammersham wandte sich an einen Mitarbeiter. »Sven, lass den Truck losfahren. Wir halten uns an unseren Plan. Offiziell liefern wir Computerbauteile nach Großbritannien. Wir müssen rechtzeitig auf der Fähre sein.«
Er ließ sich nieder und deutete auf zwei unbesetzte Stühle. »Bitte, setzen Sie sich.«
Alina und Dr. Wagner nahmen Platz.
Für Gero war das noch keine zufriedenstellende Erklärung. »Ich frage noch mal: Was haben Sie mit uns vor?« Er blickte Hammersham erwartungsvoll an.
»Ihnen dürfte klar sein, dass Sie nicht mehr nach Hause zurückkehren können. Die Androiden haben ihre Masken endgültig fallen lassen. Sie haben jetzt die Mehrheit im Parlament und krempeln unseren Staat im Eiltempo so um, wie sie ihn brauchen. Sie beide, Dr. Wagner und Frau Leupert, können wählen: Entweder, Sie werden Zucht- und Kreativpotenzial für einen Androidenstaat, oder Sie kommen mit uns. Wir wollen echte Menschen an einem Ort zusammenziehen und denken dabei an eine Insel.«
»Und welche sollte das sein?«
»Großbritannien.«
Wagner schüttelte den Kopf. »Sie sind verrückt. Sie können doch nicht glauben, einen ganzen Staat einfach übernehmen zu können. Außerdem hat man dort sicher die gleichen Probleme wie wir hier.«
Hammersham wiegelte mit einer Handbewegung ab. »Ich wusste, dass Sie das sagen würden. Natürlich gibt es auch in England Androiden – nicht einmal wenige. Aber trotzdem wird England noch immer von Menschen regiert. Wir haben einen Brückenkopf auf der Insel, und man hat uns versprochen, uns aufzunehmen. Premierminister Breakfield hat uns inoffiziell zugesichert, eine Säuberungsaktion einzuleiten und die Androiden zu separieren.«
Alina horchte auf. »Separieren? Säuberungsaktion? Und was dann? Wollen Sie etwa mehr als die Hälfte der Bevölkerung irgendwo einsperren? Sind wir dann etwa besser als sie?«
Hammersham schlug mit der Faust auf seine Armlehne. »Das sind keine Menschen, sondern Maschinen! Wenn auch Maschinen mit allen Erinnerungen ihrer früheren Identitäten. Aber gebt euch doch nicht der Hoffnung hin, eure Ehepartner würden nur noch das Geringste für euch empfinden. Wenn dieser Tag vorbei ist, wird jeder Android ein potenzieller Gegner sein, der euch sofort für deren Ziele verpfeifen wird, glaubt mir.«
Gero schüttelte den Kopf. »Trotzdem wollen Sie mit ihnen dasselbe tun wie sie mit uns. Natürlich haben Sie einen guten Grund dafür, aber den haben sie auch.«
»Was wollen Sie?« Hammersham war aufgesprungen. »Dann können Sie auch gleich dort hinausmarschieren und rufen: ›Hier bin ich. Ein Mensch. Sperrt mich ein.‹ Erzählen Sie mir nicht, dass Ihnen das gefallen würde!«
Wagner hörte, wie sich das Motorengeräusch veränderte. Der Truck wurde langsamer.
»Was ist los, Sven?«, wollte Hammersham wissen.
»Polizeikontrolle. Davon wird es bis zur Grenze sicher noch ein paar geben.«
Alina und Wagner sahen sich nachdenklich an. Ihre Welt war innerhalb von wenigen Stunden völlig auf den Kopf gestellt worden. Die Männer und Frauen an den Konsolen zogen sich sehr technisch aussehende Helme über den Kopf und bereiteten sich auf das Zusammentreffen mit der Polizeikontrolle vor. Alina fasste Wagners Hand, und er warf ihr einen fragenden Seitenblick zu.
»Entschuldigen Sie, aber mir ist so eigenartig mulmig – und Sie sind das einzig Vertraute in diesem Chaos.«
Wagner drückte ihre Hand leicht. »Ist schon in Ordnung, Alina. Ich denke, ich bin nicht mehr dein Chef. Mir geht es übrigens nicht viel anders als dir.« Leise fügte er hinzu: »Was hältst du von diesem Hammersham?«
»Ich weiß es noch nicht. Er scheint die Androiden jedenfalls als unsere Gegner anzusehen. Trotzdem ist er mir nicht ganz geheuer. Ich kann aber nicht sagen, wieso.«
Gero nickte. »Bis jetzt sieht zugegebenermaßen alles danach aus, als habe er recht. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich wohl bei dem Gedanken fühle, von ihnen interniert zu werden.«
»Umgekehrt ist es allerdings derselbe Irrsinn. Wir können auch nicht Millionen von Androiden behandeln wie Altmetall und sie irgendwo verschwinden lassen. Ich hab ja begriffen, dass mein Mann Kevin nicht mehr die Person ist, in die ich mich mal verliebt habe, aber ich könnte es auch nicht ertragen, ihm etwas anzutun.«
Gero nickte. »So seh ich das auch. Ich weigere mich, Lisa als Feind zu betrachten.«
Der Truck war inzwischen zum Stillstand gekommen. Über einen Bildschirm konnten sie verfolgen, wie der Fahrer ausstieg und mit den Beamten der Polizeikontrolle sprach.
»Sie müssen sich wirklich keine Sorgen machen«, sagte eine junge Frau, die zu ihnen getreten war. »Mein Name ist June. Ich bin Mikes Nichte. Er wird uns hier herausbringen – darauf können Sie sich verlassen.«
»Ich bin mir nur nicht sicher, ob das der richtige Weg ist«, sagte Gero. »Man kann es drehen und wenden, wie man will, es läuft in jedem Fall auf eine Auseinandersetzung zwischen Menschen und künstlichen Lebensformen hinaus. In Deutschland wollen die Andros uns internieren und züchten, in England wollen wir uns ihrer entledigen. Sagen Sie selbst: Das klingt doch nach Krieg – einem richtig schmutzigen Krieg.«
June setzte sich zu ihnen. »Sie sehen das sicherlich zu schwarz. Für Sie mag es so aussehen, als käme eine Art Bruderzwist auf uns zu, aber wir haben Optionen, die uns helfen könnten, das zu verhindern.«
Alina hob ihre Brauen. »Optionen? Was meinen Sie?«
June lehnte sich zurück und blickte in nach links und rechts, als suche sie jemanden. Schließlich beugte sie sich zu ihnen vor und senkte ihre Stimme. »Mein Onkel hat diese Androiden geschaffen, und er ist nicht glücklich mit ihnen geworden. Sie hatten noch Fehler, und ausgerechnet seine Frau hat das mit ihrem Leben bezahlt. Als bei ihr die Krankheit ausbrach, transferierte er ihr Bewusstsein in einen neuen Körper. Dabei ging etwas schief, und ihr Ego wurde zerstört. Das hat ihn völlig verändert. Ich fürchte, er führt einen ganz privaten Feldzug gegen seine eigenen Schöpfungen.«
Gero nickte. »Den Eindruck habe ich auch. Nur, dass es im Grunde nicht seine Schöpfungen sind, gegen die er kämpft, sondern es sind die in sie transferierten Persönlichkeiten, also Menschen, die er damit eigentlich retten wollte.«
»Genau«, stimmte June zu. »Dabei ist er nicht ganz ehrlich zu Ihnen gewesen. Er hat doch sicherlich von der Zufallsschaltung erzählt, die er den Andros eingebaut hat. Sie erwies sich als völlig untauglich, da die Rechner in den Köpfen der Andros diese zufälligen Signale als Fehlerquellen erkannt und neutralisiert haben.«
Sie griff in ihre Jackentasche und zog einen durchsichtigen Behälter hervor, in dem ein kleiner, quadratischer Chip steckte. »Aus diesem Grunde haben mein Bruder und ich etwas entwickelt, aber mein Onkel will nichts davon wissen, die Androiden zu verbessern. Er will sie nur noch absondern. Deshalb haben wir ihm auch nichts von unserer Forschung verraten.«
Gero nahm den Behälter in die Hand und betrachtete ihn. »… und was ist das?«
»Ein Emotions-Chip. Wenn er funktioniert, könnte er die Lösung unserer Probleme darstellen.«
»Dieses kleine Ding soll den Androiden ihre Emotionen zurückbringen?«, fragte Alina. »Echte Emotionen? Mein Mann würde wieder etwas für mich empfinden?«
»So einfach ist das nicht«, schränkte June ein. »Es ist ein Prototyp, wegen der Argusaugen meines Onkels ist es uns bislang nicht gelungen, ihn an einem Androiden zu testen. Wenn er das kann, was Jake und ich annehmen, werden alle Denkprozesse über diesen Chip geleitet, und er verändert die linearen androiden Datenströme nach einem ausgefeilten Algorithmus. Es müsste dem Betroffenen und seiner Umgebung wie echte Emotionen erscheinen. Ich kann natürlich nicht garantieren, dass es genau dieselben sein werden wie vor der Transferierung in den Androidenkörper. Dazu sind die Vorgänge in einem biologischen menschlichen Gehirn einfach zu komplex. Aber es wäre ein Anfang.«
Der Truck ruckte an. Die Beamten hatten die Papiere geprüft und den Weg freigegeben. June blickte hektisch an der Reihe der Computerkonsolen entlang. »Mike wird gleich zurück sein.«
Gero sah June forschend an. »Was erwarten Sie von uns, June?«
»Ich habe insgesamt vier Prototypen. Wenn mein Onkel auch nichts davon wissen will: Mein Bruder und ich müssen einfach Sicherheit haben, ob unsere Entwicklung funktioniert. Sie beide haben Ehepartner, die im Moment sicher nicht kooperativ sind. Wenn Sie bereit wären, ihnen diese Chips einzusetzen, wüssten wir, wer recht hat.«
»Und wie soll das funktionieren?«
In diesem Moment kam Hammersham von der Kontrollkonsole zurück. »Oh, ihr habt euch schon mit meiner Nichte bekannt gemacht. June ist eine hervorragende Technikerin. Ich bin froh, sie und ihren Bruder Jake hier zu haben.«
June lächelte gequält und erhob sich. »War nett, mit Ihnen zu plaudern. Ich geh zurück an meine Konsole.«
Hammersham blickte ihr nachdenklich hinterher. »Was wollte Sie von euch?«
»Nichts Besonderes«, sagte Alina harmlos. »Sie wollte wissen, wer wir sind, und hat uns verraten, dass Sie ihr Onkel sind.«
Der Truck fuhr noch eine Stunde weiter, dann lenkte der Fahrer ihn auf einen Truckstopp, wo er die Nacht über verbleiben sollte. Die offizielle Begründung für die Androidenkontrolleure war, dass die Batterien des Fahrers aufgeladen werden mussten. Tatsächlich brauchte die Mannschaft dringend ihre Nachtruhe. Man wies Gero und Alina eine winzige Doppelkabine zu, in der sich ein viel zu schmales Bett befand.
»Da sollen wir zusammen hineinkrabbeln?«, fragte Alina. »Die wissen doch, dass wir kein Paar sind.«
Gero sah sich um. »Ich würd ja hier draußen schlafen, aber es gibt keine Sitze, die dazu geeignet wären. Meinst du nicht, es würde für eine Nacht gehen?«
Sie stimmte zu, doch Gero sah ihr an, dass ihr das nicht gefiel. Schlafbekleidung besaßen sie nicht, und so krochen sie in ihrer Unterwäsche unter die schmale Decke ihrer Schlafkoje. Trotz der Enge schlief er bald ein.
Ein Geräusch weckte ihn mitten in der Nacht. Jemand flüsterte: »Aufwachen.«
»Was gibt’s denn?«
Neben ihm hob auch Alina verschlafen den Kopf.
»Ich bin’s. June. Mein Bruder ist auch hier. Wir müssen etwas wissen: Wie wichtig ist es euch, dass eure Partner wieder normal werden?«
Alina setzte sich auf. »Ich würde alles dafür tun.«
»Okay, dann zieht euch leise an. Wir verschwinden von hier.«
Jetzt war auch Gero hellwach. »Was soll das werden?«
Ein Gesicht erschien in der Öffnung ihrer Koje. Die Ähnlichkeit mit June war unverkennbar. Es musste sich um ihren Bruder handeln. »Wir schleichen uns fort. Wir fahren mit euch zu euren Partnern und versuchen, ihnen unsere Chips einzusetzen. Unser Onkel würde es nie zulassen.«
»Und wenn sie uns schnappen?«
»Das Risiko müssen wir eingehen. Wenn es gelingt, wird unsere Zukunft vielleicht etwas rosiger aussehen.«
Gero und Alina zogen sich in Windeseile an, während die Geschwister auf sie warteten. Jeder von ihnen hatte einen Rucksack dabei.
»Ihr braucht nichts mitzunehmen. Wir haben alles dabei.«
Jake schlich zum Hecktor des Trucks und besprühte alle Scharniere mit Silikonöl, damit sie keine Geräusche verursachten. Nahezu lautlos schwang die Klappe auf, und er sprang hinaus. Alina und Gero folgten ihm, benutzten jedoch die Leiter. Als Letzte kam June hinterher, die vorsichtig die Heckklappe verschloss.
»Und wie geht es jetzt weiter?«, fragte Alina.
Jake deutete auf einen Wagen, der unbeleuchtet in der Nähe geparkt stand. »Das ist unser Taxi. Elektromotor. Unverschlossen. Ich war vorhin schon mal unterwegs und hab ein wenig recherchiert. Dieser Wagen ist nicht abgeschlossen und der Zugang zum Bordcomputer nicht codiert. Es ist ungeheuerlich, wie leichtsinnig manche Menschen sind. Uns kommt es natürlich entgegen.«
Gero schüttelte den Kopf. »Damit kommen wir keine zehn Kilometer weit. Sobald man bemerkt, dass er gestohlen ist, haben sie uns über den Transponder sofort.«
Jake lächelte und zog einen kleinen schwarzen Kasten aus der Tasche. »Meinst du dieses Ding hier? Die Karre ist sauber, glaub mir. Aber jetzt sollten wir verschwinden.«
Sie bestiegen das kleine Fahrzeug, und Jake setzte sich ans Steuer. Nur Augenblicke später begann der Motor zu summen, und der Wagen fuhr los.
»Wird euer Onkel nicht ärgerlich sein, wenn er bemerkt, dass wir fort sind?«
June lachte laut. »Ärgerlich? Toben wird er, aber es wird ihm nichts nützen.«
Jake lenkte den Wagen auf die Autobahn und schlug die Richtung ein, aus der sie gekommen waren. Zu dieser nächtlichen Stunde waren die Straßen fast frei, und es gab auch keine Polizeikontrollen, die sie behinderten. Es war noch dunkel, als sie Berlin erreichten, und die Stadt sah aus wie immer. Nichts deutete darauf hin, dass die Welt sich verändert hatte. Die Straßenbeleuchtung brannte, vereinzelte Autos fuhren über den Asphalt, der vom nächtlichen Tau feucht war und glänzte.
»Wo muss ich jetzt hin?«, fragte Jake.
»Alina wohnt in Spandau«, sagte Gero. »Fahr zuerst dorthin. Alina wird dich lotsen.«
Sie erreichten das Mietshaus, in dem sie mit ihrem Mann wohnte, und parkten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Gebäude wirkte wie ausgestorben, aber um diese Uhrzeit war das nicht ungewöhnlich.
»Wie gehen wir jetzt vor?«, fragte June und holte den ersten Prototyp des Emotions-Chips heraus.
»Wir müssen irgendwie hinein und Kevin ablenken«, schlug Alina vor. »Er wird nicht damit rechnen, mich wiederzusehen, nachdem er erfahren hat, dass wir festgenommen worden sind. Wie kommt der Chip denn überhaupt zum Einsatz?«
»Das ist der Haken an der Sache«, sagte Jake. »Wir müssen deinen Mann abschalten, um an die zentrale Platine zu gelangen. Am Hinterkopf befindet sich eine kleine Klappe, die von künstlicher Haut überzogen ist. Darunter befindet sich die Platine, auf der ein paar Sockel sitzen. In einen davon passt unser Chip. Wenn es uns gelingt, Kevin zu überwältigen, kann ich die Klappe öffnen und den Datenstrom zur Zentraleinheit unterbrechen. Man könnte dann sagen, er stürzt ab. Anschließend würde ich ihm den Chip einsetzen und sein System rebooten. Wenn alles geklappt hat, wird er uns anschließend nicht mehr als Gegner gegenüberstehen. Wenn nicht – muss ich ihn wieder abschalten, und wir sollten schleunigst verschwinden.«
Er sah Alina fragend an. »Und? Alles bereit, oder bekommst du kalte Füße?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
»Okay, dann los.«
Sie schlichen die Stufen des Hausflurs empor und blieben vor Alinas Wohnungstür stehen.
Jake nahm eine Taschenlampe und leuchtete die Wände ab. »Ich liebe diese alten Häuser. Sicherungskasten auf dem Flur. Besser geht’s nicht.«
Mit einer entschiedenen Bewegung kippte er alle Sicherungen von Alinas Wohnung in die Aus-Stellung. Hinter der Tür sollten nun sämtliche Kommunikationssysteme sowie das Ladegerät für Kevins Körper ausgefallen sein.
Jake gab den anderen ein Zeichen. »Bleibt dicht an der Wand. Er kommt sicher gleich heraus und sieht nach dem Rechten. Das funktioniert fast immer – auch bei echten Menschen wie uns.«
Sie brauchten nicht lange zu warten, bis sie das Türschloss hörten und ein hochgewachsener Mann in der Türfüllung erschien. Es war dunkel im Hausflur, doch das störte einen Androiden nicht.
»Wer sind Sie?«, fragte Kevin. »Es ist fünf Uhr zweiunddreißig. Zu früh für Besuch.«
»Ich komme vom Elektrizitätswerk. Es gab da ein Problem mit Ihrer Leitung.«
»Unsinn. Das ist nicht logisch. Ich werde die Polizei rufen.«
»Das wirst du nicht, Kevin!«, rief Alina, und Kevin fuhr blitzartig zu ihr herum.
»Alina. Wie kannst du hier sein? Du solltest schon auf dem Weg zur Sammelstelle sein.«
Ein Androide ist äußerst reaktionsschnell, und so, dachte Gero, wird Kevin sofort erfassen, dass Alina nicht allein gekommen ist, sondern dass er es mit vier Individuen zu tun hat und Unterstützung benötigt.
Jake gab ein Zeichen, und alle griffen gleichzeitig zu, um Kevin festzuhalten, der sich mit der übermenschlichen Kraft eines Androiden dagegenstemmte. Jake nahm ein kleines Messer und schnitt die Synthetikhaut in Kevins Nacken auf. Die Klappe wurde sichtbar. Kevin wehrte sich nun heftiger, und Gero und die Frauen hatten Probleme, ihn unter Kontrolle zu halten. Jake zog an der Klappe und bekam sie endlich auf. Darunter kamen drei farbige Kabel zum Vorschein, die in Sockeln auf der Platine endeten. Jake zögerte nicht und zog die Stecker ab.
Von einem Moment zum anderen wurde Kevin steif und begann zu kippen. Mühsam legten sie ihn gemeinsam auf den Boden.
»Wir sollten ihn in die Wohnung schleifen«, schlug Gero vor. »Wenn jemand von den anderen Mietern aufmerksam wird, haben wir ein Problem.«
Sie fassten ihn unter den Armen und zogen mit aller Kraft. Ein Androidenkörper war deutlich schwerer als ein normaler Mensch, doch nach einigen Versuchen hatten sie ihn in der Diele und konnten die Wohnungstür verschließen.
Alina sah ängstlich auf ihren Mann hinunter. »Ihr seid sicher, dass wir ihn wieder einschalten können? Er wird keinen Schaden erlitten haben?«
»Nein«, sagte Jake. »Dein Kevin ist ein Computer. Er startet gleich durch und ist wieder da – hoffentlich mit funktionierendem Chip.«
Er fummelte den kleinen Chip mit spitzen Fingern aus der Verpackung und drückte ihn in den passenden Sockel im Schädel des Androiden. »So, das war’s. Gleich wissen wir, ob es geklappt hat, oder ob alles umsonst war.«
Er steckte die Stecker der Kabel wieder in die Sockel und verschloss die Klappe. Den Hautlappen konnte man später immer noch mit bioaktiver Masse verkleben.
In Kevins linkem Auge blinkte eine winzige Leuchtdiode zum Zeichen, dass der Rechner neu startete. Es dauerte fast zehn Minuten, bis der Körper sich zu bewegen begann. Kevin richtete seinen Oberkörper auf und blickte die vier an.
»Alina? Dr. Wagner? Was machen Sie hier? Wer sind die anderen?«
Alina kniete sich neben ihn. »Wie geht es dir?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas ist anders. Ich weiß noch, dass ich die Nachricht bekam, dass sie dich wegbringen. Sie werden alle wegbringen. Menschen müssen unseren Fortbestand sichern.« Er schwieg einen Moment und bekam einen fragenden Gesichtsausdruck. Das war weitaus mehr an Emotion, als Alina in den vergangenen Wochen bei ihm zu sehen bekommen hatte.
»Was rede ich da? Wieso sollte ich wollen, dass sie dich wegbringen? Es ist gut, dass du zurückgekommen bist.«
Alina strich ihm gedankenverloren eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Meinst du auch, was du sagst?«
»Warum sollte ich nicht meinen, was ich sage?« Er schwieg einen Moment. »Mein Gott, ich bin so froh, dass du wieder da bist.«
Alina warf sich an Kevins Brust, der sogleich seine Arme um sie legte und sie sanft an sich drückte. Jake und June beobachteten die Szene kritisch und nickten sich zu. Gero, der die stumme Kommunikation mitbekommen hatte, fragte: »Ist das jetzt als Erfolg zu werten? Können wir auch meiner Frau diesen Chip einsetzen?«
»Es sieht zumindest so aus«, sagte June zögernd. »Er reagiert, wie wir es uns erhofft haben. Es kann aber auch sein, dass die Androiden beschlossen haben, uns Gefühle vorzuspielen, um ihre Ziele zu erreichen.«
»Wie können wir herausfinden, was wirklich mit ihm los ist?«
Kevin hatte mitbekommen, dass sie über ihn sprachen, und löste sich von Alina. »Sie müssen nicht reden, als wäre ich nicht hier. Sie können mich auch ruhig direkt fragen, wenn Sie etwas wissen möchten.«
Jake nickte. »In Ordnung. Kevin, wir sind gekommen, um Ihnen einen Chip einzubauen, der Sie … menschlicher machen soll, als Sie bisher waren. Sie tragen inzwischen diesen Chip, und vorhin äußerten Sie, etwas wäre anders. Können Sie uns schildern, was Sie damit meinen?«
Kevin schien zu überlegen. Allein das deutete darauf hin, dass sein Zentralrechner mit widersprüchlichen Signalen fertig werden musste. »Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. In den letzten Wochen wusste ich immer ganz genau, was ich tun musste – was richtig war. Jetzt scheint in meinem Kopf alles durcheinander zu sein. Es ist verwirrend. Als hätte ich wochenlang nicht richtig gelebt, sondern nur Befehlen von außen gehorcht.«
»Was empfinden Sie, wenn sie Alina ansehen?«, fragte June. »Werden Sie Ihre Frau den Behörden übergeben, so wie es geplant war?«
Kevins Kopf ruckte herum. »Sind Sie verrückt? Das kommt nicht infrage. Wir müssen uns was überlegen, wie wir sie in Sicherheit bringen können.«
»Das wollte ich wissen. Man kann das nur als echte Emotion bezeichnen.«
»Sie sollten mit uns kommen«, schlug Jake vor. »Der Emotions-Chip mag zwar die Lösung für unser Problem sein, aber im Moment befinden wir uns immer noch in Feindesland. Wenn die Androiden uns schnappen, wird uns niemand helfen können, und wir werden interniert.«
»Wie soll es denn weitergehen?«, fragte Kevin interessiert.
»Meine Frau soll den Chip auch bekommen«, forderte Gero. »Ich hatte Lisa schon aufgegeben, aber wenn noch Hoffnung besteht …«
»Wir machen uns gleich auf den Weg«, sagte Jake. »Je eher wir unsere Aktion durchziehen, umso eher können wir auch verschwinden. Wir werden ins Ausland gehen müssen. Mein Onkel will nach England, und ich denke, dass das keine schlechte Idee ist. Dort existiert eine fortgeschrittene Industrie, und wir könnten unseren Chip dort produzieren. Wenn wir uns beeilen, können wir Mike vielleicht überzeugen, seinen harten Kurs zu vergessen und stattdessen zu versuchen, die Androiden zu fühlenden Wesen zu machen.«
Dr. Wagner sah Kevin misstrauisch an. »Ich bin noch nicht ganz überzeugt.«
Alinablickte verstört auf. »Wie meinst du das?«
»Nun … Kevin ist körperlich wie geistig noch immer ein Roboter. Wir haben ihm einen Chip eingesetzt, der seine linearen Denkprozesse zerfasert, sie unpräzise macht – und das nach einem ausgeklügelten Zufallsprinzip. Es sind aber noch immer die binären Rechenprozesse einer Maschine, oder etwa nicht?«
Jake nickte. »So ist es. Seine Emotionalität ist eine Simulation. Aus Sicht eines Computerexperten hat Kevins Zentraleinheit nun einen Defekt. Dieser Defekt macht ihn menschlicher. Ich muss aber gestehen, dass ich nicht sicher war, ob diese Simulation auch seine frühere Ehefrau als Bezugsperson mit einschließt. Es ist keinesfalls sicher, dass es bei deiner Frau auch funktioniert.«
Gero nickte. »Das hab ich mir gedacht. Alina hatte Glück, aber das muss nicht bedeuten, dass ich Lisa noch etwas bedeute, wenn sie den Chip trägt.«
»Nein, das muss es nicht. Aber wir sollten jetzt los!«
»Moment. Das wird uns helfen.« Kevin packte ein paar Papiere zusammen und steckte Geld ein.
Zu fünft verließen sie das Haus und zwängten sich in das Elektroauto, mit dem sie gekommen waren. Inzwischen war es hell geworden, und die Straßen wurden belebter. Androiden und, vereinzelte Menschen bevölkerten die Gehwege. Deutlich mehr Autos als zuvor waren unterwegs.
Jake reihte den Wagen in den fließenden Verkehr ein. »Jetzt könnte uns natürlich durchaus eine Polizeikontrolle in die Quere kommen. Drückt die Daumen, dass wir durchkommen.«
»Ich bin ja auch noch da«, sagte Kevin. »Ich bin Android und würde denen schon eine Geschichte auftischen.«
Alina sah ihn von der Seite an. »Das hättest du noch vor ein paar Stunden nicht gesagt. Was bin ich froh, meinen Mann wiederzuhaben.« Sie griff nach seiner Hand.
Kevin grinste. »Ich bin auch nicht unzufrieden, dass ihr mich zu meinem Glück gezwungen habt.«
Jake gab sich alle Mühe, ihr Fahrzeug unauffällig durch den Verkehr zu steuern. Das war nicht einfach, da die meisten Autos inzwischen von Androiden gelenkt wurden und der Verkehr regelmäßig wie computergesteuert durch die Stadt rollte. Schließlich erreichten sie das Haus der Wagners, wo sie auf Lisa zu treffen hofften. Jake parkte den Wagen ein paar Meter vom Haus entfernt, um erst mal zu beobachten, ob es Schwierigkeiten geben könnte. Ein Streifenwagen stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Von den Beamten war nichts zu sehen.
»Wir sollten warten, bis dieses Polizeiauto verschwunden ist«, sagte Gero. »Es wäre keine gute Idee, in mein Haus zu stürmen, während sich Androiden-Polizisten in der Nähe befinden.«
Jake überlegte. »Die Frage ist, warum sie überhaupt hier sind und in welchem Haus sie stecken. Das sind doch alles Einfamilienhäuser. Keine Gegend, in der man Probleme mit der Polizei erwartet.«
Während sie noch überlegten, öffnete sich die Tür zu Geros Haus, und Lisa trat mit zwei Beamten in den Vorgarten. Die Uniformierten liefen zu ihrem Wagen, während Lisa ihnen hinterherblickte.
»Kevin, du als Android …«, sagte Jake. »Kannst du Funkgespräche zwischen ihnen auffangen?«
Kevin schüttelte den Kopf. »Was immer sie besprochen haben – es muss vor unserer Ankunft geschehen sein.«
Der Streifenwagen fuhr weg, und Lisa kehrte ins Haus zurück.
»Was tun wir jetzt?«, fragte June.
Gero deutete auf das Anwesen. »Es gibt einen Hintereingang. Der ist zwar in der Regel verschlossen, aber ich hab den Schlüssel.« Er zog einen Schlüsselbund aus der Tasche.
»Ein mechanischer Schlüssel?«, fragte Jake ungläubig. »Ich wusste nicht, dass es überhaupt noch solche Schlösser gibt.«
»Okay«, sagte June. »Jake und Gero schleichen sich zum Hintereingang und öffnen leise die Tür. Alina, Kevin und ich klingeln an der Vordertür. Während wir sie ablenken, überwältigt ihr sie von hinten.«
Sie schauten sich noch einmal um, ob sie beobachtet wurden. Jake nickte Gero zu. »Dann los!«
Sie teilten sich auf wie besprochen. Gero hielt den Schlüssel zur Hintertür in der Hand und führte ihn vorsichtig ins Schloss, sobald sie dorthin geschlichen waren.
Jake verfolgte es mit skeptischem Blick. »Ich traue diesen Dingern nicht. Mir wäre ein klassisches Elektronikschloss mit Scanner lieber.«
»Du tust diesen alten Dingern Unrecht. Seit alles nur noch elektronisch ist, sind die alten Schlösser sicherer denn je. Kennt sich ja kaum noch einer damit aus. Halt lieber schon mal dein Werkzeug griffbereit.«
Sie warteten, bis Jakes Mobiltelefon ein kurzes Signal abgab. Er nickte. »Los! Sie ist jetzt vorn an der Tür. Das war June.«
Gero ließ das Schloss leise aufschnappen und drückte gegen die Tür, die mit einem leichten Knarren aufschwang. Er blickte in den Korridor, an dessen Ende er eine Gestalt ausmachte, die ihnen den Rücken zuwandte – seine Lisa! Sein Herz schlug schneller. Mit raschen Schritten schlich er mit Jake an seiner Seite durch den Korridor. Auf dessen Zeichen hin warfen sie sich von hinten gegen seine Frau, die davon völlig überrascht wurde. Wie ein gefällter Baum fiel sie um und stürzte mit dem Gesicht auf den Boden. Die anderen konnten eben noch zur Seite ausweichen. Jake setzte sich sogleich auf Lisas Rücken und ritzte ihr die Kopfhaut im Nacken auf. Kevin stellte ihr einen Fuß auf den Kopf und hinderte Lisa daran, aufzustehen. In wenigen Augenblicken hatte Jake Lisas Körper stillgelegt und setzte ihr ebenfalls einen seiner Chips ein. Anschließend nahm er ein paar Kunststoffbänder aus seiner Tasche und fesselte Lisas Arme auf den Rücken. »Sicher ist sicher«, sagte er, als er den letzten Stecker wieder anschloss und damit Lisas Zentraleinheit starten ließ.
Nach kurzer Zeit begann sich Lisas Körper zu bewegen. »Ich bin gefesselt. Machen Sie mich sofort los!«
»Das klingt nicht sonderlich emotional«, sagte Gero.
Lisa wälzte sich auf den Rücken und sah ihn an. »Gero. Ich hätte es wissen müssen. Nur so bald hatte ich nicht mit dir gerechnet.«
»Du hast mit mir gerechnet?«, wunderte sich Gero.
»Natürlich. Nach dem Überfall auf Kevin Leupert war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr hier auftauchen würdet. Zum Glück konnten wir rechtzeitig reagieren.«
June trat einen Schritt vor. »Hier stimmt doch etwas nicht. Woher weiß sie von unserem Überfall auf Kevin?« Sie sah Kevin direkt an. »Hast du uns etwas mitzuteilen?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, was hier vorgeht. Aber ich kann feststellen, dass dieser Androidenkörper dort verschlüsselte Mitteilungen sendet.«
»Sie sendet?«, fragte Jake entsetzt. »Dann müssen wir schleunigst hier weg!«
»Ihr Narren!«, rief Lisa. »Dachtet ihr wirklich, ihr könntet das System überlisten? Wir Androiden sind vernetzt. Bald wird Verstärkung eintreffen, und dann ist es vorbei mit eurer naiven Aktion. Und jetzt macht mich endlich los!«
June zog eine Waffe hervor. Gero stockte der Atem. »Nein, nicht!« Er spürte Tränen aufsteigen. »Was hast du vor? Sie ist meine Frau!«
Bei seinen Worten strampelte Lisa noch heftiger. »Das ist euer Ende!«
June richtete die Pistole auf ihre Hüfte. »Nicht so voreilig, du Maschine. Zu deinem Pech kenne ich den Aufbau eines Androiden sehr genau.« Sorgfältig zielte sie und schoss. Ein Loch klaffte in der Kunststoffhülle des Körpers. Sie wandte sich an Kevin: »Sendet sie noch immer?«
»Nein. Es hat aufgehört.«
»Ihr habt die Steuerung meines linken Beins zerstört«, sagte Lisa vorwurfsvoll.
»Belanglos!«, urteilte Jake. »Wichtig ist, dass du nicht mehr senden kannst.«
Sie griffen Lisa, trugen sie gemeinsam zum Auto und setzten sie auf den Rücksitz. Gero pflanzte sich neben sie, und weil sie nun zu sechst waren, quetschte sich Kevin dazu und nahm Alina auf den Schoß. Die Geschwister saßen vorn. Gero betrachtete seine Frau. Sie sah zwar aus wie seine Frau, doch ihr Wesen war ihm vollkommen fremd.
»Wir haben dir den Chip eingesetzt«, sagte er. »Warum wirkt er bei dir nicht?«
»Ich wurde immunisiert. Ihr habt die beiden Beamten doch sicher gesehen. Dieses Stück Hardware kann mir nichts anhaben.«
»Aber was hat das alles zu bedeuten?«, wollte Gero wissen. »Es muss doch ein Plan hinter allem stecken.«
»Von mir werdet ihr nichts mehr erfahren. Ihr könnt mich zu nichts zwingen.«
June wandte sich vom Vordersitz um. »Können wir das nicht?« Sie hielt wieder ihre Waffe in der Hand. Diesmal zielte sie genau auf Lisas Kopf. »Wir möchten erfahren, was ihr plant – und wieso du über uns und unsere Aktion Bescheid gewusst hast.«
»Es würde dir nichts nützen, mir in den Kopf zu schießen. Den Körper kann man ersetzen, und von mir gibt es Back-ups.«
»Du kannst nicht sicher sein, wiederhergestellt zu werden. Es kann auch dein endgültiger Tod sein. Überleg es dir.«
Lisa schwieg eine Weile. Schließlich gab sie nach. »Gut. Du hast recht. Ich will meine Existenz nicht gefährden. Mein Grundprogramm rät mir, mit euch zusammenzuarbeiten, bis sich die Prämissen ändern.«
June winkte mit der Waffe. »Los! Woher hast du deine Informationen? Warum weiß Kevin es nicht?«
»Kevin ist kein Android meines Levels. Er benötigt diese Informationen nicht. Nur Level-1-Androiden sind in den Gesamtkontext eingebunden. Wir sind für den reibungslosen Ablauf der Übernahme zuständig. Ihr würdet sagen, Kevin ist eine Drohne, die für einfache Aufgaben eingesetzt wird.«
»Was ist der Gesamtkontext?«
»Androiden sind in Europa in der Überzahl. Deshalb steht es uns zu, über die Geschicke aller zu bestimmen. Bios sind allerdings von entscheidender Bedeutung für den Fortbestand der Menschheit. Sie müssen geschützt und behütet werden. Wir benötigen viel Fachwissen von Bios und sammeln Menschen mit benötigten Eigenschaften. Menschen brauchen beispielsweise menschliche Ärzte, denn sie würden Androiden nicht akzeptieren. Also rekrutieren wir medizinisches Personal und natürlich viele andere Berufsgruppen.«
»Und wie soll das funktionieren? Wo wollt ihr uns unterbringen?«
»Das wurde von Level-0 noch nicht endgültig entschieden.«
June und Gero blickten sich fragend an. »Wer oder was ist Level-0?«
Lisa antwortete mechanisch, ohne dass sich in ihrem Gesicht etwas regte. »Level-0 macht den Plan, dem wir folgen. Level-0 wird uns Androiden den Platz einräumen, der uns zusteht. Sobald wir Großbritannien befriedet haben, wird es eine ewige Herrschaft der Androiden geben, und es wird zum Nutzen aller sein.«
»Ich verstehe immer weniger«, sagte Alina zu June. »War es nicht so, dass dein Onkel nach England wollte, um dort einen Hort der Menschen zu schaffen?«
»So ist es«, bestätigte sie. »Und ich hätte jetzt gern gewusst, welches Interesse ihr an Großbritannien habt? Reicht euch das Festland etwa nicht aus?«
»Natürlich reicht uns das Festland – zunächst. Level-0 hat andere Gründe. In Großbritannien existiert die Datenbank mit den DNA-Sätzen aller erfassten erkrankten Menschen, die einen neuen Körper erhalten haben. Diese Datenbank ist das Ziel. Sie muss zerstört werden.«
»Was soll denn dieser Schwachsinn?« Gero konnte es nicht fassen. »Diese Datenbank existiert seit Jahren und hat niemanden interessiert. Wieso jetzt? Und wer hat ein Interesse daran, diese Daten zu vernichten?«
»Die DNA-Datenbank hatte bisher nur den Status einer Dokumentation, doch hat sich die Situation geändert, seit es englischen Forschern in Cambridge gelungen ist, Biomasse zu erzeugen, die leere DNA-Ketten enthält. Man kann sie durch die Informationen aus der Datenbank füllen und aktivieren.«
Alina schaute sie fragend an. »Ich verstehe nicht, was daran so interessant ist.«
»Dadurch ist es grundsätzlich möglich, Klone der verstorbenen Körper von Transferierten zu erzeugen. Es besteht die Gefahr, dass die Menschen eines Tages an einer Re-Transformation des Bewusstseins von Androiden in biologische Körper arbeiten. Wir wollen verhindern, dass so etwas geschieht. Level-0 hat uns den klaren Befehl erteilt, alles zu tun, was nötig ist.«
»Ich nehme an, dass Level-0 ein Android ist?«, fragte Gero. »Vermutlich ein besonders fähiges Exemplar?«
Lisa schüttelte den Kopf. »Level-0 ist ein Bio. Ein Bio, dem wir viel zu verdanken haben und der uns helfen wird, die Herrschaft über diesen Kontinent zu erlangen.«
»Hat dieser Bio auch einen Namen?«
Sie nickte. »Sicher. Es dürfte auch keine Rolle mehr spielen, ob ihr ihn kennt oder nicht. Inzwischen müsste er mit der Zentrale schon beinahe an der Küste sein. Er heißt Mike Hammersham.«
»Hammersham?«, riefen June und Jake wie aus einem Mund. »Das kann nicht sein. Er ist unser Onkel und kämpft gegen die Herrschaft der Androiden.«
»Er hat uns geschaffen«, sagte Lisa. »Er wird uns nicht im Stich lassen. Er wird an unserer Spitze diesen Kontinent regieren. Euch spielt er nur seine Rolle vor, damit ihr ihm helft, sein Ziel zu erreichen. Sobald sein Truck, der unsere Zentrale ist, britischen Boden erreicht hat, wird unser Kampf beginnen.«
»Ich fass es nicht!«, sagte June. »Hätten wir nicht bemerken müssen, dass er uns alle nur getäuscht hat?«
Jake wiegte seinen Kopf. »Vielleicht waren wir nur zu nah dran und wollten es nicht wahrhaben? Hat er mal was gesagt, das uns hätte stutzig machen müssen?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Jetzt, wo ihr wisst, dass es keinen Ausweg mehr für euch gibt, könnt ihr mich von meinen Fesseln befreien«, sagte Lisa. »Lasst mich die Behörden verständigen. Man wird euch nichts antun. Wir brauchen euch schließlich, und das Leben in einem Menschenreservat wird euch gefallen, wenn ihr euch erst daran gewöhnt habt.«
»Halt einfach deine Klappe!«, rief Gero. Das, was da neben ihm saß, hatte gar nichts mehr mit Lisa zu tun.
Die Androidin verzog ihren Mund zu einem ausdruckslosen Lächeln. »Du hast dich noch nie mit dem Unvermeidbaren abfinden können. Wir werden dir beibringen, es zu lernen. Du bist Arzt und wirst wieder praktizieren können. Ist es nicht das, was du dir immer gewünscht hast?«
Gero sah sie nachdenklich an. »Ihr glaubt wirklich, was ihr sagt, nicht wahr?«
»Das hat nichts mit Glauben zu tun. Wir besitzen das Wissen unserer früheren unzulänglichen Menschenkörper, ohne durch einschränkende Emotionalität behindert zu sein. Wir sind in einem Maße effizient, wie ihr es euch nicht vorstellen könnt. Gebt auf. Wir werden uns gut um euch kümmern.«
»Indem ihr uns als Zuchtvieh in einen goldenen Käfig sperrt? Niemals!«
»Ihr habt ein völlig falsches Bild von der neuen Ordnung. Wir gewinnen alle dadurch. Es sichert unser aller Fortbestand. Was kann daran falsch sein?«
Gero schüttelte den Kopf. »Die Art und Weise, wie es geschieht, ist bereits falsch. Wir werden da nicht mitspielen.«
»Wenn ich mir überlege, dass ich bis vor Kurzem genauso gedacht habe, wird mir übel«, sagte Kevin. »Wie kann sie überhaupt immun gegen den Emotions-Chip sein?«
June nickte. »Das ist eine verdammt gute Frage. Unser Chip ist ein Prototyp, und mein Onkel weiß nichts davon. Selbst, wenn er es wüsste … Er konnte auf keinen Fall die Wirkungsweise unserer Programmierung kennen. Also gibt es auch keine Möglichkeit, unsere Routinen zu neutralisieren.«
»Aber Lisa hat definitiv nicht auf unseren Chip angesprochen«, warf Jake ein. »Die beiden Polizisten müssen irgendetwas getan haben.«
»Vielleicht denkt ihr zu kompliziert«, sagte Kevin.
»Was meinst du?«
»Unser Hirn ist ein Hochleistungscomputer. Die Komponenten sind mit einem Mainboard verbunden. Ihr habt selbst die Steckplätze freigelegt und mir ein zusätzliches Modul aufgesteckt. Was wäre geschehen, wenn jemand zuvor diese zusätzlichen Steckplätze abgeschaltet hätte?«
»Das ist es!«, rief June. »Sie haben auf Lisas BIOS zugegriffen und einfach die Hardware abgeschaltet. Das System erkennt unser Modul überhaupt nicht.«
Alle Blicke richteten sich auf Lisa.
»Ja, so ist es. Ihr könnt mir einbauen, was immer ihr wollt. Mein System erkennt keine Fremdhardware mehr. Und mein BIOS ist durch ein sicheres Passwort geschützt. Das zu hacken, dürfte Monate dauern. Ihr habt verloren.«
June öffnete mit einem Griff die Klappe in Lisas Nacken und zog die Energieversorgung vom Board ab. Sofort fror der Androidenkörper ein und bewegte sich nicht mehr.
»Was hast du jetzt vor?«, fragte Gero. »Wenn sie recht hat, können wir kaum darauf hoffen, ihr Passwort zu knacken.«
»Das will ich auch nicht. Wir werden das Ganze abkürzen, indem wir den Batteriepuffer für das BIOS ausbauen. Ich weiß genau, wo diese Batterie sitzt. Dann müssen wir nur warten, bis die Spannung im System unter einen kritischen Wert gefallen ist. Schließen wir die Batterie dann wieder an, lädt der BIOS-Speicher die Werkseinstellungen zurück, und wir sollten wieder Zugriff auf alle peripheren Anschlüsse haben.«
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Alina. »Wenn ich das richtig verstanden habe, will euer Onkel nach Großbritannien übersetzen und die Datenbanken zerstören, die uns künftig vielleicht in die Lage versetzen könnten, die Persönlichkeiten aus den Androiden wieder in biologische Körper zu transferieren.«
Jake schüttelte verständnislos den Kopf. »Ich war der festen Überzeugung, Onkel Mike wäre auf unserer Seite. Ich kann mir noch immer nicht vorstellen, dass er uns alle an die Androiden verraten will.«
»Lisa hat es uns doch gesagt«, meinte June. »Wenn Androiden eines nicht können, dann ist es lügen. Es muss also stimmen.«
Alina sah sie fragend an. »Und was bedeutet das jetzt für uns? Können wir überhaupt etwas tun?«
Gero nickte. »Das ist die Frage. Wir sind nur fünf Leute, denn Lisa können wir noch nicht mitrechnen. Vermutlich wird man uns bereits suchen. Mike wird mit seinem Truck vielleicht schon in Calais sein. Was wird geschehen, wenn er in Dover an Land geht? Wer wird ihn unterstützen? Was ist mit den übrigen Menschen an Bord des Trucks?«
June schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich hab ja bisher selbst nichts davon gewusst. Sicher denken die anderen ebenfalls, dass Mike daran arbeitet, ein Androiden-Regime zu verhindern. Ich kann mir nur vorstellen, dass er die bisherige Entwicklung ausgenutzt hat, um Androiden in alle wichtigen Positionen zu platzieren. Offiziell gibt es keine Unterschiede zwischen Bios und Androiden, sodass grundsätzlich auch Androiden in sicherheitsrelevanten Bereichen arbeiten dürfen.«
»Also auch in diesem Rechenzentrum mit der DNA-Datenbank«, vermutete Gero. »Wo ist denn dieses Rechenzentrum?«
»In einer Stadt namens Milton Keynes, nördlich von London.«
»Ich werde alles tun, um diese Datenbank zu schützen«, sagte Kevin plötzlich. Alle sahen ihn überrascht an.
»Ich will nicht auf immer und ewig in diesem künstlichen Körper bleiben. Eines Tages will ich wieder in einem echten biologischen Körper stecken. Ich hab genau zugehört. Dass es englische Forscher geschafft haben, neutrale Biomasse zu züchten, der DNA-Informationen zu installieren möglich ist, kann nur bedeuten, dass man bald in der Lage sein wird, Originalkörper aus den DNA-Daten dieser Datenbank zu züchten. Ich könnte wieder ein Mensch werden, mich im Spiegel wiedererkennen – mit meiner Frau wieder eine Ehe führen.«
Alinas Augen wurden feucht vor Rührung, und sie umarmte Kevin spontan.
Jake hob seine rechte Hand. »Ich will nicht Spielverderber spielen, aber wir sind verdammt zu weit von Milton Keynes weg, um darüber nachzudenken, wie wir eingreifen können. Wir haben den Polizeiapparat eines Androidenstaates gegen uns, sind fast tausend Kilometer von der Küste entfernt, und uns fehlen jegliche Mittel, etwas zu tun. Wie kommen wir überhaupt in die Nähe des Rechenzentrums? Und wie verhindern wir seine Vernichtung, sollten wir es schaffen, rechtzeitig dort zu sein?«
»Geld kann die Lösung sein«, sagte Gero. »Seit die Kontrollen seitens der Androiden immer mehr zunehmen, arbeite ich fast nur noch mit Bargeld. Ich hab einiges bei mir.«
»Was soll uns das nutzen?«, fragte Alina.
»Wir könnten versuchen, auf einem kleinen Flugplatz eine Cessna zu chartern. Es gibt sicher noch menschliche Piloten, die uns fliegen würden.«
Jake machte ein skeptisches Gesicht. »Doppelt riskant. Bist du sicher, dass es noch flugfähige Cessnas gibt? Und denkst du, dass sie uns so einfach durch den Luftraum entkommen lassen?«
Gero grinste. »Na, fragen würde ich die Luftüberwachung nicht. Ich kannte mal jemanden draußen in Gatow, der bastelte an alten Cessnas herum und flog sogar noch damit.«
»Wie lange ist das her?«, fragte Jake. »Diese alten Benzinschleudern bekommen längst keine Zulassung mehr.«
»Haben wir eine andere Wahl?«
Jake knurrte. »Dann sollten wir uns auf den Weg machen. Wenn die Androiden denselben Gedanken haben, schließt sich für uns auch diese Tür.« Er startete den Wagen und fuhr los. »Gatow also?«
Gero nickte.
Ein Geräusch ließ sie hochschrecken. Junes Kommunikator sprach an.
»Hallo?«, fragte sie. Im nächsten Moment machte sie den anderen ein Zeichen, leise zu sein, und schaltete den Lautsprecher des Geräts ein, um alle mithören zu lassen.
»June, mein Täubchen, was hat euch geritten, den Truck zu verlassen? Es muss euch doch klar sein, dass ihr mit eurem lächerlichen Firlefanz alles aufs Spiel setzen könnt.«
»Onkel Mike, ich weiß nicht, wovon du sprichst.«
»Halt mich nicht zum Narren! Alle Emotionssimulatoren, an denen ihr so heimlich gebastelt habt, sind verschwunden. Ihr habt mich hintergangen. Aber macht euch keine Hoffnungen: Ihr kommt damit nicht durch. Mir ist euer Standort bekannt, und ich habe die örtliche Polizei verständigt. Es sind bereits Androiden-Teams unterwegs, um euch festzunehmen.«
June schüttelte ungläubig den Kopf. »Warum tust du das? Wir dachten, du stehst auf unserer Seite – der Seite der Menschen. Du wolltest nach England und dort sogar die Androiden zurückdrängen …«
Mike lachte. »Es freut mich, dass ihr das geglaubt habt. Aber ich habe die Androiden geschaffen. Sie stellen eine Verbesserung des Menschen dar. Endlich haben sie auch die Macht, ihre Geschicke selbst zu bestimmen.«
»Onkel Mike, die Andros sind nichts weiter als eine Notlösung. Es sind Maschinen, und selbst ihr Verstand arbeitet nur noch wie ein Computer. Irgendwann muss dieser Vorgang rückgängig gemacht werden. Willst du etwa, dass es zum offenen Kampf zwischen Menschen und Androiden kommt?«
»Der Kampf hat längst begonnen! Habt ihr es noch nicht mitbekommen?Es wird erst vorbei sein, wenn die verdammte Datenbank zerstört ist. Erst dann werden sich die Androiden als neue Rasse verstehen können – wenn es keinen Weg zurück mehr gibt.«
»Onkel Mike, du bist krank!«
Lachen drang aus dem Lautsprecher. »Ich muss jetzt leider das Gespräch beenden, um die weiteren Aktionen zu planen. Wenn wir uns wiedersehen, werdet ihr verstehen.«
June sah entgeistert auf das Display ihres Kommunikators, als das Gerät verstummte. Ihr Onkel hatte aufgelegt.
»Wirf das verdammte Ding aus dem Fenster!«, rief Jake und reichte seinen Kommunikator nach hinten. »Wirf meinen gleich hinterher. Dieser Wahnsinnige lässt uns darüber orten.«
June öffnete ein Fenster und schleuderte die Geräte ins Freie, wo sie auf dem Straßenpflaster zerschellten.
Die Fahrt nach Gatow gestaltete sich schwieriger als gedacht, weil enorm viele Polizeifahrzeuge auf den Straßen unterwegs waren und Jake immer wieder Umwege fahren musste, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Erst Stunden später erreichten sie den alten Flugplatz, der offiziell schon lange nicht mehr benutzt wurde. Gero deutete auf eine Halle, deren Rolltor hochgefahren war. »Halte darauf zu.«
Hundert Meter davor hielt Jake den Wagen an. »Vielleicht sollte einer von uns allein hineingehen.«
Gero nickte. »Macht Sinn. Wenn der alte Martin noch lebt, ist er sicher misstrauisch.«
»Ich sollte gehen«, sagte Kevin. »Wenn in der Halle Androiden sind, werden sie mir eher trauen als einem von euch.«
Er öffnete die Wagentür, stieg aus und lief los. Als er bis auf zehn Meter an die Halle herangekommen war, erschien ein älterer Mann mit einem Gewehr in der Hand.
»Halt! Das ist nah genug!«
Kevin hob seine leeren Hände. »Ich bin nicht bewaffnet. Sind Sie Martin?«
Der Mann hob den Lauf der Waffe an. »Wer will das wissen? Sie sind doch ein Andro, oder irre ich mich? Verschwinden Sie von hier! Sagen Sie den anderen Maschinen, dass sie mich nur mit Gewalt hier wegbekommen.«
»Sie haben recht. Ich bin ein Android, aber Sie haben weder von mir noch von meinen Freunden etwas zu befürchten. Die meisten von uns sind Bios, und wir brauchen Ihre Hilfe.«
Der Mann lachte verächtlich und spie auf den Boden. »Ihr braucht Hilfe! So siehst du aus! Seit wann brauchen Andros Hilfe von Menschen?«
Gero wurde es nun zu bunt. Er kletterte aus dem Wagen und ging zu den beiden. »Martin!«, rief er schon von Weitem. »Er meint es ehrlich! Wir brauchen dringend einen Flug nach England. Ist dein alter Vogel noch flugtauglich?«
Martin blinzelte, um besser sehen zu können. »Gero? Gero Wagner? Bist du es wirklich? Das ändert die Lage allerdings.«
Er senkte die Waffe und winkte dem Wagen, näherzukommen. Jake ließ das Auto an und fuhr direkt in die Halle hinein. Martin warf einen Blick in den Wagen und stutzte. »Wieso schleppt ihr eine defekte Andro-Frau mit euch herum? Diese Maschinen sind doch nur hoch spezialisierte Spione. Entsorgt das Ding besser, wenn ihr mich fragt.«
»Das ist Lisa«, sagte Gero. »Ihr Körper kann nicht mehr funken. Wir haben sie stillgelegt, nachdem wir ihr einen Emotions-Chip eingesetzt haben. Sie wird uns nicht stören. Kannst du uns alle nach Milton Keynes in England fliegen? Hat deine Cessna genügend Benzin im Tank? Wenn nicht, haben wir ein Problem.«
Martin sah ihn fragend an. »Worum geht es? Wenn ihr den Andros gehörig in den Arsch treten wollt, bin ich dabei. Natürlich ist meine ›Lizzy‹ flugbereit. Ich bin auch mehr als willens, euch zu fliegen, weil ich damit rechne, dass die Andros bald mit einer ganzen Meute hier aufkreuzen. Ich hab auf die letzte Bande geschossen, die mich von hier vertreiben wollte.«
Gero deutete auf ihre Gruppe. »Passen wir alle in deine Maschine hinein?«
Martin nickte. »Es wird nicht bequem sein, aber es wird gehen. Dann klettert mal in meine Lizzy hinein. Wir sollten keine Zeit vergeuden. Der Tank ist voll und sollte bis auf die Insel reichen.«
Sie halfen ihm, die kleine Maschine vor die Halle zu rollen, und dann stiegen sie ein. Etwas problematisch war Lisa, deren Körper inaktiv und somit äußerst sperrig war, doch Kevin gelang es, die Gelenke ihres Körpers so weit zu beugen, dass auch sie in den Flieger passte. Martin startete den Motor der kleinen Maschine und ließ sie gemächlich zur Startbahn rollen. In der Ferne erkannten sie, dass eine Gruppe Fahrzeuge sich dem Flugplatz näherte.
»Wir müssen hier weg!«, rief June. »Da hinten kommen sie schon.«
Martin schaute unbeeindruckt aus dem Fenster und winkte ab. »Bis die hier sind, ist meine Lizzy schon in der Luft.« Er drückte den Gashebel nach vorn und löste die Bremse, worauf die Maschine einen Satz nach vorn machte. Voll beladen musste Martin die Startbahn bis zum Ende ausnutzen, doch dann löste sich das Flugzeug vom Boden.
Im Funkgerät knackte es. »Hier Luftüberwachung Berlin. Uns wurde ein nicht genehmigter Start eines Privatflugzeugs gemeldet. Brechen Sie unverzüglich den Startvorgang ab und landen Sie wieder.«
»Können die uns schon geortet haben?«, fragte Gero.
Martin schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Dazu fliegen wir noch zu tief. Ich denke, die Leute in den Fahrzeugen da unten haben geplaudert.« Er grinste plötzlich. »Und ich habe nicht vor, der Aufforderung Folge zu leisten. Wir bleiben unter dreihundert Meter und nehmen Westkurs.«
Bald hatten sie sich daran gewöhnt, in niedriger Höhe zu fliegen, und ihre Nervosität legte sich etwas. Martin hatte ihnen versichert, dass seine Lizzy nicht über einen Transponder verfügte, sodass die Flugsicherheitsbehörden sie auch auf diesem Wege nicht finden konnten. Da er konsequent unterhalb der Höhe blieb, in der eine Radarortung drohte, blieb ihre weitere Reise unbehelligt.
Als sie sich der britischen Küste näherten, die sich als dünne Linie am Horizont abzeichnete, fragte Martin: »Wie habt ihr es euch eigentlich weiter vorgestellt? Es gibt in Milton Keynes keinen Flugplatz, und Luton Airport möchte ich nicht anfliegen, um keine unangenehmen Fragen beantworten zu müssen.«
»Hast du Karten an Bord?«, fragte Jake. »Die Datenbankserver stehen in einem Gebäude am Portway in Milton Keynes. Das muss in den Randbereichen sein, wo nicht viel los ist.«
»Schau mal in der Tasche hinter dem Sitz nach. Da müssten Karten drin sein. Vielleicht ist auch eine von Südengland dabei. Ich kann aber nicht garantieren, dass sie aktuell ist.«
Jake winkte ab und blätterte die Karten in der Tasche durch. Triumphierend zog er eine alte, abgegriffene Karte heraus. »Voilà! Südengland. Mit den Flughäfen Stansted, Heathrow und Luton. Am Rand ist noch Milton Keynes mit drauf.«
Er breitete sie aus und studierte sie eingehend. »Sag mal, Martin, kann deine Lizzy auch auf einer Wiese landen?«
»Grundsätzlich schon. Aber sie sollte schon recht eben sein, da uns sonst das Fahrgestell wegknicken kann.«
»Okay, dann lande hier.« Er markierte eine Stelle auf der Karte und reichte sie Martin nach vorn.
Der studierte den Plan und nickte nach kurzer Zeit. »Müsste klappen. Das wäre sogar nur ein kurzer Fußweg zum Datenbankgebäude. Aber wieso machen wir das hier eigentlich? Ich hab mir das während des Fluges überlegt. Was können wir denn konkret tun, um die Datenbank zu schützen? Und warum muss dieser Hammersham überhaupt nach England kommen? Kann er seine Androidentruppe nicht vom Festland aus steuern?«
»Möglicherweise könnte er das«, gab June zu. »Wir glauben allerdings, dass es in dieser Datenbank noch Informationen gibt, die er unbedingt braucht, bevor er den Laden in die Luft sprengen kann.«
Alina sah sie skeptisch an. »Und was soll das sein?«
»Keine Ahnung.«
»Könnte Lisa etwas wissen?«, fragte Gero. »Sie bezeichnete sich selbst als Android höherer Ordnung. Wie lange müssen wir noch warten, bevor wir sie reaktivieren können?«
»Lisa, ja. Die Idee ist nicht schlecht«, sagte Jake. »Die Erhaltungsladung in ihrem System dürfte inzwischen erloschen sein. June, schnapp dir dein Tablet und schließ es am Service-Port an. Ich aktiviere den Körper. Gib sofort Bescheid, wenn das System unseren Chip noch immer nicht erkennt.«
»Leute, ihr wollt doch nicht herumexperimentieren, solange ich noch in der Luft bin?«, fragte Martin. »Wir passieren soeben Luton. In ein paar Minuten erreichen wir Milton Keynes.«
»Keine Sorge. Wir brechen sofort ab, wenn Lisas Zustand sich noch nicht geändert hat.«
Jake hatte bereits die Klappe im Nacken des Androiden geöffnet und steckte die losen Stecker wieder in die Sockel des Mainboards. Ein leichtes Zucken lief durch den Androidenkörper. »Gib mir den Status, June!«
»Bootet noch. Ich bekomme gleich die Meldungen.«
Jake hielt die Stecker in den Händen, um sie gleich wieder abziehen zu können. »Immer noch nichts?«
»Warte! Jetzt kommen die Systemdaten … Bingo! Alle Anschlüsse sind wieder aktiv! Riskieren wir es. Ich blockiere Arme und Beine, bis wir wissen, woran wir sind.«
Wenige Augenblicke später bewegte sich Lisas Kopf, und sie schaute sich um. »Wo sind wir? Ich kann mich nicht erinnern, in einem Flugzeug gewesen zu sein.«
»Wir mussten dich vorübergehend abschalten«, sagte Gero und strich über ihren Arm, obwohl er wusste, dass sie das nicht spüren konnte.
»Gero?«, sagte sie fragend. »Was ist geschehen? Ich …« Sie überlegte einen Moment. »Oh, ich habe dich verraten, als ich …Mein Gott!«
»Sie spricht auf den Emotions-Chip an«, sagte Jake. »Gib ihren Körper frei, June.«
Gero sah sie eindringlich an. »Lisa, du musst uns helfen. Wir sind auf dem Weg nach Milton Keynes, wo sämtliche Daten aller Menschen gespeichert sind, die einen Androidenkörper erhalten haben. Mike Hammersham, der Schöpfer der Androiden, will unseren Planeten in eine Androidenwelt verwandeln und plant die Zerstörung der Daten, um den Weg zurück zu biologischen Menschen unmöglich zu machen. Mike ist persönlich auf dem Weg hierher, und wir fragen uns, warum? Gibt es etwas in den Gebäuden, das er unbedingt braucht?«
Lisa lächelte. »Allerdings. Wir müssen uns beeilen. Level-0, also Mike, hat die Androidenteile der britischen Armee bereits in der Hand und will die Gebäude des Rechenzentrums restlos zerstören lassen. Vorher benötigt er jedoch die Master-Befehlscodes zur vollständigen Übernahme der Androiden.«
»Master-Befehlscodes? Was soll das sein?«
»Als die Androiden damals in die Massenproduktion gingen, wurde in die Körper ein spezielles Steuergerät integriert, über die man in Störfällen sämtliche Funktionen übernehmen kann. Für dieses Steuergerät existiert ein komplexer Satz von codierten Befehlssätzen, die ebenfalls in Milton Keynes gespeichert wurden. Die Regierung hatte diese Befehle von einer anderen Firma erstellen lassen, um Hammersham nicht alle Macht über seine Schöpfungen zu überlassen. Wie es scheint, war das durchaus die richtige Entscheidung.«
»Schaut mal nach unten!«, rief Martin. »Ist das die Wiese, die ihr auf der Karte markiert habt?«
»Das muss sie sein!«, meinte Jake.
»Dort vorn ist das Gebäude des Rechenzentrums«, sagte Lisa. »Ich entdecke Androiden-Sicherheitskräfte. Mike will nichts dem Zufall überlassen.«
»Kann er denn schon hier sein?«
»Eigentlich nicht. Aber lange wird es nicht mehr dauern. Von Dover braucht er höchstens drei bis vier Stunden, bis er hier ist.«
»Na, dann landen wir die gute Lizzy mal«, sagte Martin. »Schnallt euch an. Der Boden sieht zwar glatt aus, aber es ist halt keine Betonpiste.«
Martin flog eine weite Schleife und hielt auf die Wiese zu. Er flog knapp über die Baumwipfel und drosselte den Motor ab, um Höhe zu verlieren. Unsanft setzten die Räder auf dem Rasen auf, und die Insassen wurden durchgeschüttelt. Martin hatte jedoch alles im Griff und brachte das Flugzeug vor dem Ende der Wiese zum Stehen.
Sie vergeudeten keine Zeit und sprangen gleich aus der Maschine. Gero blickte zurück zu Lisa, die noch auf ihrem Platz saß.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ihr habt meinen Primärsender und Teile der linken Beinsteuerung zerschossen. Ich brauch noch einen Augenblick, um die Reservesteuerung mit dem anderen Bein zu synchronisieren. Aber keine Angst, ich kann gleich wieder laufen.«
»Verdammt, es wimmelt vor Wachen. Wie kommen wir an ihnen vorbei?«, fragte Alina. »Wenn das Androiden sind, werden sie keine Bios ins Gebäude lassen.«
»So ist es«, bestätigte Lisa. »Ihr habt nicht die geringste Chance. Selbst, wenn ihr einige von ihnen ausschalten könnt, wird euch der Rest festnehmen.«
»Oder Schlimmeres«, sagte June.
Lisa schüttelte den Kopf. »Sie würden euch nichts antun. Menschen werden für den Fortbestand und die Kreativität benötigt. Aber ihr wärt nicht mehr frei – nie mehr.«
Gero hob ratlos die Arme. »Und was jetzt? Sind wir bis hierher gekommen, um einfach aufgeben zu müssen?«
Lisa kletterte unbeholfen aus dem Flugzeug. »Das wird gleich besser. Die Reservesteuerung ist noch im Lernmodus.« Sie näherte sich Gero und strich ihm sanft über die Haare. »Nein, wir werden nicht aufgeben. Aber das, was getan werden muss, kann nicht von Bios getan werden. Ihr müsst uns vertrauen. Kevin und ich werden dort hineingehen und die Codes beschaffen, mit denen man Mike die Macht über seine Armee entziehen kann.«
»Du meinst, dass du das schaffst?«, fragte Gero. »Dein Körper ist nicht ganz intakt. Du hast auch keinen Sender mehr.«
»Keinen Primärsender mehr«, korrigierte Lisa. »Modelle wie ich besitzen auch noch einen Reservesender. Durch den Reset meines Systems habe ich auch wieder Zugriff darauf. Glaub mir, ich bin einsatzfähig.«
»Wirst du auch die Daten auf dem Server löschen können, damit Mike keinen Zugang mehr dazu hat?«
Lisa lächelte. »Ich weiß, was ich tue. Ich bin ein Android der höheren Ordnung und hätte in Mikes Welt zu den Herrschenden gehört.«
Sie nickte Kevin zu. »Lass uns gehen. Du bist jetzt mein Security-Mann.«
Mit gemischten Gefühlen sah Gero die beiden Androiden offen auf das Gebäude zulaufen. Einige Androiden der Sicherheitstruppe kamen ihnen mit gezogenen Waffen entgegen. Er fürchtete schon, sie würden bis zu ihnen kommen, um sie zu kontrollieren und vielleicht festzunehmen, doch Lisa kommunizierte kurz mit ihnen, und anschließend wandten sie sich um und kehrten zum Eingang des Gebäudes zurück.
*
Lisa betrat zusammen mit Kevin den Gebäudekomplex, in dessen Innern weitere Sicherheitskräfte der Androiden herumliefen, jedoch auch zahlreiche Bios, die von ihnen bewacht wurden. Anscheinend hatte Mike hier bereits die Kontrolle übernommen. Sie bezweifelte jedoch, dass all die Androiden eine Ahnung davon hatten, was er hier wirklich vorhatte. Sie wusste es, und bislang hatte ihre Programmierung es auch gutgeheißen. Doch mit dem neuen Chip war alles anders …
»Was wollen Sie hier?«, fragte ein vorgesetzter Wachmann sie über Funk.
»Ich fordere Zutritt zum Serverbereich«, antwortete sie auf gleichem Wege.
»Das ist bis auf Weiteres nicht gestattet.«
Lisa lächelte und sandte ihren Identifizierungscode, der zugleich ihren Status offenbarte, den sie in der Androidengesellschaft besaß. »Wollen Sie mir tatsächlich den Zutritt verweigern?«
Der Mann trat widerwillig zur Seite. »Mir ist nicht mitgeteilt worden, dass wir so hohen Besuch bekommen.« Er deutete auf Kevin. »Er muss hierbleiben. Sein Status lässt ein Betreten des Serverbereichs nicht zu.«
»Er wird mich als mein persönlicher Sicherheits-Offizier begleiten. Ich werde nicht auf meinen persönlichen Schutz verzichten.«
Der Wachmann zuckte mit den Schultern. »Auf Ihre Verantwortung.«
Er öffnete eine schwere Tür, und Lisa blickte in einen mäßig beleuchteten Raum, in dem Serverracks standen, soweit das Auge reichte. Sie wandte sich zum Wachmann um. »Bitte schließen Sie die Tür und lassen niemanden herein. Ich will ungestört arbeiten.«
Als sie allein waren, sondierte sie die Lage. »Kevin, hilf mir. Du weißt, was wir brauchen.«
Sie mussten eine Weile suchen, bis sie ein Terminal fanden, an dem sie sich einloggen konnte. Lisa studierte die Inhaltsverzeichnisse der Anlage und war froh, dass in ihrem Schädel ein Hochleistungscomputer steckte. Ein Bio hätte diese Datenmenge niemals in vertretbarer Zeit verarbeiten können. Und Zeit war etwas, das sie nicht hatten. Wenn Mike eintraf, war ihr Status nichts mehr wert, und sie hatten tatsächlich verloren. Das durfte nicht geschehen.
Kevin hatte am Nachbarterminal Platz genommen und betrachtete die Darstellungen der Außenkameras. »Was ist das denn? Eine Bewegung am Bildrand? Oh! Wie lange brauchst du noch? Da nähert sich ein Truck von der Hauptstraße.«
»Ich bin gleich so weit. Ich lade die Daten gerade auf meinen internen Speicher.«
Lisa wartete nervös auf das Ende der Übertragung und wunderte sich, dass ein Android überhaupt Nervosität empfinden konnte. Es musste eine Auswirkung des Emotions-Chips sein.
»Es ist Mikes Truck!«, rief Kevin. »Wie weit bist du? Sobald er checkt, was hier läuft, wird er uns buchstäblich den Saft abdrehen.«
»Lass mich einen Moment in Ruhe, Kevin! Ich muss die Daten in mein System integrieren und vom Server löschen.«
Sie klickte auf ›sicheres Löschen‹ und blickte auf den Fortschrittsbalken, der anzeigte, wie die Dateien zerstört wurden. »Das war’s. Jetzt soll er kommen.«
»Du hast alle Daten kopiert?«
»Nicht nur das. Ich kann sie sogar verwenden.« Sie lächelte. »Aber keine Angst. Du hast von mir nichts zu befürchten. Ich kann über Funk jedem einzelnen Androiden oder ganzen Gruppen von ihnen quasi jeden Befehl geben, und er wird eine höhere Priorität haben als jeder von Mikes Befehlen.«
Kevin blickte auf den Monitor. »Dann wird es Zeit, dass du von deiner neuen Macht Gebrauch machst. Mike hat soeben mit einer Gruppe Bewaffneter das Gebäude betreten. Die übrigen Wachen schließen sich ihnen an.«
In diesem Moment schwang die schwere Eingangstür zum Serverraum auf, und sie kamen herein.
»Das Spiel ist aus!«, rief Mike Hammersham von der Tür aus und gab den Androiden Zeichen, sich zu verteilen, um Lisa und Kevin in die Zange zu nehmen. »Dies wäre ein guter Zeitpunkt, der Androidengesellschaft Loyalität zu bezeugen. Die neue Weltordnung ist nicht mehr aufzuhalten.«
Lisa stand noch immer am Terminal, als die Eindringlinge sie erreichten.
Mike sah sie forschend an. »Lisa, du wirst doch nicht wirklich die Fronten gewechselt haben. Das wäre absurd. Du könntest an meiner Seite über einen Kontinent herrschen.«
»Ich wäre aber trotzdem immer noch eine Maschine«, sagte Lisa. »Es gab eine Zeit, da hat dieser Körper meinen Tod verhindert, den Tod meines Bewusstseins. Es war aber nie angedacht, auf ewig in diesem Körper zu leben. Ich will irgendwann wieder einen echten, einen biologischen Körper haben, mich spüren, meinen Mann spüren.«
Mike lachte sarkastisch. »Und sterblich werden? Schwach? Unzulänglich? Wie kannst du das wollen? Aber wir müssen auch nicht darüber diskutieren. Wenn ich hier fertig bin, wird nie wieder über eine Rückkehr in einen biologischen Körper geredet werden. Dann wird es nur noch die neue Weltordnung geben.«
»Indem du diese Anlage zerstörst? Indem du Millionen Androiden jede Möglichkeit nimmst, selbst zu entscheiden?«
»Manchmal muss man jemanden auch zu seinem Glück zwingen. Und jetzt geh von der Konsole weg. Ich habe einige Dinge zu erledigen, bevor es das alles hier nicht mehr geben wird.«
Lisa trat beiseite und ließ Mike an die Tastatur. Die Läufe der Waffen in den Händen der Wachen folgten ihr, doch das beunruhigte sie nicht. Mike tippte etwas in den Computer und stutzte plötzlich. »Wo, zum Henker …?«
Er fuhr zu ihr herum. »Was hast du getan? Dafür werde ich dich stilllegen lassen, das schwöre ich dir!«
Lisa lächelte süffisant. »Das möchte ich aber nicht. Ich denke, es ist an der Zeit, dieses absurde Theater zu beenden.«
Die Waffen der Wachen richteten sich plötzlich auf Mike.
»Hey, was geht hier vor?«
»Ich weiß, was du hier gesucht hast, Mike. Ich war schneller. Und du selbst warst es, der uns Androiden alle Möglichkeiten der Kommunikation gegeben hat. Ich habe das Kommando soeben übernommen, und ich entscheide, dass diese Anlage nicht vernichtet wird. Im Gegenteil: Wir werden die Daten noch brauchen, wenn die Herstellung neutraler Biomasse in Serie geht. Es mag noch ein paar Jahre dauern, aber dann wird es für jeden Androiden die Möglichkeit geben, einen nach seinen DNA-Daten gezüchteten Körper beseelen zu können. Jeder Android wird selbst entscheiden können, welchen Weg er gehen will. Mike, ich kann wieder eine echte, menschliche Frau werden. Denkst du wirklich, ich bin gern eine Maschine? Und wie ich denken viele.« Sie machte eine kurze Pause. »Du hast recht: Das Spiel ist aus! Aber es ist dein Spiel, das hier und heute vorbei ist.«
»Du willst doch nur selbst herrschen!«, warf Mike ihr vor.
Sie schüttelte den Kopf. »Du kennst mich nicht. Auch ich will eine andere Weltordnung, aber es wird die alte sein, in der Menschen wieder echte Menschen sein dürfen, wenn sie es wollen. Ich will keine Internierungen und keinen Zwang. Mit einer Ausnahme: Du wirst festgenommen werden, bis die Gerichte entschieden haben, was mit dir geschehen soll.«
Sie gab den Wachen einen Wink, den sie durch einen Befehl aus der Datenbank unterstützte, und die Androiden legten Mike Handschellen an.
In diesem Moment stürzten die anderen herein, die bisher beim Flugzeug gewartet hatten.
»Lisa, geht es dir gut?«, fragte Gero schon von Weitem. »Die Wachen sind plötzlich abgezogen und im Gebäude verschwunden. Wir haben uns Sorgen um euch gemacht.«
»Es ist alles in Ordnung, Schatz«, antwortete Lisa. »Mike wurde festgenommen, und ich bin jetzt so was wie die Königin der Androiden.«
Gero umarmte sie, schob sie dann jedoch ein Stück zurück. »Du bist was?«
Sie lachte. »Na, ich habe mir den Befehlssatz aus der Datenbank installiert und kann nun allen Androiden befehlen.«
»Das ist eine Menge Macht«, meinte June.
»Das ist richtig, und eigentlich will ich sie auch nicht. Ich werde sie nutzen, um all den Zwang aufzuheben, der zuletzt von den Androiden ausgeübt worden ist. Aber dann will ich einen der ersten neuen Bio-Körper haben, wenn das Verfahren für die Züchtung der Biomasse für die Herstellung von Körpern freigegeben wird. Ich möchte diese Maschine loswerden und endlich wieder leben.«
Sie blickte sich um und sah in die Gesichter der sie umgebenden Wachen. »Wer von euch denkt genauso?«
Nach und nach hob jeder seine Hand. Sie nickte zufrieden. »Ich denke, wir können heimfahren. Ich möchte einfach nur nach Hause.« Sie sah Gero an. »Und ich möchte, dass du wieder bei mir bist.«
Sie wandte sich an Jake und June, die diese Entwicklung fassungslos miterlebt hatten. »Und euch erteile ich den Befehl, unverzüglich mit der Serienproduktion der Emotions-Chips zu beginnen.«
»Was?«
Lisa lachte. »Na, wenn ich jetzt eine Königin bin – wenn auch eine Androidenkönigin – kann ich doch dem Volk befehlen, oder nicht?«
Sie genoss die fragenden Blicke der beiden. »Es war ein Scherz. Aber ich denke, wir werden sehr viele dieser Chips brauchen, bis wir den Androiden wieder biologische Körper anbieten können. Es würde mich freuen, wenn ihr bald mit der Produktion beginnen könnt.«
Junes Miene verzog sich zu einem Grinsen, und sie deutete eine Verbeugung an. »Jawohl Eure Hoheit.«
Martin schüttelte seinen Kopf. »Haben jetzt alle den Verstand verloren?«
»Sicher nicht«, sagte Gero lachend. »Wir sind nur alle unendlich erleichtert. Und zum ersten Mal seit vielen Monaten gibt es einen Silberstreif am Horizont.«
Er nahm Lisa in den Arm und zog sie an sich. »Komm her, du Königin der Androiden. Führe dein Volk heim und lass uns mit diesem ganzen Saustall aufräumen.«
Sie lehnte sich vorsichtig an ihn und gab ihm einen sanften Kuss – den ersten seit vielen Monaten. June sah zu Alina hinüber, die Kevin glücklich an der Hand hielt, und hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass die Welt wieder in Ordnung kommen könnte.