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Bei dieser Leseprobe handelt es sich um die Version der Neufassung vom April 2024, die seit dem 25.04.2024 im Handel erhältlich ist.
1. Der Unfall
Es hatte den ganzen Tag über geregnet und der Himmel war vom Morgen an bleigrau geblieben. Es war ein Tag, der allein aus diesem Grunde schon aufs Gemüt drückte, doch Rainer beachtete es nicht. Seine Welt war auf das zusammengeschrumpft, was sich in seinem Kopf abspielte. Er saß im Auto und war auf dem Weg nach Hause. Tief in Gedanken versunken, steuerte er den Wagen über die Autobahn.
Er fragte sich, was er hier eigentlich tat. Womit hatte er das verdient? Über zehn Jahre lang hatte er sich für seine Firma förmlich zerrissen. Das alles sollte vorbei sein? Rainer war Programmierer. Es war das, was er immer sein wollte und von dem er wusste, dass er es gut konnte. Es hatte nicht an ihm gelegen, dass es mit seiner Firma bergab gegangen war. Es war die Konkurrenz aus Fernost, die das Unternehmen unter Druck gesetzt hatte. Schließlich hatten sie aufgeben müssen und es folgte die Insolvenz.
Die anfängliche Hoffnung, der Insolvenzverwalter würde noch eine Lösung finden, das Unternehmen zu retten, schwand von Monat zu Monat immer mehr.
Es war ihm bewusst, dass eine Rettung des Unternehmens einen hohen Preis fordern würde: eine drastische Reduzierung der Belegschaft. Doch, dass es ihn erwischen würde, damit hatte er nicht gerechnet. War er zu blauäugig, zu naiv? Wir müssen ihre Arbeitskraft dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen, hatte es geheißen.
Rainer lachte bitter auf. Wie toll sich das anhörte: Sich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen! Als wenn es für ihn, einen siebenundvierzigjährigen Informatiker, noch Verwendung auf dem Arbeitsmarkt gab ...
Es würde schwer werden, das war ihm absolut klar. Vor einem Jahr hätte er gedacht, alle Probleme meistern zu können, doch das galt jetzt nicht mehr. Vor drei Monaten hatte Ellen ihn verlassen. Nach all den Jahren der Ehe war sie gegangen und er hatte nicht realisiert, was sich da angebahnt hatte. Anfangs hatte er getobt, dann war die Traurigkeit gekommen und er hatte sich unendlich leidgetan.
Lautes Hupen riss Rainer aus seinen Gedanken. Erschreckt riss er das Lenkrad seines Autos nach rechts. Er hatte nicht registriert, dass er fast auf die linke Fahrbahnseite geraten war und ein anderes Auto behindert hatte. Er hob entschuldigend die Hand und fiel zurück in seine trüben Gedanken.
Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie Kinder gehabt hätten, doch leider war ihnen dieses Glück nicht vergönnt. So hatten sie in der letzten Zeit mehr nebeneinander als miteinander gelebt. Sein Job hatte ihn immer stärker in Anspruch genommen und in der Krise hatte er versucht, durch unermüdlichen Einsatz dafür zu sorgen, unentbehrlich zu sein, um so seinen Arbeitsplatz zu sichern. In seiner verbissenen Vorstellung hatte er geglaubt, dieses Ziel erreicht zu haben.
Unter der Woche kam er kaum vor 22 Uhr nach Hause, und nicht selten fand er seine Frau dann bereits schlafend im Bett vor. An den Wochenenden arbeitete er zu Hause an seinen Projekten, die er im Betrieb nicht zu Ende geführt hatte. Die Zeichen mussten schon länger auf Sturm gestanden haben, nur hatte Rainer es nicht bemerkt - oder es nicht bemerken wollen. Er hatte einfach die Zeichen nicht erkannt, die darauf hingedeutet hatten, dass sie sich immer weiter voneinander entfernten. Die Entfremdung war nicht mehr aufzuhalten.
So war er vollkommen verblüfft, als er eines Abends nach Hause kam und feststellte, dass Ellen nicht da war. Im Wohnzimmer fand er nur einen Brief, auf dessen Umschlag sein Name stand. Er hatte diesen Brief bestimmt zehnmal gelesen und kannte seinen Inhalt auswendig.
»Hallo Rainer,
verzeih mir, dass ich es dir auf diesem Wege mitteilen muss, aber ich habe es nicht fertiggebracht, es dir direkt ins Gesicht zu sagen. Ich fürchtete, dass ich schwankend werden könnte. Ab heute werde ich nicht mehr bei dir wohnen. Ich habe beschlossen, dich zu verlassen. Immer wieder habe ich versucht, dich darauf aufmerksam zu machen, dass ich auch noch da bin, und das Leben nicht nur aus beruflichen Problemen bestehen kann. Nie hast du mir eine Chance gegeben, dich zu unterstützen - hast dich immer mehr in dich zurückgezogen und ich habe es wirklich lange ertragen. Das ist nun vorbei. Ich halte dieses Desinteresse mir gegenüber nicht mehr aus. Ich kann nicht länger aus reiner Gewohnheit mit dir zusammenleben.
Vor einiger Zeit habe ich einen Mann getroffen. Du kennst ihn nicht. Du darfst mir glauben, dass es nicht meine Absicht war, mich auf einen anderen Mann einzulassen, und ich habe mich lange innerlich dagegen gewehrt, meiner Bereitschaft dazu nachzugeben. Doch bei ihm erfahre ich die Wertschätzung, die ich bei dir schon lange nicht mehr erfahren habe. Irgendwann hat sich zwischen uns etwas verändert. Ich habe das nie gewollt, doch es ist geschehen. Ich hoffe, du hasst mich nicht zu sehr dafür, doch ich werde zu ihm ziehen. Auch ich habe ein wenig Anspruch auf Glück und ich habe das Gefühl, als wenn er mir das geben könnte. Ich wünsche dir von Herzen, dass sich deine Probleme lösen lassen und du dir nicht mehr selbst im Wege stehst. Wenn du mit mir reden möchtest, rufe mich auf dem Handy an.
Ellen«
Immer wieder hatte Rainer diesen Brief gelesen. Er konnte nicht fassen, dass Ellen einen Freund hatte - dass sie ihn betrogen hatte. Er hatte nicht den geringsten Verdacht gehabt.
Der Starkregen der letzten Tage setzte wieder ein und Rainer schaltete den Scheibenwischer auf die schnellste Stufe. Trotzdem schafften es die Wischerblätter kaum, das Wasser schnell genug wegzuwischen. Eigentlich war Rainer kein riskanter Fahrer, doch jetzt bemerkte er kaum, dass er für die gegenwärtige Wetterlage erheblich zu schnell fuhr. Der Regen hatte die Fahrbahn in eine nassglänzende Fläche verwandelt und die aufspritzende Gischt der vorausfahrenden Fahrzeuge machte ein vorausschauendes Fahren unmöglich.
Rainer griff sein Handy und klappte es auf. Wie automatisch drückte er die Schnellwahltaste für Ellens Anschluss. Die Rufnummer leuchtete ihm entgegen und er starrte wie gebannt darauf. Er hatte vorgehabt, sie anzurufen, wie sie es im Brief angeboten hatte, doch er brachte es einfach nicht fertig, die Ruftaste zu drücken. Was sollte er ihr sagen? Dass er sie liebte? Dafür war es jetzt um einige Monate zu spät.
Er hielt das Telefon noch in seiner Hand, als ein Aufblitzen ihn aus seinen Gedanken riss.
»Scheiße!«, dachte er. »Auch das noch! Verdammte Verkehrskamera!«
Ärgerlich warf er das Handy auf den Beifahrersitz und schaute auf sein Tachometer. Er war mindestens vierzig Km/h zu schnell und nahm für einen kurzen Moment den Fuß vom Gaspedal.
»Ach, scheiß drauf«, dachte er und trat das Gaspedal durch. Sein Wagen schlingerte kurz und machte dann einen Satz nach vorn. Ein Fahrer, der auf der linken Spur zu überholen versuchte, hupte laut, als Rainer ihn nicht mehr vorbei ließ. Rainer verspürte ein irrationales Gefühl von Macht, als er so über die Autobahn raste. Was hatte er sonst? Zu Hause erwartete ihn eine leere Wohnung. Sein Job war auch Geschichte, das Leben ein Trümmerhaufen. Das Adrenalin in seinen Adern berauschte ihn, als der neben ihm fahrende Wagen verzögerte. Rainer bemerkte es nicht und steuerte seinen Wagen auf die Überholspur. Als er gerade einen weiteren Wagen überholte, wurde die Sicht für einen Augenblick klarer. Der Anblick ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Nur etwa hundert Meter voraus war ein Stau und er raste mit hoher Geschwindigkeit auf den LKW am Stauende zu. Instinktiv trat er die Bremse voll durch, doch auf der nassen Straße kam sein Auto nur ins Rutschen und brach zur Seite aus und raste auf den LKW zu. Mit aufgerissenen Augen erwartete Rainer den Aufprall. Die Zeit schien langsamer abzulaufen als üblich.
»Das war's also«, dachte er, dann krachte der Wagen in das stehende Fahrzeug. Rainer hörte das Kreischen von Metall und spürte einen stechenden Schmerz, der den gesamten Körper erfasste. Ein Blitz schien in seinem Kopf zu explodieren - es wurde dunkel um ihn.
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2. Ankunft in Iloo
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Als Rainers Denken wieder einsetzte, war es vollkommen dunkel um ihn. Er war verwirrt und desorientiert. Vorsichtig versuchte er, zu ertasten, wo er sich befand, doch konnte er sich nicht so bewegen, wie er es gern gewollt hätte. Etwas schien ihn festzuhalten. Die Dunkelheit war absolut undurchdringlich. Leise Panik machte sich in ihm breit. War er etwa lebendig begraben worden? Krampfhaft versuchte er, sich zu erinnern, wie er in diese Lage gekommen sein konnte.
»Für das hier muss es eine vernünftige Erklärung geben«, dachte er. »Ich darf jetzt nicht durchdrehen.«
Plötzlich fiel es ihm wieder ein: der Autounfall. Der letzte Eindruck vor dem Aufprall a war ihm noch im Gedächtnis, ebenso der stechende Schmerz, der darauf gefolgt war. Rainer war sicher, dass man einen solchen Aufprall bei der hohen Geschwindigkeit nicht überleben konnte. Trotzdem lag er hier im ... was auch immer und konnte darüber nachdenken. War er in seinem Wagen eingeklemmt? Nein, es fühlte sich anders an. Er saß nicht, er lag. Zumindest hatte er überlebt. Aber wieso konnte er nichts sehen? War er etwa blind?
Er versuchte, sich zu bewegen, doch das war keine gute Idee. Sein Körper schmerzte, wie in Feuer getaucht.
Ein Stöhnen entrann seiner Kehle. Er versuchte erneut, sich zu bewegen, doch die stechenden Schmerzen, die das verursachte, hielten ihn davon ab.
Sehen konnte er überhaupt nichts und er begann sich zu fragen, ob er bei dem Unfall blind geworden war. Aber seine anderen Sinne? Was war mit seinem Gehör? Angestrengt lauschte er auf irgendwelche Geräusche, und tatsächlich ... Da gab es weit entfernte oder gedämpfte Stimmen. Zwei Personen schienen sich zu unterhalten. Verstehen konnte er nichts, doch von den Stimmlagen her konnten es ein Mann und eine Frau sein.
Rainer versuchte, zu rufen, doch seine Stimme versagte noch weitgehend ihren Dienst.
Die Männerstimme wurde lauter, doch nicht verständlicher. Verdammt, er wollte endlich wissen, wie es um ihn stand. In seiner Vorstellung sah er sich bereits gelähmt in einem Bett liegen, und den Rest seines Lebens darin zu verbringen.
* * *
Innilu hatte sich direkt neben dem großen Kokon auf einer Liege zusammengerollt und döste vor sich hin. Man hatte ihr gesagt, es könne länger dauern, bis der Heilungsprozess so weit gediehen wäre, dass der Patient das Bewusstsein wiedererlangt.
Doch jetzt meinte sie, eine Bewegung des Kokons bemerkt zu haben.
Geschmeidig erhob sie sich und legte ihre Hände auf seine Oberfläche. Sie spürte leichte Erschütterungen.
»Herr?«, fragte sie zaghaft. »Kannst du mich hören?«
Aus dem Innern des Kokons erklang eine Stimme, aber Innilu verstand nicht, was sie sagte.
»Herr, vielleicht solltest du noch nicht viel sprechen. Es ist ein großes Glück, dass du überhaupt noch lebst. Die Explosion war gewaltig. Sie mussten dich in einen Heilungskokon stecken.«
Sie lauschte angestrengt, doch kamen keine weiteren Äußerungen aus dem Innern der Kugel. Trotzdem war Innilu glücklich, dass ihr Herr noch am Leben war. Nach der Explosion hatte es zunächst nicht danach ausgesehen, als würde er es schaffen. Für sie wäre das schrecklich gewesen. Nicht, dass sie ihrem Herrn emotional zugetan wäre, aber nach seinem Tod müsste sie zurück in die Dienerinnengemächer und würde einem anderen Herrn zugewiesen. Man wusste dabei nie, wen man bekam und was er von ihr erwartete. Also hoffte sie, dass ihr Herr gesund würde.
Die Tür wurde aufgestoßen und ein Mann betrat den Raum. Er war größer als sie und bewegte sich mit der professionellen Autorität eines Heilers.
Er blieb vor dem Kokon stehen und musterte ihn aufmerksam. Schließlich nickte er.
»Wie es scheint, ist der Patient dabei, aufzuwachen.«
Unfreundlich stieß er Innilu beiseite und prüfte den Kokon durch Handauflegen. Anschließend legte er ein Hörrohr an die Oberfläche und lauschte eine Weile. Als er fertig war, wandte er sich Innilu zu.
»Du bist seine Dienerin, nicht wahr?«
Innilu nickte.
»Dann verhalte dich gefälligst auch so! Du hattest die klare Anweisung, unverzüglich einen Heiler zu rufen, wenn du Anzeichen für ein Erwachen des Patienten bemerkst. Ihr dummen Dienerinnen seid zu nichts zu gebrauchen.«
»Es hat eine Explosion gegeben!«, rief er laut zum Kokon. »Sie haben eine erhebliche Hautschädigung und ein Schädeltrauma erlitten. Wir mussten Sie in einen Heilungskokon einschließen, der die Schäden beschleunigt beseitigen kann. Noch können wir sie nicht aus Ihrem Gefängnis befreien. Ich empfehle daher, dass sie versuchen, noch eine Weile zu schlafen. Mit etwas Glück können wir morgen einen Versuch wagen. Ihre Dienerin wird an ihrer Seite wachen und uns verständigen, wenn unser Eingreifen erforderlich wird.«
Er wandte sich erneut Innilu zu: »Hast du das verstanden? Noch eine Verfehlung und ich nehme mir das Recht, dich zu bestrafen.«
Innilu senkte demütig den Blick und nickte. Sie wusste, dass es bei der Heiler-Gilde durchaus üblich war, Dienerinnen auch körperlich zu züchtigen, wenn sie Fehler machten. Sie wollte diesem Heiler ganz sicher keine Angriffsfläche bieten, von diesem Recht Gebrauch zu machen.
Nachdem der Heiler gegangen war, lauschte sie noch einmal an der Oberfläche des Kokons, aber es war nichts zu hören. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Herr einfach wieder eingeschlafen war. Für die nächsten Stunden rollte sie sich wieder auf ihrer Liege am Fuße des Kokons zusammen und versuchte, ebenfalls etwas zu schlafen.
Am nächsten Morgen erschien der Heiler erneut im Raum und trat mit forschen Schritten an den Kokon heran.
»War in der Zwischenzeit alles ruhig?«, fragte er Innilu. »Oder hast du es lediglich wieder unterlassen, es weiterzumelden?«
»Nein, Herr. Ich hätte es wirklich sofort gemeldet, wenn es innerhalb dieses Kokons Bewegung gegeben hätte.«
»Nun gut. Wir werden den ersten Versuch starten, deinen Herrn aus dem Behälter zu holen. Geh und schließe die Sonnenblenden an den Fenstern. Der Patient war lange in absoluter Dunkelheit. Seine Augen müssen sich erst wieder an Licht gewöhnen.«
Innilu sprang auf und war in wenigen Sätzen an den Fenstern. Rasch schloss sie die Blenden und es wurde dämmrig im Raum. Ihre Augen passten sich innerhalb von Sekunden an die geringe Lichtfülle an und sie konnte ebenso gut sehen wie zuvor.
Der Heiler hatte sich indes am Verschluss des Kokons zu schaffen gemacht. Dabei erklärte er laut, was er tat und was auf den Patienten zukam.
»Bitte nicht erschrecken. Beim Öffnen des Behälters wird es Ihnen kalt vorkommen, aber das legt sich nach ein paar Augenblicken. Halten Sie bitte die Augen geschlossen. Wir haben die Beleuchtung ausgeschaltet und die Sonnenblenden geschlossen. Aber Sie waren über viele Stunden in Dunkelheit und ihre Augen werden einen Moment brauchen, bis Sie normal sehen können. Noch ein paar Handgriffe und wir werden sehen, was dieser Behälter geleistet hat. Ich bin aber guter Hoffnung, dass der Heilungsprozess recht weit fortgeschritten ist.«
Innilu hielt sich etwas abseits und versuchte, herauszufinden, ob ihr Herr auch etwas sagte. Ihr Gehör war außerordentlich gut, aber sie konnte nicht ein einziges Wort von dem verstehen, was durch die Verschlüsse des Kokons drang.
Nachdem der Heiler den letzten Verschluss geöffnet hatte, hielt Innilu den Atem an. Jetzt würde sich entscheiden, wie es ihrem Herrn ging und wie es letztlich auch mit ihrem Leben weiterging.
Die obere Hälfte des Kokons klappte auf und sie konnte den Patienten sehen, der darin steckte. Er bewegte sich leicht und Innilu atmete erleichtert auf. Er sah aus wie immer, abgesehen davon, dass er komplett nass wirkte.
Er hob den Kopf und starrte sie beide abwechselnd mit fragendem Blick an.
Der Heiler machte eine auffordernde Geste. »Sie können versuchen, sich aufzusetzen. Ihr Kreislauf muss erst wieder in Schwung kommen.«
ihr Herr reagierte nicht, sondern starrte sie nur weiter an.
Der Heiler wandte sich zu Innilu. »Vielleicht trittst du vor und sprichst mit deinem Herrn. Er wirkt noch traumatisiert. Manchmal hilft es, wenn bekannte Personen den Kontakt herstellen.«
Innilu trat vor und sah ihren Herrn prüfend an. »Herr? Ich bin es ... Innilu. Erkennst du mich nicht?«
Er reagierte nicht. Innilu wurde nervös. Er sah doch völlig normal aus. Warum sprach er nicht?
Der Heiler griff an ihr vorbei und versuchte, das Handgelenk seines Patienten zu greifen. »Warten Sie, ich versuche, Ihnen zu helfen.«
Sein Patient riss die Hand förmlich weg und rief irgendetwas, das niemand von ihnen verstand.
Zum ersten Mal wirkte der Heiler irritiert. Er sah Innilu ratlos an.
»Verstehst du, was er sagt? Es ist, als würde er in einer fremden Sprache zu uns sprechen. Hat er jemals zuvor so gesprochen?«
Innilu schüttelte den Kopf. »Ich habe so etwas noch nie von ihm gehört. Und ich verstehe es auch nicht.«
»Ich werde mich mit meinen Kollegen beraten müssen«, sagte der Heiler. »Du wirst hier bei deinem Herrn bleiben und ihm helfen, wieder auf die Beine zu kommen.«
Er deutete auf einen kleinen, roten Knopf an der Wand. »Dort drückst du drauf, solltest du das Gefühl haben, Hilfe zu benötigen. Hast du das verstanden?«
Innilu nickte und schwieg. Als der Heiler das Zimmer verließ, beschlich Innilu ein eigenartiges Gefühl und ihr war nicht wohl dabei, mit ihrem Herrn allein zu bleiben. Irgendetwas stimmte nicht.
* * *
Als Rainer spürte, dass sich außerhalb seines Gefängnisses etwas tat, wurde er ganz aufgeregt. Er hatte die Hoffnung, dass man ihn endlich aus diesem Ding herauslassen würde. Irgendjemand redete draußen wieder und er hatte das Gefühl, als wären diese unverständlichen Worte an ihn gerichtet. Hatte man ihn etwa in ein Krankenhaus im Ausland gebracht, wo man ihn besser behandeln konnte? Doch wo sollte das sein? Die Sprache, die er hörte, hatte er noch nie gehört. Auch, wenn er kein Spanisch, Italienisch oder Französisch beherrschte, kannte man zumindest den Klang dieser Sprachen. Oder konnte es Polnisch, Türkisch oder eine der übrigen Sprachen Osteuropas sein?
Er verwarf es wieder. Es schien alles nicht zutreffend.
Unvermittelt klappte sein Behälter auf und die Oberschale wurde durch ein Scharnier über seinem Kopf gehalten.
Es war dämmrig im Raum und im ersten Moment konnte er nicht viel erkennen. Aber das war ihm gleich, denn das Einzige, das zählte, war die Tatsache, dass seine Augen noch funktionierten. Er war nicht blind.
Rainer bewegte seinen Körper. Es tat auch nicht mehr so weh wie noch ein paar Stunden zuvor. Was immer das für ein Behälter war ... Er hatte wahre Wunder bewirkt.
Sein Sehempfinden wurde immer besser. Es störte ihn nicht einmal mehr, dass es so dunkel im Raum war. Überrascht bemerkte er, dass er jede Einzelheit an der Zimmerdecke glasklar erkennen konnte, obwohl er doch sonst stets eine Brille getragen hatte. Er hob den Kopf und sah sich im Zimmer um. Vielleicht hätte er das nicht tun sollen, denn jetzt spielten ihm seine Augen einen Streich.
Vor ihm stand ein überdimensionaler Kater auf seinen Hinterbeinen und sah ihn aus grünen Augen an.
Der Kater machte eine Bewegung mit dem Arm. Offenbar eine Aufforderung an ihn, sich aufzusetzen. Dabei sprach er unverständliche Worte. Rainer wusste nicht, was ihn mehr schockierte: Die Tatsache, dass vor ihm ein riesiges Katzentier stand, oder dass dieses Wesen auch noch sprechen konnte. Er brachte es nicht fertig, zu antworten, und starrte das Wesen nur an.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine Bewegung und er sah ein weiteres Tier, das aufrecht auf den Hinterbeinen stand. Es war etwas kleiner. Es trat vor und redete auf ihn ein. Es klang genauso, wie die Sprache, in der das erste Wesen ihn angesprochen hatte. Das zweite Wesen war offenbar ein Weibchen. Er überlegte. Woher wusste er das? Geschlechtsmerkmale hatte er bisher nicht erkennen können. Dann begriff er: Seine Nase hatte es ihm verraten. Diese Erkenntnis war nicht dazu geeignet, seine Verwirrung zu beseitigen. Seit wann konnte er riechen, ob er ein männliches oder weibliches Tier vor sich hatte?
Der Kater kam wieder auf ihn zu und versuchte, ihn anzufassen. Rainer zog seinen Arm heftig zurück und atmete schwer. Die beiden Wesen redeten miteinander und der Kater verließ kurz darauf den Raum. Zurück blieben er und dieses Katzenweibchen. Sie betrachtete ihn aufmerksam und schien auf etwas zu warten.
Rainer hielt seinen Arm noch immer in der Position, als er ihn dem Kater entzogen hatte. Er ließ ihn fallen und bemerkte erst jetzt, dass er mit Fell bedeckt war.
Erschreckt hielt er ihn vor seine Augen und strich mit der anderen Hand darüber. Auch sie war so behaart wie die andere. Er blickte an sich herunter und er sah das, was er befürchtet hatte: Sein gesamter Körper war behaart. Genau genommen sah er genauso aus wie der Kater, der soeben den Raum verlassen hatte.
War er bisher nur verwirrt, beschlich ihn nun Angst. Wo war er gelandet? Er erinnerte sich noch genau an den Unfallhergang, den Aufprall, den Schmerz und die gnädige Bewusstlosigkeit. Doch wie war er in diesen Körper gelangt? Und was waren das für Wesen? Intelligente Katzen? Eine Welt, die den Katzen gehört? Er hatte noch nie davon gehört, dass es so etwas gab. Es fühlte sich an, als wäre man in eine verrückte Geschichte geraten – nur, dass diese Geschichte real war.
Oder fühlte sie sich nur real an? Träume konnten immens real wirken, selbst wenn sie noch so verrückt waren. Genau, das musste es sein. Er befand sich noch immer in einem Traum. Den Unfall hatte er offenbar überraschend überlebt, aber vermutlich hatte er das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Konnte man in einem Traum solche Überlegungen anstellen? Es war zum Verrücktwerden.
Und da stand auch noch immer diese Katze, die ihn aufmerksam musterte.
Er winkte sie zu sich heran. Es musste eine Möglichkeit geben, diesen Traum zu beenden.
»Hey, komm her!«
Die Katze setzte sich in Bewegung und kam zu ihm. Es war absolut befremdlich, zu sehen, wie sie auf ihren Hinterbeinen auf ihn zukam.
»Mi, sen mililinisi lan?«, sagte sie. Zumindest klang es so. Verstehen konnte er es nicht. Das Wesen wirkte allerdings auch verzweifelt, dass er nicht darauf reagierte.
Die Situation ließ sich nur beherrschen, wenn es gelang, mit diesen Wesen zu kommunizieren. Doch, wie sollte er das anstellen? Vielleicht sollte er zunächst versuchen, den Namen dieses Wesens herauszufinden.
Rainer setzte sich gerade hin. Er verspürte noch immer leichten Schwindel und ließ sich Zeit mit dem Aufstehen. Mit einer Hand deutete er auf sich und sagte: »Rainer.«
Seine Sprechwerkzeuge waren jedoch nicht geeignet, diesen Namen richtig auszusprechen und es kam ein »Aina« dabei heraus.
Die Katze sah ihn aufmerksam an. Sie deutete mit der Hand auf sich selbst. »Innilu.«
Sollte das ihr Name sein? Ich deutete auf sie: »Innilu?«
Sie nickte heftig, was irritierend menschlich wirkte. »Innilu!«
Rainer deutete wieder auf sich selbst: »Aina.«
Innilu schüttelte den Kopf. Die Bedeutung dieser Gesten war offenbar gleichbedeutend mit menschlichen Gesten. Sie deutete auf ihn und sagte bestimmt: »Inolak.«
Rainer versuchte es wieder und zeigte zunächst auf sie und dann auf sich: »Innilu – Aina«
Sie schüttelte den Kopf: »Innilu – Inolak«
Damit war klar, dass dieses Wesen Innilu hieß, aber dass sie Rainer für jemanden hielt, der den Namen Inolak hatte. Er steckte offenbar im Körper eines fremden Wesens. Aber warum war das so und vor allem: Wo war dieses Wesen geblieben, dem dieser Körper gehörte? Und wie kam er aus dieser verfahrenen Situation wieder heraus?
Nach einiger Zeit kam der Kater zurück, den er bereits kennengelernt hatte. Er sprach minutenlang auf Innilu ein, die mal aufmerksam, mal demütig den Worten dieses Mannes lauschte. Was hätte er darum gegeben, zu verstehen, worum es dabei ging.
Rainer hatte sich inzwischen aus diesem eigenartigen Behälter erhoben und stand ebenfalls auf seinen Hinterbeinen. Es war nicht zu leugnen, dass er selbst nun auch ein großer, aufrecht gehender Kater war. Der Körper fühlte sich verblüffend vertraut an und es war kein Problem, sich darin zu bewegen.
Der andere Kater musste wohl so etwas wie ein Arzt sein, denn er überprüfte alle Körperbewegungen und war erst nach einer längeren Untersuchung zufrieden. Es blieb jedoch noch immer die Frage, welche Rolle er in dieser merkwürdigen Welt spielte und wie er sich darin zurechtfinden sollte, wenn er nicht einmal die Sprache dieser Wesen beherrschte.
Wie das funktionieren sollte, begriff er erst im Laufe der Zeit, denn er verblieb lange in dieser Einrichtung, die vermutlich das Gegenstück zu einem Krankenhaus war. Wochenlang lebte er in diesem Raum, in dem er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war. Diesen Kokon hatte man gleich entfernt, als er nicht mehr gebraucht wurde. Aber es war nicht zu übersehen, dass die Ärzte besorgt darüber waren, dass er scheinbar seine Sprache verloren hatte.
Eine große Hilfe war ihm das Katzenwesen Innilu. Sie war außerordentlich bemüht um sein Wohl und ständig damit beschäftigt, Essen oder Getränke zu besorgen und es ihm so angenehm wie möglich zu machen. Rainer fragte sich, welche Rolle sie in diesem eigenartigen Spiel hatte. Ständig war sie um ihn, schlief in demselben Raum wie er, wobei sie sich neben seinem Bett auf einer Matte zusammenrollte. Würde man sie nicht vermissen, wenn sie immer bei ihm war? Hatte sie eine Familie, oder vielleicht einen Partner?
Plötzlich kam ihm ein Gedanke: War er vielleicht ihre Familie?
Rainer betrachtete Innilu kritisch. War er vielleicht ihr Partner? Oder könnte sie seine Tochter sein? Er versuchte, ihr Alter zu schätzen, doch das wollte ihm nicht gelingen. Zu fremdartig war ihre Erscheinung noch für ihn. Und es war wenig hilfreich, dass er sich nicht mit ihr oder sonst wem in dieser Welt unterhalten konnte.
Von Zeit zu Zeit blickte der Arzt herein, sprach mit Innilu, gab ihr irgendwelche Befehle und verschwand wieder. Was mochte dieser Arzt über ihn denken? Hielt er ihn für geistig gestört? Musste er deshalb so lange in diesem ... Krankenhaus verbleiben? Seine Verletzungen waren abgeheilt und körperlich fühlte er sich fit. Selbst mit dem Katzenkörper hatte er sich weitgehend abgefunden, auch wenn es ihm noch immer schwerfiel, den langen Schwanz bei seinen Bewegungen zu berücksichtigen. Auch der Umgang mit den Krallen an Fingern und Zehen war noch nicht perfekt. Einmal hatte er unabsichtlich Innilu leicht damit verletzt und fast einen Tag lang hatte sie sich ängstlich von ihm ferngehalten. Rainer war jedoch sicher, dass sie inzwischen begriffen hatte, dass es ein Versehen gewesen war.
Jedenfalls bewegte sie sich wieder unbefangen im Raum und von Angst war nichts mehr zu spüren. Sein Blick folgte ihr und er stellte fest, dass er die Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen bewunderte. Überhaupt sah er sie inzwischen mit anderen Augen. Zu Anfang hatte er in ihr nur eine zu groß geratene Katze gesehen, doch jetzt nahm er sie als junge und überaus hübsche Frau wahr. Vermutlich hatte es damit zu tun, dass er selbst im Körper ihrer Rasse steckte und seine Wahrnehmung sich verschob. Er konnte mittlerweile auch Innilus Stimmungslage an ihren Gesten oder ihrem Blick ablesen.
Rainer traf eine Entscheidung. Er musste unbedingt in der Lage sein, zu kommunizieren, ihre Sprache erlernen. Das war nichts, was ihm gefiel, denn man lernt nicht so schnell eine fremde Sprache und diese hier hatte ganz gewiss ihre Wurzeln nicht in einer der menschlichen Sprachen.
»Innilu!«, rief er und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich.
Sie schaute fragend zu ihm herüber. Er klopfte erneut und machte eine auffordernde Geste.
Zögernd kam sie näher und wollte sich zu seinen Füßen setzen. Rainer griff ihren Arm und schüttelte den Kopf. Mit einem Seitenblick deutete er neben sich. »Bitte setz dich zu mir.«
Innilu verstand zwar nicht die Worte, wohl aber deren Sinn. Sie zögerte noch einen Moment, dann ließ sie sich neben ihm nieder, vermittelte aber den Eindruck, sich dabei unwohl zu fühlen. Er legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm und achtete peinlich darauf, die Krallen nicht auszufahren. Erwartungsvoll sah sie ihn an.
Rainer deutete auf das Fenster und nannte die Bezeichnung »Fenster«. Dann zeigte er auf Innilu und anschließend auf das Fenster. Sie verstand nicht. Er wiederholte es und deutete direkt auf ihren Mund. Da erhellte sich ihr Blick und sie schien verstanden zu haben.
»Lenat«, sagte sie und zeigte auf das Fenster.
Rainer deutete nun ebenfalls dorthin und wiederholte »Lenat«. Innilu nickte eifrig. Der erste Schritt war gemacht. Mit der Hand deutete er nun an, er würde etwas schreiben.
Innilu sah ihm eine Weile zu, dann verstand sie. Sie sprang auf und lief aus dem Raum. Eine Weile später erschien sie mit einer Anzahl weißer Blätter und Stiften.
Von diesem Tag an löcherte er Innilu mit unzähligen Fragen. Er ließ sich von jedem Gegenstand im Raum den Namen sagen und schrieb auf, was sie gesagt hatte. Vermutlich war alles falsch geschrieben, aber es ging ja darum, das gesprochene Wort zu lernen. Nach den Begriffen ging es weiter mit Tätigkeiten und im Laufe der Zeit gelang es ihm, einfache Gespräche mit Innilu zu führen. Mit jedem Gespräch fiel es ihm leichter, diese fremde Sprache zu sprechen und nach einer Weile begann das Hölzerne, das seine Sätze zunächst geprägt hat, allmählich zu verschwinden.
Wie lange er schon mit dieser Frau arbeitete, die sich so aufopfernd um ihn kümmerte, wusste er nicht mehr. Es mussten schon viele Wochen sein, aber er hatte das Gefühl dafür verloren. In all der Zeit hatte er ihr Fragen gestellt und sie hatte versucht, sie zu beantworten. Aber den Fragen, die sie selbst betrafen, waren sie bisher aus dem Wege gegangen. So wusste er noch immer nicht, welche Art von Beziehung sie führten. Sie redete ihn konsequent als »Herr« an oder als Inolak, wenn sie einen Namen benutzte.
Er winkte Innilu heran und hinderte sie, wie jedes Mal, daran, sich zu seinen Füßen niederzulassen.
»Innilu, warum versuchst du immer, dich vor mir auf den Boden zu setzen?«, fragte er.
»Herr, ich muss auf dem Boden sitzen. So verlangt es das Gesetz.«
»Ein Gesetz verlangt das von dir? Hat es damit zu tun, dass du mich ständig Herr nennst? Warum tust du das überhaupt?«
Innilu schien nicht zu verstehen, worauf er hinaus wollte. »Du bist mein Herr, Inolak. Ich bin deine Dienerin, über die du uneingeschränkt verfügen kannst. Ich bin dir zu diensten.«
»Meine persönliche Dienerin?«, fragte er. »Warum habe ich eine Dienerin? Was bin ich für ein Mensch?«
»Was ist ein Mensch?«, fragte sie. »Entschuldige die Frage. Ich bin nur eine dumme Dienerin.«
Rainer lächelte. »Du bist nicht dumm, Innilu. Mach dich nicht kleiner als du bist. Du hast mir eure Sprache beigebracht, vergiss das nicht. Es war mein Fehler. Wie nennt man unser Volk?«
»Feliden. Wir nennen uns Feliden.«
Er nickte. »Und was bin ich für ein Felide? Behandle ich dich gut? Was tue ich überhaupt, wenn ich gerade mal nicht monatelang in einem Krankenhaus bin?«
Sie sah ihn misstrauisch an und schwieg.
»Ist meine Frage so schwer zu beantworten?«, fragte Rainer. »Ich will wissen, ob ich dich gut behandle.«
»Ich möchte nichts Falsches sagen«, meinte sie vorsichtig. »Ich möchte nicht geschlagen werden, wenn dir meine Antwort nicht gefällt.«
»Bitte? Ich will dich doch nicht schlagen. Es ist eine einfache Frage ... Wurdest du denn von mir in der Vergangenheit geschlagen?«
Innilu wand sich, bevor sie sagte: »Herr, ich kann nicht klagen. Du hast mich bisher immer nur geschlagen, wenn ich es auch verdient und einen Fehler begangen habe.«
Rainer konnte es nicht fassen. Offenbar war er in die Identität und den Körper eines Wissenschaftlers dieser eigenartigen Welt geschlüpft und hatte nun sogar eine Dienerin oder Leibeigene. Er konnte nur nicht glauben, dass er, oder besser der frühere Besitzer seines Körpers dieses andere Wesen züchtigte. Es schien eine gewalttätige Welt zu sein. Er hoffte nur, dass er nicht bis in alle Zeit hier gefangen sein würde. Ihm war daran gelegen, sein altes Leben zurückzubekommen, auch wenn es zuletzt eher ein Trümmerhaufen gewesen war. Aber zunächst war er hier und hatte keine Ahnung, wie man hier zurechtkommen konnte. Seine einzige Chance war Innilu.
»Das wird ab jetzt nicht wieder geschehen, Innilu!«, sagte er. »Kein Mann sollte eine Frau schlagen.«
Innilu sah kurz auf, bevor sie wieder ihren Blick senkte. Rainer hatte jedoch erkennen können, dass eine hintergründige Wut in Innilus Augen zu erkennen war, was so gar nicht zu der unterwürfigen Art passte, die sie bisher gezeigt hatte.
»Wolltest du etwas sagen? Dann sieh mich an und sprich es aus. Ich will es hören.«
Innilu hob ihren Kopf und Rainer sah, dass es wirklich Wut war, die aus ihren Augen hervorstach.
»Das sagst du, Herr?«, fragte Innilu. »Du bist doch der Repräsentant der Konservativen im Rat. Du Herr, hast doch das Gesetz zur Disziplinierung der Frau in den Rat eingebracht. Und nun, Herr? Jetzt willst du mir sagen, dass du auf weitere Züchtigungen verzichten willst?«
Man konnte Innilu ansehen, dass sie über ihren Mut selbst überrascht war. Instinktiv nahm sie wieder ihre demütige Haltung an, um die Strafe für ihre Entgleisung nicht zu hart ausfallen zu lassen. Doch als nichts geschah, hob sie langsam den Kopf und sah Rainer an. Sie bemerkte ein amüsiertes Blitzen in seinen Augen.
»Ganz so demütig scheint mir die Dienerin Innilu nicht zu sein, nicht wahr? Du hast mehr in deinem kleinen Kopf, als du vorgibst. Du musst mir unbedingt berichten, wer ich überhaupt bin.«
Innilu hob vorsichtig ihren Blick, um Rainer anzusehen. Es war eine Ungeheuerlichkeit von ihr, Inolak seinen Gesetzesentwurf zur Disziplinierung der Frau vorzuwerfen. Instinktiv wappnete sie sich gegen die zu erwartende Strafe. Zwar hatte Inolak eben gesagt, dass er sie nicht schlagen würde, doch was hatte es schon zu bedeuten, wenn ein Mann solche Versprechungen machte? Innilu war verwirrt. Inolak war ein brillanter Wissenschaftler und sie war stolz darauf, ihm, und nicht einem der anderen Wissenschaftler zu dienen. Einige der anderen Frauen der Gilde wurden von ihren Herren wie Sklavinnen gehalten und mussten in erster Linie niedere Arbeiten verrichten und die sexuellen Bedürfnisse ihrer Herren befriedigen. Inolak war da etwas anders. Er liebte es, sie ständig um sich zu haben, und sich rund um die Uhr von ihr bedienen zu lassen. Natürlich gehörte es auch zu ihren Pflichten, seine sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen, doch das störte sie nicht, da Inolak kein gewalttätiger Mann war. Innilu mochte es, dass Inolak oft jemanden brauchte, dem er seine Ideen und Theorien erklären konnte. Nicht, dass sie alles verstand, was er erzählte. Inolak brauchte es aber, um sich über manche Dinge selbst klar zu werden, und sie profitierte davon, in dem sie Dinge erfuhr und lernte, die andere Frauen niemals erfuhren. Dies hatte schon dazu geführt, dass Innilu innerhalb der Gruppe der Dienerinnen der Wissenschaftler-Gilde etwas isoliert war. Viele Frauen hatten den Eindruck, dass Innilu sich als etwas Besseres betrachtete. Dass es sich nicht so verhielt, musste Innilu allerdings oft genug am eigenen Leib erfahren, wenn sie zum Beispiel einen Fehler gemacht hatte, oder einen Befehl Inolaks nicht zu dessen Zufriedenheit ausgeführt hatte. Dann bekam sie Inolaks Zorn zu spüren, und dann konnte es durchaus geschehen, dass sie Schläge erhielt. Im Großen und Ganzen war Innilu nicht unzufrieden mit ihrer Situation. Sie war halt eine Frau, und damit waren ihre Möglichkeiten eben begrenzt.
Innilu verstand zwar nicht, warum sie ihrem Herrn erst erklären sollte, wer er war, aber er hatte ausdrücklich darum gebeten, also erzählte sie ihm alles, was ihr eben durch den Kopf gegangen war, und Inolak lauschte interessiert ihren Worten.
Abschließend berichtete sie von den Ereignissen, die dazu geführt hatten, dass sie sich im Heiler-Turm aufhielten - oder dem Krankenhaus, wie Inolak es immer wieder nannte.
»Es hat also eine Explosion gegeben? Und ich wurde verletzt?«, fragte Rainer.
»Ja Herr. Du schicktest mich, um eine Besorgung zu machen. Als ich zurückkehrte, war es bereits geschehen. Ich dachte erst, du wärst tot. Die Erleichterung war groß, als ich erfuhr, dass du noch lebst. Lomak hat sofort reagiert und einen Transport zum Turm der Heiler angeordnet.«
»Wer ist Lomak?«, fragte Rainer.
»Du kennst nicht mehr unseren Ältesten? Lomak ist der Älteste der Wissenschaftler-Gilde. Ihr seid sogar befreundet.«
Rainer schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß leider nicht, wer Lomak ist. Ich fürchte, du wirst mir noch viel zu erklären haben.«
»Darf ich dir auch eine Frage stellen, Herr?«
»Ja sicher, wenn ich sie dir beantworten kann.«
»Was ist ein Mensch? Du hast dieses Wort vorhin benutzt und ich bin sicher, du hast dich selbst damit gemeint.«
Rainer lächelte. »Mein Gott, wie weit bin ich eigentlich von zu Hause weg?«
»Was sagtest du, Herr?«
Er deutete neben sich. »Setz dich, Innilu. Du hast ja völlig recht. Auch du hast Fragen und ein Anrecht darauf, Antworten zu erhalten.«
Innilu nahm zögernd Platz. »Dienerinnen dürfen niemals neben ihrem Herrn sitzen. Eigentlich müsste ich zu deinen Füßen sitzen.«
Sie wollte schon vom Sitz rutschen, als Rainer ihr seine große Hand auf den Oberschenkel legte, um sie zurückzuhalten. Es war ihm bisher noch überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass er neben einer Frau saß, mit nichts weiter, als einem Körperfell bekleidet. Rainer hatte in dem Katzenwesen neben sich bisher kein sexuelles Wesen erblickt, sondern nur ein fremdes, das ihm seine Fragen beantworten sollte. Jetzt musste er feststellen, dass sein Körper sich der Gegenwart dieser Frau bewusst war. Die Nähe Innilus, zusammen mit der Berührung der Hand, ließ ihn ein Kribbeln in den Lenden verspüren, das ihm zutiefst peinlich war. Innilu bemerkte es und machte sich auf das gefasst, was normalerweise nun folgen würde.
»Tut mir leid«, sagte Rainer. »Das ist sonst nicht meine Art.«
Innilu war vollkommen überrascht. »Es muss dir nicht peinlich sein, Herr. Du bist ein Mann. Wenn du es möchtest, werde ich dir zu Diensten sein.«
Rainer konnte es nicht fassen. Er hatte Schwierigkeiten damit, seine Situation zu verstehen, und erst recht, sie auch zu akzeptieren. Die Frau an seiner Seite war, wie es schien, eine Art Mischung aus Dienerin, Sklavin und Sexobjekt. So, wie sie sich gab, schien es sogar völlig normal zu sein. Rainer wollte das alles nicht. Er wollte keine Sklavin, er wollte sich einfach nur unterhalten. Vielleicht würde er dann einen Weg finden, in seine eigene Welt zurückzukehren. Rainer fasste einen Entschluss.
»Ich möchte jetzt ein paar Dinge klarstellen: du wirst mich ab sofort nicht mehr mit ›Herr‹ ansprechen, sondern mit meinem Namen. Ich heiße Rainer.«
Wie Wochen zuvor misslang die Aussprache auch diesmal und es klang wie »Aina«.
»Das hast du schon einmal gesagt«, meinte Innilu irritiert. »Aber dein Name ist Inolak.«
Sie musterte ihn kritisch.
Rainer ließ sie gewähren, denn er sah, dass es hinter ihrer Stirn arbeitete. Plötzlich zogen sich die Schlitze in ihren Augen noch weiter zusammen.
»Darf ich offen sprechen? Ich möchte auch nicht bestraft werden.«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich dich nie schlagen werde. Du hast mein Wort. Sag einfach, was dich bewegt.«
»Ich bin bereits seit Jahren deine Dienerin, aber seit dem Unfall im Labor bist du anders. Bitte verstehe es nicht falsch. Ich möchte nicht bestraft werden, aber du verlangst Dinge von mir, die einer Frau nicht zustehen. Ich soll dich ansehen, wenn wir miteinander reden. Ich soll neben dir sitzen. Es ist dir peinlich, wenn dein Körper auf mich reagiert. Ich soll dich nicht Herr nennen.«
Sie stockte einen Moment.
»Du wirkst wie mein Herr - und dann auch wieder, als wärst du jemand ganz anderes. Ich erkenne dich nicht wieder. Ich denke, dass es noch die Nachwirkungen deiner Verletzungen sind und du dich bald wieder erinnern wirst. Trotzdem bist du irgendwie anders. Ich bin nur eine Dienerin und verstehe nicht so viel davon, aber dieser eigenartige Name, den du mir genannt hast ... Ist es normal, dass man alles vergessen hat, aber sich an einen Namen erinnert, den ich noch nie gehört habe?«
Rainer schüttelte seinen Kopf. »Das ist nicht normal, Innilu. Ich will versuchen dir etwas zu erklären - jedenfalls soweit ich das bisher selbst verstehe. Du kannst dich an diese Explosion erinnern, die Inolak so schwer verletzt hat, dass man ihn hierher bringen musste. Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist eine Fahrt mit einem schnellen Fahrzeug - einem Auto. Ich weiß nicht, ob du so etwas kennst. Ich bin mit diesem Fahrzeug verunglückt und wurde dabei schwer verletzt, möglicherweise sogar getötet. Doch ich bin nicht tot, sondern erwache hier bei dir, in diesem eigenartigen Krankenhaus. Ich stecke in einem Körper, der nicht meiner ist, und entdecke, dass diese ganze Welt hier ebenfalls nicht meine ist. Mein Name ist wirklich Rainer und ich bin weder ein Wissenschaftler, noch hatte ich bis heute eine Dienerin.«
Innilu sah ihn mit einem leicht spöttischen Blick an. »Herr, warum erzählst du mir eine so verrückte Geschichte? Möchtest du, dass man dich für verrückt hält? Wenn die Wissenschafltergilde zu der Überzeugung kommt, dass du nicht mehr normal bist, wird man dich nicht mehr zurückhaben wollen. Dann wird man mich in den Dienerinnen-Pool stecken und neu zuweisen. Ich will das nicht, Herr. Ich möchte weiter deine Dienerin sein. Erzähl bitte nicht überall diese Geschichten, ja?«
Rainer konnte den flehenden Ausdruck in ihren Augen sehen. Offenbar war er wirklich kein so schlimmer Herr für sie, wie er es sich ausgemalt hatte. Aber sie glaubte ihm seine Geschichte nicht. Er fragte sich, ob er das jemandem glauben würde, und musste sich eingestehen, dass er es nicht getan hätte.
»Du glaubst mir nicht.«
Innilu nickte. »Das kannst du wohl sagen, und du kannst es mir auch nicht verübeln. Vielleicht hast du im Kokon Alpträume gehabt. Alpträume können durchaus verrückt sein und einem wirklich erscheinen. So etwas könnte ich glauben, und ich könnte auch sicher sein, dass es vorübergehen würde. Du würdest wieder normal werden.«
»Ist dir eigentlich bewusst, dass du dich die ganze Zeit über mit mir in einem Ton unterhältst, den du zu Beginn nicht einmal gewagt hättest? Du scheinst ganz tief in dir drinnen doch zu ahnen, dass ich nicht mehr derselbe bin.«
Sie sah ihn einen Moment schweigend an.
»Vielleicht hast du recht und ich spüre, dass etwas anders ist, aber das bedeutet nicht, dass ich dir diesen Unfug abnehme, den du mir erzählt hast. Aber ich spiel einfach mal dieses Spiel mit. Wenn du wirklich nicht Inolak bist, und nicht in diese Welt gehörst, dann wirst du mir sicher erklären können, aus was für einer Welt du stammst, oder etwa nicht?«
»Du willst mich testen? Du willst, dass ich mich in meinen eigenen Erzählungen verstricke und mich widerlege, ist das richtig?« Er musste lächeln, denn so, wie sich Innilu ihm gegenüber verhielt, würde sie sich ihm gegenüber niemals verhalten haben, wenn er dieser fremde Wissenschaftler gewesen wäre.
»So ist es«, sagte sie knapp. »Fang an, ich werde zuhören und aufpassen, was du zu erzählen hast.«
»Zunächst einmal: Meine Welt heißt Erde und die am höchsten entwickelten Lebewesen auf der Erde sind Menschen. Ich bin einer dieser Menschen. Ich bin auch in meiner Heimatwelt ein Mann - genau wie hier. Auch bei uns gibt es Männer und Frauen und sie leben oft zusammen, entweder in einer Ehe oder einfach nur, weil sie auch ohne eine solche Ehe zusammenbleiben möchten.«
»Was ist eine Ehe?«, fragte Innilu dazwischen.
»Es ist im Grunde ein Versprechen, das sich ein Paar gegenseitig gibt, das ganze Leben zusammenzubleiben. Aber es ist noch mehr. Man geht eine sehr enge Bindung ein. Ich weiß nicht, wie ich es besser erklären kann.«
»Also verstehe ich das richtig, dass bei euch die Männer ihre Dienerinnen ein Leben lang an sich binden, sie an sich ketten?«
»Nein, das hast du vollkommen falsch verstanden! Männer und Frauen tun das freiwillig. Frauen sind bei uns auch keine Dienerinnen der Männer. Gibt es bei euch denn überhaupt keine gleichberechtigten Frauen?«
Für einen Moment war Innilu sprachlos. »Wie jetzt? Gleichberechtigt? Wie muss ich mir das vorstellen? Schlagt ihr eure Frauen nicht?«
»Verdammt nein!«, rief Rainer aus. »Dreht sich bei euch denn alles nur um Gewaltausübung gegen Frauen? Natürlich gibt es auch bei uns Männer, die gewalttätig gegenüber ihren Frauen sind, aber das ist verboten und kann bestraft werden. Im Normalfall wird nicht geschlagen. Frauen haben auch bei uns die gleichen Rechte wie Männer. Niemand darf eines anderen Eigentum sein. Die Meinung von Mann und Frau zählt gleich viel. Männer und Frauen haben grundsätzlich das Recht, jeden Beruf auszuüben, wenn sie die Befähigung dazu haben und so weiter. Gleichberechtigung geht viel weiter, und ist nicht nur der Verzicht auf gegenseitige Gewalt.«
»Das ist schon sehr fremdartig, was du mir da erzählst«, meinte Innilu, »aber es ist noch immer nur eine Geschichte. Woher soll ich wissen, ob du mir nicht eine gut erdachte Geschichte erzählst? Ich gebe zu, der Gedanke, dass wir Frauen nicht euer Eigentum sind und die gleichen Rechte haben, wäre verlockend, aber es ist absolut unmöglich. Überraschend ist nur, dass es ausgerechnet ein Mann ist, der solche Fantasien äußert. Erzähl mir mehr. Erzähl von deiner Welt, von dem was du dort gemacht hast.«
In der nächsten Stunde berichtete Rainer Innilu von seinem bisherigen Leben, seinem Beruf, dem Scheitern seiner Ehe, dem Niedergang seines Arbeitgebers, seiner Depression und schließlich seinem verheerenden Autounfall, nach dem er dann in dieser Welt und in diesem Körper wieder wach geworden war. Innilu hatte gebannt den Ausführungen Rainers gelauscht und hin und wieder eine Frage eingeworfen, wenn ihr etwas zu fantastisch vorkam. Sie stellte fest, dass der neue Inolak über Wesensmerkmale verfügte, die ihr sympathisch waren. Das hatte sie bis jetzt noch nie bei einem Feliden-Mann empfunden. Er sprach mit ihr tatsächlich wie mit einem gleichrangigen Wesen und war viel warmherziger, als sie es von Männern gewohnt war. Bisher hatte sie Männer als eine Art notwendiges Übel betrachtet. Männer paarten sich mit ihren Dienerinnen und zeugten so den notwendigen Nachwuchs zur Erhaltung der Art. Jedenfalls verhielt es sich so im Turm der Wissenschaftler. Sie hatte jedoch gehört, dass es in einigen der anderen Gilden auch freiwillige Verpaarungen von Feliden unterschiedlichen Geschlechts geben sollte. Vorstellen konnte sie es sich nicht, denn sie kannte nur das Leben im Wissenschaftler-Turm.
Als Rainer geendet hatte, atmete Innilu erst einmal tief durch.
Innilu sah ihn einige Sekunden schweigend an. Es war ihr anzusehen, dass sie überlegte. »Niemand kann sich ausdenken, was du mir eben alles erklärt hast. Also muss es wahr sein.«
Rainer sah sie verblüfft an.
»Wie? Du glaubst mir? Einfach so?«
Sie zuckte mit ihren Schultern. »Was soll ich sagen? Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand sich einen solchen Blödsinn ausdenken kann. Die ganze Geschichte klingt in sich logisch, obwohl sie mit vielen Dingen gefüllt ist, die es einfach nicht gibt. Trotzdem passt es in die Geschichte ...«
»Aber du hältst es trotzdem für Blödsinn?«
Innilu lachte kurz auf. »Was denkst denn du? Ich kann mir kaum vorstellen, dass es fremde Welten geben soll, und du kommst mit einer Geschichte, dass du nicht mein Herr Inolak bist, sondern ein Wesen aus einer fremden Welt - im Körper von Inolak. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es sowas überhaupt geben kann.«
Rainer war verwirrt. »Wie jetzt? Glaubst du mir nun, oder nicht? Ich muss das wissen, denn du bist im Grunde meine einzige Verbindung in diese fremde Welt hier.«
Innilu war nicht minder verwirrt, doch musste sie lächeln angesichts der völlig verqueren Sichtweise dieses - möglicherweise - Fremden in Inolaks Körper.
»Wie ich schon sagte: Die Geschichte ist so völlig verrückt, dass ich dazu neige, sie erst einmal zu glauben. Du wirst mich jedoch noch überzeugen müssen. Du musst bedenken, dass diese ›fremde Welt‹, wie du das alles hier nennst, meine Heimat ist und ich hier aufgewachsen bin. Ein Gespräch, wie wir es jetzt führen, hätte es zwischen mir und Inolak in dieser Form nie gegeben. Ich hab nur ein Problem damit, mir vorzustellen, dass du kein Felide bist, sondern ein vollkommen anderes, fremdes Wesen.«
»Das versteh ich doch, Innilu«, sagte Rainer. »Ich verlange doch nur, dass du mir nicht von vornherein ablehnend gegenüberstehst. Ich hatte gehofft, dass du mir helfen könntest, mich hier - in eurer Welt - zurechtzufinden, denn ich fürchte, ich werde mich damit abfinden müssen, ab jetzt im Körper eines Feliden zu leben.«
Sie sah ihm fest in die Augen, wie sie es vorher nie gewagt hatte. »Sag mir nur, dass alles, was du mir erzählt hast, wirklich wahr ist. Ich will es aus deinem Munde hören.«
Rainer hob die Finger seiner Hand. »Ich schwöre, dass es sich wirklich so verhält, wie ich es geschildert habe.«
Sie deutete auf seine Finger. »Was soll das mit der Hand?«
»Wir tun das bei uns, wenn wir einen Eid schwören, um den Wahrheitsgehalt unserer Aussagen zu bekräftigen. Und? Wirst du mir helfen?«
Innilu verzog leicht ihren Mund. »Ich bin aber keine Lehrerin, sondern nur eine einfache Dienerin. Ich bin nicht sicher, ob ich dir ausreichend helfen kann, damit du dich zurechtfindest.«
»Auch wenn du dich nur Dienerin nennst, Innilu - versuch dich von dem Gedanken zu lösen, du seist minderwertig. Ich werde dich behandeln, wie ich in meiner Welt auch eine Frau behandeln würde. Du bist eine sehr intelligente, junge Frau und wirst meine Lehrerin sein. Übrigens: Wenn du meine Dienerin bist, hältst du dich dann nicht häufig in meiner Nähe auf?«
»Natürlich. Es ist meine Aufgabe, immer bereit zu sein, dir zu dienen.«
»Umso besser, dann kennst du jeden in dieser Welt, den ich kennen sollte. Du wirst mich mit jedem bekannt machen und dabei darauf hinweisen, dass ich durch meinen Unfall eine Amnesie erlitten habe. Das wird jeder verstehen, und wird in der ersten Zeit lästige Fragen beantworten.«
»Ich soll dir also beibringen, wie man ein Felide ist? Alles, was Recht ist, Herr, aber ist das nicht lächerlich?«
Rainer hob einen Finger, was Innilu irritierte, da sie diese Geste nicht kannte. »Zwei Dinge, Innilu: Nenn mich nicht ›Herr‹, wenn wir allein sind, sondern Rainer oder Inolak - was dir leichter fällt. Und selbst wenn du mir immer noch nicht glaubst, dass ich ein Fremder bin - verlange ich, dass du wenigstens so tust, als wenn es so wäre. Erkläre mir eure Welt. Erzähl mir, wie sie entstanden ist, was euch bewegt und antreibt, welche technischen Errungenschaften ihr habt, welche Medizin, welche sozialen Strukturen. Mich interessiert einfach alles, denn wenn ich nicht ganz schnell lerne, werde ich hier nicht bestehen können, bis ich eine Gelegenheit finde, nach Hause zu kommen.«
Innilu sah ihn lange an. »Du meinst das wirklich ernst, oder?«
Als Rainer schwieg, seufzte sie leise. »Gut, also was möchtest du wissen?«
Rainer hob hilflos seine Arme. »Fang irgendwo an. Wo kommen die Feliden her? Wie haben sie sich entwickelt? Menschen stammen zum Beispiel vom Affen ab.«
Innilu musste lachen. »Meine Güte, ich bin keine Geschichtskundige. Ich kann dir nur versichern, dass wir ganz sicher nicht vom Affen abstammen. So wie ich weiß, lebten in der fernen Vergangenheit unsere Vorfahren gemeinsam mit Affen auf Iloo. Die Feliden lernten irgendwann, auf den Hinterbeinen zu laufen und mit den Vorderbeinen feine Arbeiten auszuführen. Damit begann der Siegeszug der Feliden und sie entwickelten sich zur beherrschenden Spezies auf Iloo.«
»Das klingt sehr ähnlich wie die Entwicklungsgeschichte des Menschen. Gibt es viele von euch?«
»Oh ja!« Innilu wackelte zustimmend mit ihren Ohren. »Auf ganz Iloo gibt es Millionen von uns. Einer unserer Wissenschaftler hat sogar gewarnt, wenn es noch viel mehr von uns gäbe, könnte in der Zukunft das Fleisch für unsere Ernährung knapp werden. Ich halte das allerdings für übertrieben.«
»Sag das nicht. Auf meiner Erde leben ungefähr sechs Milliarden Menschen. Das schafft schon Probleme.«
»Sechs Milliarden? Das kann ich mir nicht vorstellen.«
Rainer winkte ab. »Lassen wir das erst mal. Wie heißt das Land oder Staat, in dem wir hier leben?«
»Staat? Land? Was meinst du?«
Rainer machte eine ausholende Geste. »Diese ganze Region hier. Sie muss doch einen Namen haben - einen Landesnamen eben. Ich habe auf der Erde in einem Land mit dem Namen Deutschland gelebt. Wie heißt dein Zuhause?«
»Wir sind hier bei der Heiler-Gilde, wenn du das meinst. Aber das ist nicht mein Zuhause. Zuhause bin ich in der Wissenschaftler-Gilde.«
»Ihr unterscheidet nur nach Berufsgruppen? Das Land selbst - gehört das niemandem?«
Innilus Augenausdruck zeigte völlige Verständnislosigkeit. »Die Gilden sind unsere Heimat, ja. Wie kann Land jemandem gehören? Es ist doch für alle da.«
»Also sind die Gilden eure Familien, euer Schutz und euer soziales Umfeld, wenn ich das richtig verstehe. Aber wie funktioniert das Leben zwischen euren Gilden, wenn ihr euch so abschließt?«
»Wer sagt denn, dass wir uns abschließen? Natürlich haben alle Gilden untereinander Kontakte. Es ist ein Geben und Nehmen. Wer unsere Dienstleistungen benötigt, muss seine eigenen Leistungen als Bezahlung anbieten, oder andere Werte zum Ausgleich zahlen. Umgekehrt ist es natürlich genauso. Es findet also ein reger Handel zwischen den Gilden statt.«
»Okay, das hab ich verstanden. Erzähl mir etwas über mich. Was bin ich für ein Mann? Welche Funktion habe ich in dieser Gilde?«
Innilu straffte sich etwas und sah ihn fest an. »Du bist ein bedeutender Wissenschaftler in unserer Gilde. Wahrscheinlich hast du neben dem Ältesten zurzeit den größten Einfluss.«
»Das ist blöd«, entfuhr es Rainer.
»Wie bitte?«
»Nun, wenn ich eine große Nummer in der Gilde bin, werde ich mich nicht verstecken können. Damit ist es umso wichtiger, dass du mich rasch zu einem Feliden machst.«
Innilu stieß zischend Luft aus. »Das wird nicht leicht werden. Du weißt ja wirklich fast nichts.«
»Also glaubst du mir jetzt endlich, dass ich nicht von dieser Welt stamme?«
»Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig. Ich merke ja, dass du nicht dumm bist, aber ich sehe auch, dass du vollkommen unwissend bist, was unser Leben und unsere Kultur betrifft. Du musst ein Fremder sein. Darf ich dich überhaupt Inolak nennen?«
»Das sollst du sogar, denn ich muss seine Rolle weiterspielen, wenn ich hier zurechtkommen möchte. Ich bin in meiner Welt kein Wissenschaftler. Woran hat Inolak geforscht? Was weißt du darüber?«
»Inolak hat immer über seine Arbeit mit mir gesprochen. Ich hab sicherlich nicht alles verstanden, aber es hat mit der Verarbeitung von Daten zu tun.«
»Datenverarbeitung? Ihr besitzt Geräte für Datenverarbeitung?«
Es war nicht zu übersehen, dass Innilu stolz war, als Dienerin ein Teil dieser Forschungen gewesen zu sein. »Ja, es ist eine noch sehr neue Entwicklung. Sie braucht viel Raum und eine Menge Energie - elektrischen Strom. Inolak war der Meinung, dass es Möglichkeiten geben müsse, den Energieverbrauch drastisch zu senken. Er war der Meinung, dass erst dann brauchbare Anlagen entwickelt werden könnten.«
»Woran genau hat er gearbeitet?«
»Es ging um die Entwicklung von kalten Bauteilen, die dasselbe Leisten, wie die heißen Röhren, die bisher Verwendung finden.«
»Hat er Erfolg gehabt?«
»Bisher nicht. Vielleicht befand er sich ja auch im Irrtum.«
»Ganz sicher nicht. In meiner Welt hatten wir dieses Problem bereits seit Langem gelöst. Vielleicht kann ich einfach mein Wissen nutzen, Inolaks Arbeit zu vollenden und seine Rolle wirklich weiterspielen.«
Innilu sah ihn skeptisch an. »Stell dir das nicht so leicht vor. Du musst deine Rolle auch im Gilderat überzeugend spielen.«
»Was ist denn das schon wieder? Welche Schwierigkeiten bedeutet das nun wieder?«
Sie schluckte und Rainer sah, dass es ihr schwerfiel, weiterzusprechen. »Inolak war ein ehrgeiziger Mann. Er wollte unbedingt in den zentralen Gilderat. Als führender Wissenschaftler unserer Gilde stand es ihm auch zu, uns dort zu vertreten. Um seine Chancen zu erhöhen, hat er sogar Eingaben beim Rat vorgelegt, die bei vielen männlichen Feliden äußerst populär sind. Von ihm stammt die Vorlage eines Gesetzes zur Disziplinierung der Frauen in der Gesellschaft.«
»Was für ein Gesetz soll denn das sein?«
»Du hast ja sicher schon mitbekommen, dass Frauen in unserer Gesellschaft nicht viel Wert sind. Frauen werden nicht ausgebildet, dürfen keinen Beruf ausüben, dürfen ihre Fähigkeiten nur soweit in den Dienst der Gilde einbringen, wie es den Männern nutzt. Männer können alles Mögliche werden, Frauen immer nur Dienerinnen. Ich will mich ja nicht beklagen, denn ich hab kein schlechtes Los gezogen. Trotzdem bin auch ich nichts anderes als eine Dienerin, und Inolak hätte mit mir tun können, was er wollte. Wenn du seine Rolle weiterspielen willst, gilt das auch für dich.«
Rainer schüttelte den Kopf. »Damit ist jetzt Schluss. Ich halte nichts von Sklavenhaltung.«
»Bitte!« Sie sah ihn hoffnungsvoll an. »Du musst wenigstens nach außen so tun, als wärst du Inolak. Ich werde es überstehen, von Zeit zu Zeit von dir behandelt zu werden, wie ich es gewohnt bin. Ich möchte nicht einem anderen Herrn zugewiesen werden. Wirklich nicht.«
»Das wird mir nicht leicht fallen, das darfst du mir glauben, Innilu. Ist das überall auf Iloo so, dass Frauen so unterdrückt werden? Gibt es nirgends Gleichberechtigung der Geschlechter?«
»Ich kenne nicht alle Gilden, aber ich habe bisher nur von einer Gilde gehört, die ihren Frauen mehr Rechte geben wollte und das sind die Priester. Sie sind aber im Rat gescheitert.«
Rainer musste unwillkürlich lachen. »Ausgerechnet die Priester!«
»Wieso nicht? Die Priester-Gilde ist eine der fortschrittlichsten Gilden, was das Miteinander von Feliden angeht.«
»Das ist auf meiner Erde genau umgekehrt ... Ich komme noch mal auf diesen Gilderat zurück: Dort soll ich also dieses verrückte Gesetz als Ratsmitglied einbringen und als generelles Gilde-Gesetz durchbringen? Habe ich das richtig verstanden?«
»So ist es.«
»Dann wäre ich aber ein richtiges Ekel, oder nicht? Ich sehe nicht ein, diese Linie von Inolaks Absichten weiterzuverfolgen. Vielleicht sollte ich vielmehr versuchen, die Priester-Gilde auf meine Seite zu ziehen und der Gleichberechtigung zu ihrem Recht zu verhelfen. Ob mir das gelingen könnte?«
»Das kann ich dir auch nicht sagen, Inolak«, sagte Innilu. »Aber wenn du nicht in den Kerkern der Wissenschaftler-Gilde landen willst, musst du deine Rolle als Inolak weiterspielen. Die Sache mit der Gleichberechtigung, die du mir erzählt hast, klingt sehr interessant, auch wenn ich es mir noch nicht vorstellen kann. Aber innerhalb der Gilde gelten andere Gesetze. Dort bin ich eine Dienerin und muss mich auch so verhalten - egal, was du von mir erwartest. Behandle mich deshalb nur gleichberechtigt, wenn wir unter uns sind. Bewirb dich weiterhin um einen Sitz im zentralen Rat. Wenn du dann wirklich etwas ändern willst, bist du dann in der Position, es auch zu erreichen.«
»Und du meinst, dass ich das schaffen kann? Ich weiß noch so wenig über eure Gesellschaft. Wer weiß, vielleicht werde ich ja auch gar nicht lange hier sein. Ich weiß nicht, wie ich in eure Welt gelangt bin. Vielleicht werde ich eines Tages einfach wieder in meine eigene Welt verschwinden.«
Innilu erschrak. Gerade erst machte sie sich Hoffnungen auf ein besseres Leben und da machte Inolak diese Hoffnungen bereits wieder zunichte.
»Meinst du denn, du kannst so bald wieder zurückkehren; Inolak? Wenn das dein Ziel ist, könnten wir uns doch das alles ersparen. Du kehrst in deine Welt zurück und ich zum Wissenschaftler-Turm, um einem anderen Feliden-Mann zugeteilt zu werden.«
Rainer spürte die Resignation in Innilus Stimme. Auch, wenn sie seine Geschichte als verrückt betrachtet hatte, hatte es ausgereicht, um tief in ihr Hoffnungen auf eine Änderung in ihrem Leben zu wecken.
»Vielleicht liegt es ja nicht in meiner Macht, das zu entscheiden. Aber genau genommen gehöre ich nicht hierher in eure Gesellschaft. Das muss dir klar sein, Innilu.«
»Sieh es nicht als unsere Gesellschaft - beziehe dich doch wenigstens mit ein, solange du hier bist. Du bist jetzt kein Mensch mehr, sondern ein Felide - warum auch immer das geschehen ist. Nimm es an - werde ein Kämpfer für Veränderungen!«
Rainer sah Innilu an. Bisher hatte er sie noch nie so leidenschaftlich gesehen. Ihre Augen sprühten förmlich vor Erregung. Das passte so gar nicht zu dem demütigen Verhalten, das sie noch vor Kurzem an den Tag gelegt hatte.
»Wenn du mir dabei hilfst - versuch ich es«, versprach er. »Doch dann verlange ich, dass auch du den Kampf aufnimmst und versuchst, deine Rolle als Dienerin abzulegen.«
Innilu lächelte. Eine völlig verrückte Situation. Hatte das Ganze überhaupt einen Sinn? Sie würden gegen eine ganze Gesellschaft kämpfen müssen, sowohl sie, als auch – auf seine Art - Inolak. Sie spielten zwar verschiedene Rollen, doch saßen sie im selben Boot. Irgendwie fühlte sie sich Inolak verbunden. Sie reichte ihm ihre Hand und er ergriff sie. Diese Geste schien in beiden Welten dasselbe zu bedeuten.
»Abgemacht«, meinte sie. »Aber ich werde nach außen hin meine Rolle nicht ablegen können, oder was glaubst du, werden sie sagen, wenn ich mich plötzlich dir gegenüber nicht mehr unterwürfig verhalte? Selbst, wenn du nicht entlarvt wirst, so könnte man dich für verrückt halten, wenn du eine Dienerin gleichberechtigt behandelst.«
»Das mag sein«, stimmte Rainer nachdenklich zu. »Trotzdem sollte es sich auf die Gelegenheiten beschränken, in denen andere Feliden anwesend sind. Sobald wir allein sind, gilt das nicht mehr. Die Dienerrolle wird ab jetzt nur noch für andere gespielt - die Betonung liegt auf ›gespielt‹.«
Innilu nickte und lächelte insgeheim. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass jemals eine solche Veränderung in ihrem Leben eintreten könnte. Sie wusste nicht, wie lange es dauern würde und vielleicht würde der Fremde ja auch schneller verschwunden sein, als ihr lieb war, doch sie war gewillt, diese Situation zu genießen, solange sie dauerte.
Rainer beschloss, sich seiner neuen Rolle zu widmen. Vielleicht hatte die Zukunft ja doch einen Sinn. Was auch immer ihn hierher gebracht hatte, er empfand plötzlich so etwas wie Dankbarkeit für die neue Chance und die neue Aufgabe, die sich ihm hier stellte. Wenn Innilu ihm half, hatte er eine Chance. Doch warum sollte sie das tun? Er verkörperte einen Mann, dem sie bisher seit Jahren dienen musste - bedingungslos. Eigentlich sollte sie in seinem derzeitigen Unvermögen, Situationen in dieser für ihn fremden Umgebung einzuschätzen und zu meistern, eine Möglichkeit sehen, sich von ihm zu befreien. Konnte er ihr wirklich trauen?