Schläfer

 

Freddie Lomak machte seinen üblichen Spaziergang. Das Wetter meinte es ausgesprochen gut mit den Menschen und man sah überall nur freundliche Gesichter. Freddie kannte viele der Leute, die ihm begegneten, vom Ansehen, und grüßte daher stets, auch wenn er die Namen der Menschen nicht kannte. Der Lakeside Park war einfach toll und es machte Spaß, den Kindern dort beim Spielen oder den Seglern auf dem kleinen Lake Merrit zuzuschauen. Es gab kaum einen Tag, an dem Freddie nicht die Gelegenheit nutzte, auf dem Weg vom Büro nach Hause noch einen Abstecher hierher zu machen. Jane, seine Frau, wusste das und richtete sich mit dem Abendessen darauf ein.

In der Nähe des Oakland Lawn Bowling Clubs, bei dem um diese Zeit noch nicht viel los war, hielt er inne und sah sich in alle Richtungen um. Als er sicher war, dass ihm niemand zusah, fasste er mit seiner Hand in ein Lüftungsrohr am Gebäude des Clubs und tastete darin herum. Überrascht zog er einen kleinen braunen Umschlag hervor und steckte ihn schnell in seine Jackentasche. Dann entfernte er sich schnell vom Bowling Club und schlug die Richtung zu seiner Wohnung in der Perkins Street ein. Seine gute Laune, für die er bei allen bekannt war, war verflogen. Wie oft schon hatte er in den letzten Jahren diesen Griff in dieses Lüftungsrohr getan und nie war etwas darin gewesen. Warum jetzt?
Auf dem Weg – kurz bevor er wieder die Hauptstraße mit ihrem Feierabendverkehr erreichte – hielt er es nicht mehr aus. Vorsichtig wandte er sich noch einmal um, doch er war allein. Mit einer schnellen Bewegung öffnete er den Umschlag und holte ein Foto daraus hervor. Es zeigte ein Porträt der früheren Außenministerin Condoleezza Rice, auf das jemand ein Kreuz gemalt hatte. Freddies Hände begannen zu zittern. Er drehte das Foto um.

„Stanford University“, stand dort geschrieben und „12. Oktober“. Das war bereits in zwei Tagen. Mit zittrigen Fingern steckte er das Foto wieder in den Umschlag zurück und beides zusammen in seine Tasche. Er hatte das Gefühl, als würde dieser Umschlag in seiner Tasche brennen und er beeilte sich, nach Hause zu kommen.

„Da bist du ja endlich“, empfing ihn seine Frau und gab ihm einen Kuss. „Du hättest aber auch anrufen können, wenn sich herausstellt, dass es länger dauert.“
Sie sah ihn vorwurfsvoll an. „Du musst ja nicht kochen …“

Freddie setzte sich hin und stieß heftig seinen Atem aus. Er blickte sich um.
„Wo ist Kevin?“
„Zum Sport. Er kommt in etwa einer Stunde zurück. Warum fragst du? Was ist überhaupt mit dir los?“
Jane war nun ehrlich besorgt, als sie den nervösen Gesichtsausdruck ihres Mannes sah. Freddie sah sie schweigend aus stumpfen Augen an, zog den Umschlag aus der Jackentasche und warf ihn auf den Küchentisch.
„Was ist das?“, fragte Jane und setzte sich ebenfalls.
„Schau es dir doch an und sag du es mir.“

Jane griff danach und holte das Foto hervor. Vollkommen konsterniert starrte sie darauf, bis es ihren Händen entfiel und auf den Tisch segelte.
„Mein Gott!“, entfuhr es ihr. „Ich hätte niemals gedacht, dass das noch passieren würde. Nicht nach all den Jahren. Wir sind nicht mehr die Menschen, die wir damals waren, Freddie.“
„Das weiß ich selbst!“, brauste Freddie auf und erhob sich. „Verdammt, was soll ich tun, Jasmina?“
„Du sollst diesen Namen nicht aussprechen!“, mahnte Jane und machte ein erschrecktes Gesicht.
„Meinst du etwa, man hört uns hier ab?“, fragte Freddie. „Mach dir nichts vor! So interessant sind wir nicht. Wie lange sind wir jetzt hier in Oakland? Zwölf Jahre? Verdammt, was haben wir noch mit denen zu tun? Wir sind gewählt worden, weil wir anpassungsfähig sind. Wir haben uns angepasst. Wir sind echte US-Bürger geworden, haben einen echten Pass. Wir sind in der Schule unseres Sohnes im Elternbeirat, wir haben ein gutes Verhältnis zu unseren Nachbarn. Genau genommen sind wir amerikanischer als die Amerikaner selbst. Und das alles soll jetzt deswegen vorbei sein?“
„Wieso überhaupt Condoleezza Rice?“, fragte Jane. „Ich verstehe das nicht. Sie ist doch überhaupt nicht mehr Außenministerin.“
„Vermutlich ist das der Grund. Solange sie Außenministerin war, unterstand sie einer permanenten Bewachung durch den Secret Service. Wir wären niemals an sie herangekommen. Nun, als Privatperson, ist das nicht mehr der Fall. Ich bin sicher, dass es hier um eine späte Rache für ihre Antrittsrede, damals – in 2005 – geht. Sie sprach – genau wie auch George W. Bush – von der Achse des Bösen und benannte auch die Staaten, die dazugehörten. Der Iran war dabei, Jasmina. Sie wollen beweisen, dass man nichts vergisst und man irgendwann die gerechte Strafe dafür bekommt.“
„Was wirst du tun, Karim?“, fragte Jasmina. Sie wusste gar nicht mehr, wie lange sie diesen Namen nicht mehr ausgesprochen hatte. Er erschien ihr inzwischen irgendwie fremd.
„Wirst du diese Frau töten?“
Freddie sah die Angst in den Augen seiner Frau. „Ich weiß es nicht. Was wäre, wenn ich es nicht tun würde? Wären wir dann die Nächsten? Es gibt viele Iraner im Land. Sollte einer davon ein Killer sein und wir wären sein Ziel – wir hätten keine Chance.“
„Aber wieso musst gerade du es tun, Karim? Wir sind doch noch nie aktiv gewesen. Du bist kein Killer.“
„Du weißt doch, dass sie uns gewählt haben, weil wir beide westlicher aussehen als viele andere in unserem Vaterland. Ich bin ausgebildeter Scharfschütze.“
„Hör doch auf! Du hast noch nie eine Waffe auf einen Menschen gerichtet und ich weiß nicht, ob ich mir einen Ehemann vorstellen will, der andere Menschen tötet.“
Als Freddie nichts erwiderte, fuhr sie fort:
„Karim und Jasmina Asgari gibt es nicht mehr. Sie hörten auf zu existieren, als Kevin geboren wurde und wir uns überall engagiert haben … und soll ich ehrlich sein? Ich möchte mein altes Leben nicht mehr zurückhaben. Ich fühle mich hier wohl. Der Iran bedeutet mir nichts mehr. Ich habe ihn zurückgelassen und erzähle mir bitte nicht, bei dir wäre es anders. Du kannst jetzt nicht auf einmal wieder zum iranischen Attentäter werden und unser Leben zerstören.“
„Ich muss nicht unbedingt erwischt werden“, entgegnete Freddie.
„Hörst du dich überhaupt reden, Karim? Meinst du, mir geht es darum, ob du erwischt wirst oder nicht? Ich weiß nicht, ob ich mit einem Mörder zusammenleben kann. Das ist der Punkt. Ich könnte es nicht ertragen, dass der Vater meines Kindes ein Mörder ist. Ich will nicht, dass du es tust! Du hast noch nie einen Menschen getötet!“
„Einmal ist immer das erste Mal“, sagte Freddie und ging ins Schlafzimmer, wo er seine Waffe auf dem Schrank aufbewahrte. Jane lief hinter ihm her.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein! Du willst dich wirklich wieder von diesen Leuten einspannen lassen?“
„Sieh es doch ein, ich habe keine andere Wahl“, sagte Freddie und trug den Koffer mit seiner Waffe in die Küche, wo er ihn öffnete, um die Präzisionswaffe zu prüfen. Obwohl er es seit Jahren nicht mehr getan hatte, setzte er sie mit fast schlafwandlerischer Sicherheit in wenigen Sekunden zusammen und zielte damit auf die Spüle. Jane sah ihm entgeistert zu und begriff, dass sie ihn nicht mehr von seinem Plan abbringen konnte.
„Wann soll es geschehen?“, fragte sie tonlos.
„Übermorgen. In der Stanford-University. Ich habe gelesen, dass sie dort Politikwissenschaften lehrt. Ich werde morgen mal hinfahren und mir die Örtlichkeiten ansehen, damit ich den Job übermorgen erledigen kann.“
Jane schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch und erhob sich. „Was immer du auch tust … rechne nicht mit meiner Hilfe!“
Sie rannte ins Schlafzimmer und versperrte die Tür von innen.

Zwei Tage später machte sich Freddie auf den Weg nach Stanford. Seine Waffe hatte er demontiert und in einem unauffälligen Rucksack verstaut, wie ihn unzählige Studenten ebenfalls benutzten. Seine Frau hatte sich von ihm zurückgezogen, nachdem sie begriffen hatte, dass sie ihn nicht umstimmen konnte. Er wusste nicht, wie es mit ihnen weitergehen sollte, wenn er seinen Auftrag erfüllt hätte. Er liebte Jasmina, aber er durfte seine Familie nicht dadurch in Gefahr bringen, dass er die Anweisungen der iranischen SAVAK missachtete. Immer wieder hatte er sich eingeredet, dass es nur ein Job wäre – ein kurzes Krümmen eines Fingers und dann wäre es vorbei.
Er legte den Rucksack auf den Rücksitz seines kleinen Toyota und stieg ein. Ein letzter Blick zurück zum Haus zeigte ihm, dass Jasmina nicht aus dem Fenster sah. Insgeheim hatte er gehofft, dass er sie noch sehen würde. Der große Mitsubishi-Pick-up stand in der Auffahrt. Sie würde ihn brauchen, um Kevin zur Schule zu bringen. Seufzend ließ er den Motor an und fuhr los.
Auf dem ganzen Weg nach Stanford überlegte er sich immer wieder, wie er es machen würde: mit einer großen Gruppe Studenten ins Gebäude hinein, dann zur Toilette neben dem Treppenaufgang. Warten, bis die Vorlesungen begonnen hatten. Dann würde er wieder aktiv werden, die Treppe hinauf zu den Besucheremporen. Er hatte am Vortag schon gesehen, dass sich dort kaum jemand aufhielt, außerdem gab es Säulen, die einen guten Sichtschutz abgaben. Freddie hatte unauffällige Kleidung angezogen und rechnete nicht mit Problemen, bis zur Empore vorzudringen.
In Stanford parkte er seinen Wagen in der Stadt und legte die letzte Meile mit dem Bus zurück, zusammen mit vielen Studenten, die auf dem Weg zu ihren Vorlesungen waren. So war es auch kein Problem, unbemerkt ins Gebäude zu gelangen. Kontrollen gab es keine. Auch die Toilette war nicht so stark besucht, dass er Probleme bekommen hätte, eine freie Kabine zu finden. Das Warten war grässlich. Die Minuten schienen nicht verstreichen zu wollen, und als er endlich sicher sein konnte, dass auf dem Flur nicht mehr viel los sein würde, verließ der den Toilettenbereich. Vorsichtig blickte er sich in alle Richtungen um und wandte sich dann zu den Treppen. Es war genau wie geplant. Oben auf der Besucherempore war tatsächlich niemand. Freddie begab sich trotzdem hinter die große Säule und setzte seinen Rucksack ab. Sein Blick fiel nach unten auf das Pult der Dozentin. Da war sie: Condoleezza Rice. Sie trug ein enges, schwarzes Kostüm und zeigte gerade ihren Studenten etwas, indem sie mit einem Laser-Pointer etwas auf einer Karte markierte. Freddie hörte nicht, was sie sagte. Er musste es auch nicht. Jetzt galt es nur noch, schnell und effektiv zu handeln.
Wie im Traum setzte er die Waffe zusammen. Er hatte dies schon so oft getan, dass er nicht dabei überlegen musste. Er hatte sich für einen Schalldämpfer entschieden, um die Verwirrung zu maximieren, damit er genügend Zeit für eine Flucht hätte. Als Letztes setzte er das Zielfernrohr auf die Waffe, das mit einem leisen Klick einrastete. Sorgfältig legte er das Präzisionsgewehr an die Schulter und blickte durch das Zielfernrohr. Der Lauf der Waffe führte durch die Lücken im Steingeländer der Empore hindurch und dürfte von unten nicht zu erkennen sein. Der Kopf seiner Zielperson erschien in voller Größe in der Optik. Freddie steuerte die Schärfe nach, bis er das Gefühl hatte, Rice wäre direkt vor ihm. Ein Fadenkreuz zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Es war die ideale Entfernung für einen tödlichen Schuss. Freddie entsicherte die Waffe und legte wieder an. Immer wieder hatte er sich ausgemalt, wie er es tun würde und was er anschließend zu tun hätte. Immer noch hoffte er, dass er unerkannt entkommen würde und sein Leben als Freddie Lomak weiterführen könnte. Jasmina würde schon noch einsehen, dass es getan werden musste.
Minutenlang starrte er nun schon durch die Optik seines Gewehres und zielte auf sein Opfer. Verdammt, wieso drückte er nicht ab? Er spürte, dass er zu schwitzen begann. Der Schweiß begann seinen Blick zu trüben und er musste blinzeln. Auch die Waffe lag inzwischen in schweißnassen Händen und er musste sie sich wiederholt an der Hose abwischen.
„Verdammt, tue es endlich“, flüsterte er sich selbst zu. „Es kann doch nicht so schwer sein.“
Immer noch zielte er auf den Kopf der Frau – den Finger am Abzug. Jetzt hob sie auch noch ihren Blick und schien ihn direkt anzusehen. Er fühlte sich regelrecht ertappt, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. Immer wieder versuchte er, abzudrücken, doch der Finger wollte den entscheidenden Druck nicht auf den Abzug ausüben. Nach über zehn Minuten setzte er die Waffe ab und atmete stoßweise durch. Er konnte es einfach nicht. Sein Puls raste, als er mit zitternden Fingern seine Waffe wieder demontierte. Er wusste, dass es ein Fehler sein konnte, dass es sie alle in Gefahr bringen würde, doch er würde diese Frau nicht töten, weil er einfach nicht auf einen Menschen schießen konnte. Fluchtartig verließ er die Empore und wandte sich zum Ausgang der Universität. Als er die frische Luft in seinen Lungen spürte, ging es ihm besser und er beschleunigte seine Schritte auf dem Weg zur Bushaltestelle. Auf einmal hörte er ein Hupen hinter sich. Erschreckt wandte er sich um. Ein Mitsubishi-Pick-up stand hinter ihm. Es war Jasminas Wagen. Er ging zur ihr.
„Was machst du denn hier?“, fragte er sie.
„Ich bin deine Frau“, sagte sie schlicht. „Ich muss nicht alles gutheißen, was du tust, aber ich werde dich nicht im Stich lassen.“
Sie deutete mit dem Kopf in Richtung des Universitätsgebäudes. „Ich höre keinen Alarm, keine Sirenen, keine Polizei. Was ist geschehen?“
„Ich habe versagt“, antwortete Freddie. „Ich konnte es nicht. Ich weiß nicht, was jetzt werden wird.“
Jasminas Augen begannen zu leuchten, als sie das hörte. „Du hast es nicht getan? Du hast nicht auf sie geschossen?“
„Nein. Ich wollte es, aber es ging nicht. Ich will niemanden ermorden.“
„Dann steig mal ein“, sagte Jasmina. „Dann muss dir mal deine Frau sagen, wo es langgeht.“
Mit fragendem Gesicht kletterte Freddie auf den Beifahrersitz und sah seine Frau an, die ihn einfach nur anstrahlte.
„Du ahnst gar nicht, wie glücklich ich darüber bin, dass du zum ersten Mal in deinem Leben wirklich versagt hast. Du hast mir bewiesen, dass du noch immer der Mann bist, den ich geheiratet habe und dem ich versprochen habe, bei ihm zu bleiben. Ich habe mir auch meine Gedanken gemacht und ich weiß, dass wir etwas unternehmen müssen, wenn wir in Frieden leben wollen. Lass uns das alles hier hinter uns lassen. Lass uns Oakland verlassen. Lass uns Kalifornien verlassen. Lass uns nach Seattle ziehen. Es gibt keine Meldebehörden und unsere Pässe sind in Ordnung. Wir finden auch woanders einen Job. Ich schlage vor, wir holen nur noch unseren Sohn von der Schule ab, packen das Wichtigste zusammen und verlassen noch heute Nacht die Stadt.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Freddie.
„Ja Karim. Ich werde dich ab heute nie wieder so nennen. Auch die Jasmina wird es nicht mehr geben. Wir werden alles verbrennen, das uns mit dem Iran in Verbindung bringen kann.“
„Einverstanden“, sagte Freddie und drückte dankbar Janes Hand. „Dann lass mich in der Innenstadt raus. Dort steht der Toyota. Wir sehen uns dann zu Hause.“
Jane gab ihm einen Kuss und fuhr los. In der Innenstadt stieg Freddie aus und holte seinen Wagen. Auf dem Weg nach Hause spürte er, wie eine große Last von ihm abfiel. Ja, er hatte versagt – zum ersten Mal – wie Jane gesagt hatte, aber er war glücklich, dass es so war. Unterwegs hielt er auf einer Brücke, die über einen Fluss führte. Er griff seinen Rucksack und schleuderte ihn weit hinaus. Er beobachtete, wie er unten auf dem Wasser aufschlug und allmählich versank. Das letzte Stück seiner Vergangenheit war im Fluss versunken. Lächelnd stieg er wieder in seinen Wagen und fuhr weiter. Die Zukunft war ungewiss. Er freute sich darauf.