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Ein später Besuch - Weihnachten 3000
Jaycee schreckte hoch, als jemand ihn am Arm berührte. Wie so oft während dieser langweiligen Mission war er einfach weggenickt.
»Was ist?«
Erst jetzt begriff er, wo er sich befand und registrierte Luzi, den Commander seines Schiffes.
»Herr, wir haben eine Subraumdepesche von Ihrem Vater erhalten.«
Jaycee streckte sich und rutschte in seinem Sessel zurecht. »Und? Willst du sie mir nicht geben oder vorlesen?«
»Ja, Herr.«
Jaycee rollte mit den Augen und griff nach dem Holo-Tablet, das Luzi ihm hinhielt.
»Luzi, gewöhne dir dieses ‚ja Herr, nein Herr‘ endlich ab. Ich kann es nicht mehr hören und außerdem fliegen wir schon so lange zusammen durchs Universum, das wir solche Förmlichkeiten wirklich nicht mehr brauchen.«
»Ja Herr.«
Jaycee schnaubte entnervt und begann die Nachricht zu lesen. Als er fertig war, deaktivierte er das Holo verärgert.
Er schaute zu Luzi hoch, der erwartungsvoll vor ihm stand. »Hast du das auch gelesen?«
Luzi nickte.
»Weißt du, was das bedeutet? Wir kommen wieder nicht nach Hause! Da wir aktuell im Südarm der Milchstraße unterwegs sind, sollen wir uns ein System ansehen, wo wir vor einiger Zeit schon einmal waren. Mein Vater hat dort vor vielen Jahren etwas experimentiert, das Ganze dann aber aus den Augen verloren. Ich selbst war auch schon einmal dort. Ich brauche die Erinnerungen aus dieser Zeit. Sie sollten sich in den Archiven des Schiffes befinden. Wenn nicht, kann Vater mich mal. Dann geht es gleich nach Hause.«
Als Luzi gegangen war, rückte er näher mit seinem Sessel an die Steuerkonsole heran. Zwar konnte er nicht die Gedankensteuerung verwenden wie Luzi, aber mit den manuellen Elementen kannte er sich aus.
»Südarm«, überlegte er. »Da klingelt doch was. Wann war ich zuletzt in dieser Gegend? Ich muss wohl doch auf die Memo-Injektion warten.«
Nur wenig später kam Luzi zurück und hielt ein pistolenähnliches Gerät in seinen Händen. »Ich hab es gefunden. Eine gelbe Sonne, neun Planeten und jede Menge anderes Zeug. Bitte einen Moment stillhalten, ich injiziere die alten Datensätze.«
Jaycee hasste diese Upgrades, aber schneller gelangte man einfach nicht an die Erinnerungen. Ein kurzes Zischen, ein kleiner Schmerz und es fühlte sich an, als würde ein Vorhang beiseite gezogen. Die Erde. Ja, jetzt wusste er es wieder. Er selbst war auf ihr herumgelaufen.
Vater hatte diese kahle Welt seinerzeit mit Leben erfüllt und dann sich selbst überlassen. Experiment, nannte er das. Bei seinem letzten Besuch vor ... Er überlegte. ... dreitausend Jahren hatten diese Wesen dort eine primitive Kultur hervorgebracht. Er wusste wieder, was für ein Theater es gegeben hatte, als man ihn für eine Art Überwesen gehalten hatte. Okay, für diese Wesen, diese Menschen, die sein Vater ihnen so ähnlich gemacht hatte, war er es vermutlich auch. Wie naiv war es gewesen, sie lehren zu wollen! Nichts hatten sie verstanden und ihre Anführer erst recht nicht. Er musste schmunzeln, als er daran dachte, wie sie ihn damals verurteilt und getötet hatten.
Sie hatten zumindest gedacht, sie hätten es getan. Er hatte ihnen sogar den Gefallen getan und hatte mitgespielt.
Ein sanftes Signal ertönte und Luzi wandte sich an ihn: »Herr, die Cyber-Einheit meldet unsere Ankunft im Zielgebiet. Ich bin mir aber nicht sicher, ob wir das richtige System gefunden haben.«
»Warum?«, fragte Jaycee verblüfft. »Die Cyber-Einheit hat sich noch nie geirrt. Wenn die Koordinaten stimmen und dieses System an der um dreitausend Jahre extrapolierten Position steht, muss es das richtige System sein.«
Er erhob sich und ging zu den Holoschirmen, auf denen nach kurzer Zeit das gesamte Sonnensystem schematisch dargestellt wurde.
»Eine gelbe Sonne, neun Planeten. Der Rest interessiert uns nicht. Setze den Fokus auf den dritten Planeten. Der war es, auf dem ich gewandelt bin.«
Luzi veränderte ein paar Einstellungen und die Schirme zeigten nur noch Daten vom dritten Planeten an.
»Wir müssen näher heran«, entschied Jaycee. »Kurze Ortsversetzung. Bring uns in die Umlaufbahn des Satellitenmondes, aber bitte bei vollem Ortungsschutz. Ich habe ein komisches Gefühl.«
»Ja Herr.«
»Würdest du das bitte endlich lassen, Luzi?«
Ein kurzes Flackern und die Welt erschien riesengroß auf den Holoschirmen. Jaycee schaute ungläubig. »Wie lange ist es her, seit wir hier waren? Dreitausend Jahre? Unfassbar, was diese Wesen in dieser kurzen Zeit angestellt haben. Ein metallener Ring umschließt den kompletten Planeten. An verschiedenen Stellen sind winzige Aufzüge erkennbar. Warum macht man so etwas?«
»Ihr Vater hat uns vielleicht deshalb hergeschickt? Weil wir herausfinden sollen, was hier geschehen ist?«
»Ja, vielleicht. Ich denke, ich muss mir das selbst anschauen - wie damals.«
»Wir gehen auf den Planeten?«
»ICH gehe auf den Planeten! Du weißt, was damals geschehen ist, als du mich begleitet hast. Ich brauche Informationen und keine Massenpanik.«
Luzi machte ein enttäuschtes Gesicht. »Die sind jetzt viel weiter. Vielleicht reagieren sie jetzt anders.«
»Nein, mein letztes Wort! Du bleibst an Bord und überwachst von hier aus. Deine Hörner und die rote Haut ... Das Risiko ist mir einfach zu groß.«
»Dann eben nicht! Wann will der Herr reisen, und vor allem: Wie wollen Sie reisen?«
»Ich denke, eine einfache Ortsversetzung ... sagen wir mal, in den Ring hinein, sollte reichen. So ein Konstrukt ist mir noch nicht untergekommen. Das will ich mir anschauen.«
»Also wann?«, fragte Luzi betont gelangweilt.
Jaycee hob beide Hände. »Wieso nicht jetzt gleich?«
»Okay.« Er gab dem System ein paar gedankliche Befehle und Jaycee verschwand unvermittelt aus der Zentrale des Schiffes.
Im nächsten Moment stand er auf einem menschenleeren Gang. In regelmäßigen Abständen gab es Türen oder Schotts, die jedoch verschlossen aussahen. Jaycee blickte sich um. Das hatte nichts mehr mit der primitiven Lebensweise der Menschen zu tun, die er lehren wollte und die ihn schließlich getötet hatten. Aber es handelte sich noch immer um die Wesen, die sein Vater einst geschaffen hatte und nach denen er jetzt schauen sollte. Er wanderte eine Weile den Gang entlang, als sich plötzlich eine der Türen öffnete und eine Gruppe Menschen daraus hervorquoll. Verblüfft blieben alle stehen und starrten ihn an. Einer der Menschen straffte sich und trat einen Schritt auf ihn zu.
»Wer sind Sie und was tun Sie hier?«
Durch den Linguistik-Transformator in seiner Hirnrinde konnte er ihn sogar verstehen.
»Ich bin der Sohn des Schöpfers ...«
»Was Sie hier suchen, habe ich gefragt!« Der Mann wurde offenbar ungeduldig.
Jaycee machte eine ausholende Geste. »All das wurde als Keimzelle vor vielen Zeitaltern durch meinen Vater geschaffen. Nun hat er mich gebeten, nach euch zu schauen und ihm zu berichten. Bringt mich zu euren Führern, damit sie mir Bericht erstatten können.«
Die Männer der Gruppe sahen sich fragend an. Ihr Sprecher wandte sich ihm wieder zu.
»Was soll dieses Gefasel? Wie ist Ihr Name und aus welchem Sektor stammen Sie? Dies ist ein militärischer Sicherheitsbereich des Halos. Zeigen Sie mir sofort Ihre Personalkennung!«
»Ich besitze nichts dergleichen. Ich bin der Sohn des Schöpfers. Ihr dürft mich Jaycee nennen. Mein Mitarbeiter nennt mich dauernd ‚Herr‘, aber das mag ich nicht.«
»Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen, Mister Jaycee, oder wie sie sich nennen. Wir müssen Sie leider bitten, mit uns zu kommen.«
»Endlich verstehen wir uns«, sagte Jaycee. »Es ist sowieso besser, mit Ihren Führern zu sprechen und nicht mit dem niederen Volk.«
Der Mann wandte sich zu ihm und machte ein verärgertes Gesicht. »Das reicht!«
Er gab seinen Leuten ein Zeichen und ehe Jaycee sich’s versah, hatte man seine Arme auf den Rücken gedreht und ihm eine Fessel angelegt.
»Diesen Brauch kenne ich. Macht man das noch immer? Werden Sie mich auch gleich töten?«
»Der hat sie doch nicht alle«, meinte einer der anderen Männer. »Den sollten wir gleich einem Psychologen vorstellen.«
Sie stießen Jaycee an und forderten ihn auf, zu laufen. Interessiert machte er das Spiel mit. Bei seinem letzten Besuch auf der Erde lief man noch meist barfuß über staubigen Boden und trug sackartige Kleidung. Das hatte sich geändert, aber sonst war keine nennenswerte Änderung festzustellen. Er wusste nicht, wie sie das immer anstellten, aber sie schienen gleich zu wissen, wer er war, denn man nahm ihn stets sofort fest. Er war gespannt, wie Vater das aufnehmen würde. Beim letzten Mal war er deswegen leicht verärgert gewesen.
Nach einiger Zeit führten sie ihn in einen karg eingerichteten Raum. Es standen lediglich ein Tisch und vier Stühle darin. An einem saß ein Mann in einem weißen Gewand und sah auf, als sie eintraten.
»Hallo, Doc Treaver, wir bringen Ihnen den Mann, den wir im Sperrsektor aufgegriffen haben. Er wirkt verwirrt und wir hielten es für besser, Sie schauen ihn sich mal an.«
Der Arzt deutete auf einen der freien Plätze. »Bitte setzen Sie sich. Wie war doch gleich Ihr Name? Würden Sie ihn vielleicht hier auf dem Schreibblock für mich aufschreiben?«
Jaycee setzte sich.
Doc Treaver schob ihm Block und Stift herüber. »Bitte.«
Jaycee griff nach dem Stift und fasste ihn umständlich. »Ich habe so etwas noch nie in der Hand gehalten. Sehen so Ihre Holo-Tablets aus?«
»N-Nein. Das ist ein verdammter Stift und ein Schreibblock ...«
»Gut.« Jaycee malte umständlich ein ‚J‘ und ein ‚C‘ und legte den Stift auf den Tisch. »So richtig?«
»Ist es das? Sie heißen JC? Das ist doch kein Name.«
Jaycee nickte. »Richtig. Eigentlich ist es die Abkürzung meines Namens, aber den finde ich einfach zu lang.«
»Und wie lautet nun der vollständige Name?«
»Jesus Christus. Mein Vater hat einen Hang zu exotischen Namen.«
Dem Arzt fiel die Kinnlade förmlich herunter. »Sagen Sie das noch mal!«
»Jesus Christus. War ich nicht verständlich genug?«
»Sie müssen wissen, dass ich ein recht ausgefallenes Hobby habe und deswegen von vielen meiner Kollegen verlacht werde. Ich forsche gern in alten Schriften – soweit sie damals in den Unruhen nicht vernichtet wurden. Vieles war zum Glück bereits gescannt und in den Datenbanken des Halos gesichert. Welcher von meinen gehässigen Kollegen hat Sie auf mich angesetzt?«
Jaycee machte ein fragendes Gesicht. »Ich verstehe nicht. Was habe ich mit Ihren Kollegen zu tun? Ich bin vorhin erst angekommen und jetzt sitze ich hier.«
Doc Treaver öffnete seine Arztkombination am Hals, als würde ihm warm. »Sie sind vorhin erst angekommen und heißen Jesus Christus? So wie der Typ in dem Buch?«
»Buch?«
»Ja. Es heißt Bibel und ein Teil davon handelt vom Leben und den Taten eines Jesus Christus.«
Jaycee schlug mit der Hand auf den Tisch. »Ich kenne das Buch zwar nicht, aber das ist ein Ding! Da bringen mich diese Primitiven um und dann schreiben sie über mein Leben? Was seid Ihr nur für Wesen?«
»Dann behaupten Sie ernsthaft, dieser Jesus Christus zu sein? Mit Verlaub, das war vor rund dreitausend Jahren.«
Jaycee nickte. »Das kann hinkommen. Ich war nicht früher in der Gegend und wenn mein Vater mich nicht gebeten hätte, wäre ich jetzt sicher nicht hier.«
Die Tür wurde geöffnet, ein Mann in einer Uniform kam herein und tuschelte leise mit dem Arzt. Anschließend ging er wieder.
»Man sagte mir soeben, dass die Sensoren hier im Raum Sie gescannt haben. Ihre Signaturen sind in keiner unserer Datenbanken verzeichnet. Jesus Christus, es gibt Sie nicht!«
Jaycee winkte ab. »Sensoren. Dummes Zeug. Ich habe doch gesagt, ich bin eben erst angekommen. Wie soll ich da in Datenbanken gespeichert sein? Könnte ich einen Blick in dieses Buch werfen?«
»Können Sie nicht! Wenn Sie das jetzt durchziehen wollen, geben Sie mir Beweise. Fangen wir an: Wo sind Sie geboren?«
Er überlegte. »Ich denke nicht, dass Sie das kennen. Es ist nicht einmal in dieser Galaxie ...«
»Ha! Schon reingefallen! Jesus Christus ist unten auf unserer Erde geboren, in einer kleinen Stadt namens Bethlehem.«
»Ach das. Nein, da verwechseln Sie etwas. Ja, ich war in diesem Bethlehem. Die hatten damals da etwas Stress wegen einer Zählung oder so etwas. Hat mich nicht weiter interessiert. Aber da war ein junges Pärchen von Menschen. Die Frau bekam ein Junges und ich habe bei der Geburt geholfen. Das war damals richtig ärgerlich, weil wir in so einen schmutzigen Stall mussten. Zum Glück ist alles gut gegangen. Diese Menschen waren nett. Zum Dank hatten sie den Jungen nach mir benannt. Ich fand das rührend.«
»Ich glaub es nicht.«
»Doch, das dürfen Sie ruhig glauben. Ich hab mich dann eine Weile in der Gegend umgesehen. Mein Vater hatte mir den Auftrag gegeben, mich unter sie zu mischen und zu beobachten. Nach einigen Jahren wurde mir das zu langweilig und ich begann, zum Volk zu reden. Dabei muss es endgültig zu dieser Verwechslung zwischen mir und dem Jungen gekommen sein, der denselben Namen hatte - dem aus Bethlehem.
Auf jeden Fall rannten die alle hinter mir her und ich wurde sie nicht mehr los. Sie lauschten meinen Worten und irgendwie fand ich das auch gut. Ich dachte, wieso sollen sie nicht etwas von mir lernen?«
»Und wie ging es dann weiter?«
»Steht das nicht in diesem Buch? Die Führer in dieser Gegend fanden es nicht so gut, dass ich eine große Gefolgschaft hatte. Irgendwann nahmen sie mich gefangen und am Ende töteten sie mich. Wie sollten sie auch wissen, dass das nicht so einfach funktionieren würde. Für mich war es aber eine gute Gelegenheit, die Aufgabe abzuschließen und mich auf den Heimweg zu machen.«
Der Arzt blickte sein Gegenüber fassungslos an. »Glauben Sie eigentlich selbst, was Sie mir da alles erzählt haben?«
»Ich muss das nicht glauben. Ich weiß das. Ich war dabei. Glauben Sie mir nicht? Sie haben selbst gesagt, mich gibt es eigentlich nicht. Nun?«
Doc Treaver schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Angenommen, es stimmt, was Sie sagen: Warum sind Sie dann hier?«
»Aus demselben Grund wie vor dreitausend Jahren. Weil mein Vater mich darum gebeten hat. Das alles hier ist im Grunde sein Werk. Er hat den Grundstock gelegt und er will einfach wissen, was daraus geworden ist. Ich gebe zu, einen umfassenden Eindruck habe ich noch nicht gewinnen können.«
»Wussten Sie, dass es eine Zeit gegeben hat, in der man einmal im Jahr Ihre Geburt gefeiert hat?«
»Meine Geburt? Doch wohl eher die von dem Kleinen, dem ich auf die Welt geholfen habe.«
»Na, dann eben seine Geburt. Man nannte das Weihnachten, die Geburt des Erlösers. Man bemühte sich in dieser Zeit, Frieden zu wahren und anderen Menschen eine Freude zu machen. So steht es in den Schriften. Sogar unsere Zeitrechnung geht auf dieses Ereignis zurück, sagt man.«
Jaycee lächelte breit. »Das ist so rührend von euch Menschen, auch wenn Ihr den falschen gefeiert habt. Aber die Geste ist toll. Danke dafür.«
»Wofür bedanken Sie sich?«
»Na hören Sie, fänden Sie es nicht toll, wenn ein ganzes Volk Ihren Geburtstag feiert? Macht man das heute nicht mehr?«
»Die Zeiten waren schlecht. Es gab Kriege, Hungersnöte, Unruhen und am Ende gab es nur noch wenige Gebiete auf der Erde, in denen Menschen leben konnten. Wir bauten mehr als zweihundert Jahre am Halo, dem Ring um den Planeten. Diejenigen von uns, die überlebt hatten, leben heute hier oben. Es gibt Aufzüge für Nahrung und Waren. Vieles wird auch gleich hier oben produziert.«
»Dann lebt dort unten niemand mehr von euch? Die Erde ist tot?«
»Nein, so schlimm ist es zum Glück nicht. Es gibt noch immer Menschen dort unten, aber sie leben recht einfach, betreiben meist Ackerbau und liefern natürliche Nahrung als Ergänzung zu unserem synthetischen Essen. In diesem ganzen Wandel ist auch der Brauch von Weihnachten in Vergessenheit geraten. Wie gesagt: Mein Hobby sind die alten Schriften. Wenn überhaupt, könnten Sie höchstens unten auf der Erde noch etwas über das Weihnachtsfest erfahren. Es gibt Gerüchte über kleine religiöse Sekten, die dazu einen geschmückten Baum anbeten, oder so etwas. Genau konnte ich das noch nicht ermitteln. Aber die Menschen unten auf der Erde sind auch in ihrer Entwicklung etwas zurückgeblieben.«
Jaycee überlegte. »Dann gibt es also zwei verschiedene Menschheiten? Habe ich das richtig verstanden? Oder ist das eher so ein Zwei-Klassen-Ding? Ich hab sowas bei anderen Völkern schon mal erlebt. Völlig irre, wenn sie mich fragen.«
Doc Treaver wiegte seinen Kopf. »Nein, ganz so ist es nicht. Als die Menschheit in den Ring – den Halo – umzog, wollte eine kleinere Gruppe das nicht mittragen. Sie wollte versuchen, weiter auf der Erde zu leben. Nennen sie sie einfach Traditionalisten. Sie leben von Ackerbau und Viehzucht in den Bereichen, in denen das möglich ist. Wir profitieren davon, sie dort unten aber auch, da wir sie mit Werkzeugen und technischen Hilfsmitteln beliefern.«
»Und wieso zurückgeblieben?«
»Das war vielleicht falsch ausgedrückt, aber wir halten hier oben nichts von diesen alten Bräuchen und Festen.«
»Also gibt es dieses Weihnachten eigentlich nicht mehr. Das ist sehr schade«, sagte Jaycee nachdenklich. »Wirklich schade. Und ich überlege, ob ich nicht etwas daran ändern sollte, denn der Grundgedanke von diesem Weihnachten ist etwas Gutes. Gutes sollte man bewahren.«
»Ich weiß noch immer nicht, ob sie der sind, der Sie vorgeben zu sein oder welche Macht Sie besitzen, aber das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.«
Jaycee lächelte milde. »Sie glauben mir noch immer nicht, was? Kann ich etwas tun, um diesen Glauben zu stärken?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern. »Ich wüsste nicht, was.«
Plötzlich hellte sich Jaycees Miene auf. »Vielleicht ... Mir fällt gerade eine Kleinigkeit ein, die damals, bei meinem letzten Besuch, viele Menschen glücklich gemacht hat aber auch für viel Wirbel gesorgt hat. Haben Sie hier in diesem ... Halo Lagerräume?«
»Lagerräume? Was wird das jetzt?«
»Sie wollten einen Beweis und jetzt sollen Sie ihn auch haben. Ist es möglich, mir zu zeigen, wo sich solche Räume befinden?«
Treaver schüttelte den Kopf. »Wie soll ich Ihnen das erklären? Und ich sehe auch nicht, warum ich das ...«
»Nicht mehr nötig!«, rief Jaycee und winkte ab. »Ich habe schon gefunden, was ich gesucht habe.« Er lachte und klatschte in die Hände. »Es wird Ihnen gefallen. Und ich wünsche Ihnen allen viel Spaß damit.«
Doc Treaver sah ihn verständnislos an. »Spaß? Womit? Wovon reden Sie überhaupt?«
»Sie werden es schon herausfinden. Und vielleicht glauben Sie mir ja dann. Aber jetzt werde ich Sie verlassen. Ihre Informationen über diese Weihnachtsfeiern unten auf der Erde interessieren mich wirklich. Ich werde mich damit befassen und diesen schönen Brauch wieder populär machen. Und ja, das Rad der Zeit kann niemand zurückdrehen, aber ich werde mir etwas einfallen lassen.«
Jaycee erhob sich von seinem Stuhl und reichte Doc Treaver die Hand. »Ich habe unser Gespräch sehr genossen. Ihnen verdankt die Erde, dass ich noch etwas länger bleibe als vorgesehen. Leben Sie wohl.«
Er hielt noch einmal inne und sah Doc Treaver fest an. »Sie mögen doch Fisch?«
»Ja, aber ...«
»Dann ist es gut.«
Er hob seine Hand an den Mund und rief: »Luzi, hol mich ab.«
Für einen Sekundenbruchteil erschien eine kleine rote Gestalt mit einem gehörnten Kopf, schien zu grüßen und verschwand zusammen mit Jaycee, als wäre er nie dagewesen.
Doc Treaver starrte noch minutenlang auf den leeren Stuhl. Was hatte er da eigentlich erlebt? Konnte er mit irgendjemandem darüber sprechen? Vermutlich nicht. Auf jeden Fall nahm er sich vor, mehr über diesen alten Brauch der Weihnacht in Erfahrung zu bringen. Er war noch in Gedanken versunken, als sein Armband-Kommunikator einen Anruf signalisierte.
»Ja? Treaver hier?«
»Ist dieser merkwürdige Typ noch bei Ihnen? Dieser Mann, der nirgends in unseren Unterlagen verzeichnet ist?«
»Nein, er ist weg.«
»Weg? Was meinen Sie mit ‚weg‘?«
»Er ist verschwunden. Einfach vor meinen Augen verschwunden ... Warum fragen Sie?«
»Weil wir wissen wollen, ob er etwas mit den eigenartigen Erscheinungen zu tun hat.«
Doch Treaver wurde ungehalten. »Jetzt spannen Sie mich nicht auf die Folter! Was ist los?«
»Unsere Kühlräume platzen auf einmal fast vor lauter Fischen, die darin aufgetaucht sind. Vor wenigen Minuten waren sie noch nicht da. Es sind riesige Mengen. Es reicht für Tausende von uns.«
Treaver beendete den Anruf und lehnte sich zurück. Fische? Für Tausende? Ihm fiel wieder eine Passage aus dem Buch ein. Sollte es möglich sein?
Ein Lächeln schlich sich allmählich auf seine Lippen. Vielleicht sollte er einmal nach unten auf die Erde reisen und sich nicht nur durch Bücher über die alten Bräuche informieren – dieses Weihnachten. Vielleicht war mehr daran, als sie alle dachten.
M.Stappert, 2018