- Details
- Zugriffe: 2795
1. Das Angebot
Tobias setzte sich auf, was ihm noch ein Bisschen schwer fiel, weil ihm schwindelig wurde. Als sein Kopf nach einigen Augenblicken etwas klarer wurde, bemerkte er, dass einiges an dem Krankenzimmer ungewöhnlich war. Es fehlte das heutzutage übliche Telefon. Auch ein Fernsehgerät fehlte.
Tobias wollte nach der Schwester klingeln und fragen, was mit ihm geschehen ist, doch auch ein Rufknopf für die Schwester fehlte. Nun wurde er langsam nervös. Er ließ sich vom Bett herunter gleiten und stellte sich auf die Füße. Etwas unsicher machte er sich auf den Weg zur Tür. Als er sie öffnen wollte, stellte er fest, dass sie fest verschlossen war. Lediglich durch ein kleines Sichtfenster aus Sicherheitsglas, welches in die Tür eingelassen war, konnte er hindurchsehen. Allerdings war das Einzige, was er erkennen konnte, ein leerer, weiß gestrichener Gang mit einigen Türen auf der linken Seite.
Erst klopfte er gegen die Tür, dann schlug er mit der Faust dagegen und rief, man solle ihn aus diesem Zimmer heraus lassen. Schließlich resignierte er, denn die Tür machte einen sehr soliden Eindruck und draußen auf dem Gang war nach wie vor niemand zu sehen. Erst jetzt bemerkte Tobias die Kopfschmerzen, die ihn eigentlich bereits die ganze Zeit über plagten, die er aber bis jetzt ignoriert hatte. Jetzt konnte er sie nicht mehr länger ignorieren, denn sie wurden von Sekunde zu Sekunde schlimmer. Es war, als wenn ihm jemand mit einer langen Nadel quer durch den Schädel stechen würde. Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen. Gleichzeitig überkam ihn eine merkwürdige Schwäche, sodass er sich wieder zurück zum Bett schleppte und hineinlegte.
Tobias fragte sich erneut, was mit ihm geschehen war, doch er konnte sich einfach nicht erinnern, wie er in diese Situation gekommen ist. Während er noch versuchte, die ihn quälenden Fragen zu beantworten, fiel er bereits wieder in einen tiefen Schlaf.
Als er wieder erwachte, bemerkte er, dass die Kopfschmerzen nachgelassen hatten. Er schaute sich um, doch es war noch genau so wie vorher, nur dass es inzwischen etwas dunkler im Zimmer war. Er fragte sich, wie lange er wohl geschlafen hatte. Er setzte sich im Bett auf und begann, sich nun etwas intensiver mit seiner Umgebung zu befassen. Es handelte sich vom Zuschnitt her um ein Krankenhaus-Zweibett-Zimmer. Das zweite Bett war auch vorhanden, aber offensichtlich nicht belegt, denn es war mit einer durchsichtigen Folie abgedeckt. Neben jedem Bett stand ein Beistelltisch, dessen Tischplatte verstellbar war. Gegenüber der Tür befand sich ein großes Fenster mit strukturiertem Glas, so dass man nicht erkennen konnte, was sich außerhalb des Gebäudes abspielt. Er stand auf und ging zuerst zur Tür. Sie war noch immer verschlossen. Auch das Fenster ließ sich nicht öffnen. An einer Wand stand ein mittel hoher Schrank mit 2 verschließbaren Türen. Er versuchte, eine der Türen zu öffnen, was ihm auch sofort gelang. Er schaute hinein und fand seine Straßenkleidung darin. Er fand seine Jeans, ein weißes T-Shirt, Sportschuhe und einen Rucksack. Erst jetzt blickte er an sich herunter und stellte fest, dass man ihm offenbar Krankenhauskleidung angezogen hatte.
Sofort griff er nach dem Rucksack, denn ihm fiel ein, dass er sein Handy normalerweise immer in einer der Innentaschen dieses Rucksacks aufbewahrte. Allerdings war dies diesmal nicht der Fall, wie er schon fast erwartet hatte.
Zwischen den Betten stand vor dem Fenster ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch entdeckte er ein kleines Tablett mit einer Mahlzeit. Tobias stand auf und setzte sich an den Tisch, denn sein Magen signalisierte ihm, dass er einen Riesenhunger hatte. Er hob die Abdeckhaube, die über einen Teller gestülpt war, ab und betrachtete, was ihm jemand ins Zimmer gestellt hatte, während er schlief. Mehrere Scheiben Brot, Butter , Wurst – nun es war offensichtlich ein Abendessen, wie man es auch normalerweise im Krankenhaus bekommt.
Wieder ging ihm die Frage durch den Kopf, wieso er eigentlich in einem Krankenhaus war – oder war es überhaupt ein Krankenhaus?
Obwohl er sich in einer äußerst seltsamen Situation befand, aß er seine Brote mit großem Appetit. Es würde auch sicherlich keinen Sinn machen, wenn er nicht bei Kräften bliebe.
Nach ein paar Minuten, während er aß und sich weiterhin umschaute, entdeckte Tobias in einer Ecke unter der Zimmerdecke eine kleine Kamera, die so angebracht war, dass sie den ganzen Raum erfassen konnte. Tobias erhob sich von seinem Stuhl und näherte sich der Kamera. Plötzlich wurde ihm schwindelig und er musste sich am Bett festhalten. Langsam beruhigte sich sein Kreislauf wieder, als er ein leises Wispern vernahm, dessen Ursprung er nicht entdecken konnte. Nachdem er in der einen oder anderen Richtung gelauscht hatte, schien es ihm fast, als wenn er dieses Wispern nicht mit seinen Ohren hörte, sondern als wenn der Ton direkt in seinem Kopf entstehen würde, was natürlich vollkommener Unsinn war. Aber ob nun Unsinn oder nicht, das Wispern blieb auf einem bestimmten Level ständig präsent. Tobias begann sich zu konzentrieren – vielleicht konnte er ja sogar etwas verstehen. Doch nach einigen Minuten der Konzentration gab er den Versuch auf. Wenn es sich um irgendwelche Botschaften handelte, konnte er sie jedenfalls nicht deuten. Lediglich, dass irgendetwas mit einem „B“ am Anfang war, dessen war es sich sicher. Aber was half ihm diese Erkenntnis in seiner gegenwärtigen Lage weiter.
Tobias ging zurück zum Tisch und setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Er starrte auf die Reste seines Abendessens und entdeckte, dass am Rand des Tellers ein Firmenlogo prangte. Wieso hatte er es vorhin nicht gesehen? Wahrscheinlich war er einfach noch zu verwirrt und hungrig gewesen. - Nun, verwirrt war er eigentlich noch immer.
Das Firmenlogo war eine grüne, flache Ellipse mit einem stilisierten Molekül-Modell und dem Schriftzug „BIODYNE“.
„BIODYNE“ - Das sagte Tobias irgendetwas. Er hatte diesen Namen schon einmal gehört. Wenn nur nicht dieses ständige Wispern in seinem Kopf ihn in seinen Überlegungen stören würde! - „BIODYNE“ - Dieser Name muss der Schlüssel sein. Er suchte verzweifelt nach Ansätzen in seinem Gedächtnis. - „BIODYNE“ - Was hatte er mit diesem Namen zu tun? -
Plötzlich war es, als ob jemand eine Vorhang beiseite gezogen hätte. Es fiel ihm wieder ein – doch auf was hatte er sich da nur eingelassen?
Tobias war mal wieder vollkommen pleite. Das Bisschen Geld, dass er von seinen Eltern für den laufenden Monat bekommen hatte, sollte eigentlich den Anteil seiner Miete in der Wohngemeinschaft decken. Seinen letzten Studentenjob hatte er verloren, als er zum wiederholten Mal zu spät zur Arbeit erschienen war. OK, das hatte er eigentlich selbst zu verantworten und leider wachsen die Jobs in diesen Tagen nicht an den Bäumen. Eigentlich hatte er auch sein Jurastudium in der letzten Zeit etwas „schleifen“ lassen. Wenn er sich da in der nächsten Zeit nicht bemühte, würde er seine Semesterscheine für dieses Semester sicher nicht machen können. Wie sollte er das dann seinen Eltern erklären?
Es war natürlich ein zusätzliches Pech, dass ausgerechnet jetzt auch noch sein alter VW Käfer – ein „Erbstück“ von seinem Onkel – ihn im Stich ließ. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihn noch einmal selber zu reparieren. Die Ersatzteile hatte er sich vom Schrott besorgt – und viel zu teuer bezahlt. Letztlich hatte Tobias es nicht hinbekommen. Das Auto noch immer kaputt, das Geld weg.
Jetzt saß er in der Straßenbahn und war auf dem Weg nach Hause.
Was würden wohl seine Kommilitonen sagen, wenn er ihnen eröffnen musste, dass es sich schon wieder nicht an der Miete beteiligen konnte? Er hoffte, dass sie noch einmal Verständnis für seine Lage haben würden. Allerdings ging es ihnen finanziell auch nicht so gut, dass sie ihn ständig mit durchziehen konnten. Er schuldete jetzt schon für 4 Monate seinen Anteil. Mark würde es verschmerzen können. Er stammte aus einer wohlhabenden Familie, die ihn in vollem Umfang unterstützte. Er war der Einzige in dem Trio der WG, der nicht auf einen Job angewiesen war – um ihn machte er sich keine großen Sorgen. Es war Linda, die ihm Kopfschmerzen bereitete. Er wusste, dass sie von ihren Eltern keinerlei Unterstützung zu erwarten hatte. Ihre Eltern betrieben einen kleinen Supermarkt als Familienbetrieb. Lindas Vater hatte darauf bestanden, dass sie sich als Verkäuferin hinter die Wursttheke stellt, doch sie hatte ihren Eltern eröffnet, dass sie dafür nicht das Gymnasium besucht habe und stattdessen ein Studium beginnen wolle. Ihr Vater untersagte ihr dies und stellte sich auf den Standpunkt, dass die Familie sie jetzt brauche – in diesen schwierigen Zeiten. Studieren könne sie immer noch – später. Linda gab nicht klein bei und sie zerstritt sich völlig mit ihrem Vater. Ihre Mutter versuchte immer, den Streit zu schlichten und Linda zum Einlenken zu bewegen, da sie bei ihrem Mann keine Chance sah, dass dieser von seiner einmal gefassten Meinung abging. Letztlich hatten sie sich mit ihnen völlig zerstritten, Linda verließ das Haus und begann das Studium. Unterstützt wurde sie nicht, da ihr Vater davon ausging, dass sie beizeiten nach Hause zurückkehren würde, wenn ihre Mittel zur Neige gingen. Um sich ihr Studium finanzieren zu können, kellnerte sie nahezu täglich in einer Szenekneipe. Das brachte zwar teilweise gute Trinkgelder ein, bedeutete aber auch, dass sie fast immer bis in die Nacht hinein arbeiten musste – selbst oft an den Wochenenden.
Linda hatte bereits im letzten Monat deutlich gemacht, dass sie es nicht länger einsehe, noch länger arbeiten zu müssen, um auch noch seinen Mietanteil aufzubringen. Dann müsse er entweder schleunigst einen neuen Job finden oder aber die WG verlassen, damit man sich nach einem anderen Mitglied umsehen könne.
Das traf Tobias besonders hart, denn Linda hatte es ihm seit einiger Zeit sehr angetan. Immer, wenn sie in der Nähe war, bemerkte er, dass seine Hände schweißig wurden und sich sein Puls beschleunigte. Wegen der ewigen Diskussionen über die Miete und anderer Dinge, die in der WG nicht so recht stimmten, blieb es dann auch dabei. Er hoffte immer noch, dass sich irgendwann einmal die Gelegenheit ergeben könnte und mehr daraus werden könnte.
Tobias hatte hoch und heilig versprochen, dass er das Problem in den Griff bekommen werde – und jetzt das!
Inzwischen war er an seiner Zielhaltestelle angekommen. Die letzten paar Schritte zur Felsstraße ging er zu Fuß. Dort wohnte er mit seinen beiden Kommilitonen zusammen in einer Wohnung im dritten Stock. Zu Hause angekommen blickte er an dem Mietshaus hoch, in dem er mit seinen beiden Studienkollegen vor einem Jahr eine große Wohnung gemietet hatte. Er fühlte sich in dieser Wohngemeinschaft sehr wohl. Das hatte sicherlich zu einem großen Teil mit Linda zu tun, die er sehr mochte. Ihm war sehr mulmig, als er den Hausflur betrat.
Wo sollte er wohnen, wenn ihn seine Mitbewohner wirklich vor die Tür setzen sollten. Mit gemischten Gefühlen stieg er die Stufen bis in den dritten Stock hinauf, wo sich die Wohnung befand. Er öffnete die Tür mit dem Schlüssel und trat ein.
Die Tür zu Marks Zimmer stand offen und er konnte sehen, dass Mark wie immer vor seinem Computer saß. Wahrscheinlich analysierte er wieder einmal die Aktienmärkte dieser Welt. Mark hatte von seinen Eltern einige Aktien überschrieben bekommen, damit er sich schon einmal damit beschäftigen könne. Spekulieren, kaufen , verkaufen. Irgendwann würde Mark damit sein Geld verdienen – meinte er zumindest.
Aus dem Gemeinschaftsraum klang der Fernseher. Also war Linda auch zu Hause. Tobias ging in den Gemeinschaftsraum. Linda saß auf der Couch und hatte ihre Beine hochgelegt. Im Fernseher lief eine von diesen Endlosserien, die er so hasste. Linda konnte sich diese Sendungen ständig ansehen. Sie sagte immer, sie brauchte diese Berieselung mit Serien, bei denen man nicht viel denken müsse.
Als er sie so da sitzen sah, in ihrer engen Jeans und dem bauchfreien Top, stockte ihm fast der Atem.
„Hallo Linda“ sagte Tobias.
Linda sah auf, lächelte ihn an und erwiderte:
„Auch Hallo, Tobias. Wie kommt es, dass Du schon zu Hause bist? Hattest Du nicht heute Nachmittag noch Vorlesungen?“
„Das ist schon richtig“ sagte Tobias „aber ich hatte doch diese Probleme mit dem Käfer. Die Maschine hat nun endgültig schlapp gemacht. Da war ich auf dem Schrottplatz und habe mir die Teile aus ein paar alten Wagen ausgebaut.“
„Du willst mir also sagen, dass Du den Wagen selber reparieren kannst? Hattest Du nicht immer gesagt, dass du überhaupt keine Ahnung von der KFZ-Technik hast?“ meinte Linda.
„Das ist schon richtig, aber mir fehlt einfach das Geld für eine Werkstatt – außerdem ist der Wagen ja auch schon wirklich alt. Da hatte ich mich entschlossen, es selber zu machen.“ sagte Tobias.
„Hast Du es denn hinbekommen?“ fragte Linda, „Läuft er wieder?“
„Leider nein“ bekannte Tobias kleinlaut, „ich habe den Wagen wohl endgültig ruiniert. Ich habe ihn gleich da gelassen. Jetzt wird er abgemeldet. Dann fahre ich eben wieder mit der Bahn.“
„Was ist denn mit den Teilen, die Du auf dem Schrottplatz ausgebaut hast?“ fragte Linda.
„Nun, die musste ich natürlich trotzdem bezahlen, das ist ganz schön ärgerlich! Der Kerl hat mir tatsächlich 250 € für den Kram abgenommen und jetzt bin ich vollkommen pleite!“ sagte Tobias.
„Moment mal!“ brauste Linda auf, „soll das etwa heißen, dass Du dein letztes Geld in einen Haufen Schrott investiert hast und jetzt noch nicht einmal ein fahrtüchtiges Auto hast? Deinen Job hast Du ja letztens wunderbar geschmissen, so dass Du – wie ich vermute – schon wieder nicht Deine Miete zahlen kannst? Ich habe davon allmählich die Nase voll! Ich lege mich Tag für Tag krumm, um mir das Studium zu finanzieren und muss auch noch deinen Anteil mit aufbringen. Dazu bin ich nicht länger bereit. Meinst Du etwa, es macht mir Spaß, jeden Tag bis in die Nachtstunden in dieser Kneipe zu schuften, freundlich zu sein, wenn mir nicht danach ist, mich von angetrunkenen Idioten anbaggern zu lassen? Mir reicht es!“
„Linda bitte...“ versuchte Tobias zu beschwichtigen, „ich bekomme die Sache in den Griff. Jetzt, da ich kein Auto mehr habe, brauche ich ja auch nicht mehr das Geld für die Versicherung und die Steuer. Das erhalte ich ja zurück. Wenn es schnell geht, gebe ich es Dir für den Mietanteil. Und das mit dem Job – ich versuche, so schnell wie möglich wieder etwas zu finden. Bitte Linda, ich werde meine Schulden bezahlen.“
„Nun, wir werden sehen“ meinte Linda.
Es fiel ihr immer schwer, Tobias nachhaltig böse zu sein, wenn er so zerknirscht dastand. Eigentlich war ihr Tobias immer schon sehr sympathisch gewesen – viel sympathischer als zum Beispiel Mark, der immer sehr viel Wert auf Privatsphäre und Distanz gelegt hatte. Irgendwie schaffte er es immer wieder, sie um den Finger zu wickeln, doch sie nahm sich fest vor, diesmal hart zu bleiben, wenn er seine Probleme nicht in den Griff bekam. Immer wieder stand ihm seine mangelnde Disziplin im Weg.
„Das Thema ist für mich noch nicht erledigt“ meinte Linda, „aber jetzt muss ich los zur Kneipe – mein Dienst fängt in einer halben Stunde an. Wie sieht es aus? Begleitest Du mich zum 'Buntspecht', dann muss ich nicht allein am Park vorbei? Du weißt ja, das ist um diese Zeit nicht so angenehm, dort allein herumzulaufen. Außerdem haben wir heute im 'Buntspecht' ein 'Eat-as-much-as-You-can'-Angebot. Ich weiß ja, was Du so verdrücken kannst.“
Tobias stimmte zu, griff die Jacken von der Garderobe und gab Linda Ihre. Als sie gingen, riefen sie Mark noch zu, dass sie jetzt gehen würden. Er winkte kurz, murmelte irgendetwas und wandte sich wieder seinem Computer zu.
Auf dem Weg zur Kneipe sprachen sie die ganze Zeit über Tobias Arbeitsauffassung und wie sie aus der Misere herauskommen könnten. Auch Linda hatte schon lange keine Lust mehr auf die Arbeit im 'Buntspecht', aber es war eine Einnahmequelle und sie wollte sie auch nicht aufgeben, bevor sie etwas anderes gefunden hatte. Es war einfach so, dass ihr die Doppelbelastung von Studium und Arbeit langsam an die Substanz ging. Sie einigten sich darauf, dass sie beide in der nächsten Zeit massiv nach einer Alternative Ausschau halten wollten.
Schließlich erreichten sie Lindas Arbeitsstätte und sie wurde von ihrem Chef auch gleich eingespannt, so dass sie auch keine Zeit mehr hatten, sich weiter zu unterhalten.
Das 'Buntspecht' war um diese Zeit bereits gut besucht und Tobias hatte Probleme, einen freien Platz an einem der Stehtische zu bekommen. Er bestellte sich ein Bier und warf eine Blick auf die Karte. Das Essensangebot war wirklich verlockend. Die Küche hatte einen guten Ruf, aber Tobias hatte kein Geld. Vielleicht zwei Bier, dann war es auch schon vorbei. Bekannte, die man vielleicht anpumpen konnte, entdeckte er in der Menge nicht und Linda um etwas Geld zu bitten brachte er nach den Gesprächen des frühen Abends nun wirklich nicht fertig. Er entschloss sich, das Bier auszutrinken und wieder nach Hause zu gehen. Vielleicht fand er ja noch eine Kleinigkeit im Kühlschrank, verhungern würde er jedenfalls nicht.
Tobias wollte gerade zu Linda herüber gehen, um ihr zu sagen, dass er jetzt wieder gehen werde, als sich ein Mann zu ihm an den Tisch gesellte. Er kannte ihn nicht. Er war etwa 1,80 m groß, vielleicht Mitte Vierzig und gut gekleidet. Seine Haut war gebräunt und an seinem Handgelenk hing eine Armbanduhr, die äußerst teuer aussah. Überhaupt wirkte er nicht wie ein typischer Gast des 'Buntspecht'. Der Mann lächelte Tobias an. Tobias fragte:
„Kennen wir uns? Oder müsste ich Sie kennen?“
„Nein, ich glaube nicht“ meinte der Mann, „aber das ändert sich ja vielleicht. Man kann sich ja auch kennen lernen.“
„Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen,“ erwiderte Tobias, „aber ich kann Ihnen versichern, dass ich absolut hetero bin. Also belästigen Sie mich bitte nicht weiter!“
„Oh nein, Sie missverstehen mich vollkommen,“ wandte der Mann ein, „das ist es nicht, was ich meinte. Ich meinte, dass es interessant werden könnte, wenn wir uns einmal unterhalten. Ich würde Sie gern zum Essen einladen.“
„Warum sollten Sie das tun?“ fragte Tobias.
„Ich bin einfach der Meinung, dass es sich beim Essen leichter redet – die Atmosphäre ist einfach besser.“ meinte der Mann, „Sie werden sehen, dass wir gegenseitig etwas füreinander tun können, was sich lohnt.“
Der Mann winkte Linda zu, die sich gerade in der Nähe aufhielt, und gab ihr zu verstehen, dass er für sich und Tobias gern etwas zu Essen bestellen wollte. Linda blickte Tobias fragend an, doch er zuckte nur mit den Schultern. Der Mann bemerkte diese stumme Kommunikation und fragte:
„Ihre Freundin? - Sie haben einen guten Geschmack.“
„Wir wohnen in der selben WG“ sagte Tobias.
Ihm war die ganze Sache irgendwie unangenehm, doch auf der anderen Seite überwog auch die Neugier. Wer war der Mann und was wollte er von ihm?
Linda brachte die Speisekarten und nahm anschließend die Bestellungen auf. In ihrem Gesicht stand noch immer die Frage geschrieben, was Tobias und der Mann miteinander zu tun hatten. Wieso gab der Mann Tobias ein Essen aus? War es ein Verwandter? Tobias hätte bestimmt einmal darüber gesprochen, wenn er jemanden aus seiner Verwandtschaft ausgerechnet im 'Buntspecht' treffen wollte. Sie blickte Tobias auffordernd an, doch er winkte ab und gab ihr durch eine Geste mit der Hand zu verstehen, dass sie später reden könnten.
Der Mann ignorierte dies und begann erst wieder zu sprechen, als das Essen von ihnen stand. Dann begann er:
„Ich habe Sie hier schon mehrfach gesehen, auch wenn Sie mich vielleicht nicht bemerkt haben. Sie haben Schwierigkeiten – richtig?“
Tobias sah ihn mit zusammengekniffenen Augen misstrauisch an und fragte:
„Sie haben mich bespitzelt? Mir quasi aufgelauert? Warum, was wollen Sie?“
„Nein, mein Junge,“ antwortete der Mann, „ich würde nicht 'bespitzelt' sagen. Es ist vielmehr so, dass ich ein gutes Gespür für Menschen habe, und Sie sind mir aufgefallen. Sie wirken häufig etwas niedergeschlagen, - gönnen sich selten etwas. Wahrscheinlich haben Sie keinen Job, kein Geld – vielleicht sogar Schulden. Unterbrechen Sie mich, wenn ich mich irre..“
„Das ist schon richtig“ meinte Tobias, „und Sie sind jetzt der große Wohltäter, der mich fördern will? Das kaufe ich Ihnen nicht ab.“
„Sie brauchen auch gar nichts kaufen“ meinte der Mann, „Sie sind derjenige, der etwas zu verkaufen hat.“
„Und was sollte das sein?“ fragte Tobias etwas aggressiv, da ihm die Art des Mannes allmählich auf die Nerven ging, „mir ist nichts bekannt, was ich verkaufen und für Sie interessant sein könnte.“
„Ich gebe Ihnen erst einmal meine Karte“ sagte der Mann, und schob Tobias eine Visitenkarte zu.
'Dr. Berger' stand darauf und 'BIODYNE', sowie eine Telefon- und eine Faxnummer. Die Adresse fehlte vollkommen. Tobias starrte auf die Visitenkarte und drehte sie in seinen Händen.
„Nun Dr. Berger“ sagte Tobias schließlich, „Wer oder was ist BIODYNE und was will diese Firma von mir?“
Dr. Berger nahm einen Schluck von seinem Wein, den er sich zu seinem Essen bestellt hatte und begann zu erklären:
„BIODYNE ist eine noch nicht sehr bekannte Firma, die Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Optimierung biologischer Systeme leistet. Man kann sich darunter etwa vorstellen, dass wir Präparate entwickeln, die die Leistungsfähigkeit von Menschen über das normale altersbedingte Maß hinaus gewährleisten.“
„Was soll ich mir darunter vorstellen? Etwa Unsterblichkeit?“ fragte Tobias spöttisch.
Dr. Berger lächelte etwas überheblich und erwiderte:
„Nein, das sicherlich nicht, aber denken Sie einmal darüber nach, wie es bei Ihnen weitergehen wird. Sie sind noch sehr jung – das wird nicht immer so sein. Bereits nach Überschreiten des 30. Lebensjahres beginnt in Ihrem Körper der Abbau von Ressourcen. Zunächst merkt man davon nichts, doch 10 Jahre später werden Sie plötzlich feststellen, dass die Kondition nachlässt, vielleicht auch Ihre geistige Konzentration. Bei manchen tritt dieser Effekt auch erst viel später auf, aber er wird auftreten. Jeder biologische Organismus ist eine Zeitbombe. Was aber wäre, wenn es gelänge, diesen Verfall an der Wurzel zu stoppen – quasi dem Körper Signale zu senden, die ihm suggerieren, dass es noch nicht Zeit ist, mit dem Verfall zu beginnen – in einfachen Worten ausgedrückt. Man würde erreichen können, dass der Mensch seine jugendliche Leistungsfähigkeit bis zum Ende seiner natürlichen Lebensspanne bewahren könnte.“
Tobias überlegte einen Moment, dann entgegnete er:
„Sie sprechen von natürlicher Lebensspanne. Betreiben Sie nicht Raubbau am Körper? Wie sieht die Lebenserwartung nach Ihrem System aus? Ich glaube kaum, dass die Menschen damit zufrieden wären, wenn ihre 'ewige Jugend' und ihr Leben nach 60 Jahren vorbei wäre...“
„Moment!“ fuhr Dr. Berger dazwischen, „Sie sprechen von Unsterblichkeit und ewiger Jugend, nicht ich! Es geht hier um die Stabilisierung und Optimierung der internen Körperchemie – das ist etwas ganz anderes.“
„Ich nehme das mal als gegeben hin“ sagte Tobias, „trotzdem frage ich mich, warum Sie sich die Mühe machen, mir das alles zu erklären. Ich bin sicherlich nicht in der Lage und willens, Ihr Präparat zu kaufen. Wie sie schon ganz richtig bemerkten, - ich bin noch sehr jung.“
Er schob die Visitenkarte wieder über den Tisch zu Dr. Berger, der sie jedoch wieder zurück schob.
„Ich will deutlicher werden.“ sprach Dr. Berger, „Das Präparat, von dem ich sprach, ist noch nicht auf dem Markt. Wir sind jetzt so weit, dass es am Menschen getestet werden muss, bevor wir die Zulassung für den deutschen Markt und den Weltmarkt beantragen können. Das Mittel muss am jungen Menschen eingesetzt werden, da es nur bei Einsatz im noch jungen Körper den gewünschten Effekt erzielen kann. Es kann keine Wunder vollbringen. Wenn der Körper erst in die Phase des allmählichen Verfalls eingetreten ist, wirkt es lediglich wie ein Placebo – ist also vollkommen wirkungslos. Aus diesem Grunde sind wir an jungen Menschen wie Ihnen interessiert, die bereit sind, ihren Beitrag zu einer bahnbrechenden Entwicklung zu leisten. Es würde auch nicht Ihr Schaden sein, wenn Sie sich entschließen könnten, uns zu unterstützen.“
„Sie wollen mich als Versuchskaninchen?“ fragte Tobias entgeistert, „das kommt überhaupt nicht in Frage! Ich werde doch nicht irgend ein Zeug einnehmen, das bisher vielleicht gerade mal an Mäusen ausprobiert wurde. Suchen Sie sich dafür bitte jemand anderen! Warum veröffentlichen Sie nicht eine Zeitungsannonce? Es wird sich doch sicherlich jemand für Ihr Angebot interessieren!“ Für einen kurzen Augenblick schaute Dr. Berger etwas säuerlich drein, dann fuhr er fort:
„Ich will ganz offen zu Ihnen sein: Wir sind in einer schwierigen Lage. Unsere Konkurrenz kann in einigen Monaten möglicherweise unseren heutigen Forschungsstand erreicht haben. Auf der anderen Seite dauert es noch Monate, bis wir von den Behörden grünes Licht für Humanversuche erhalten werden. Wir wenden uns daher inoffiziell an eventuelle Interessenten. Ich kann und will Sie nicht zu Ihrem Glück zwingen, aber die Firma wird sich nicht kleinlich zeigen. Ich bin ermächtigt, Ihnen auf der Stelle ein Stipendium für ein beliebiges Studium anzubieten, zuzüglich eines großzügigen monatlichen Taschengeldes. Sie wären alle Ihre finanziellen Sorgen los, oder? Natürlich gilt diese Vereinbarung nur, wenn Sie nach den ärztlichen Voruntersuchungen für uns in Frage kommen.“
Dr. Berger blickte Tobias erwartungsvoll an. Er spürte den inneren Kampf des jungen Mannes. Der Köder war ausgeworfen.
Tobias wusste nicht, was er sagen sollte. Ein Versuchskaninchen? Eigentlich hörte sich die Sache ja ganz vernünftig an. Stabilisierung der internen Körperchemie. Was wäre so falsch daran? Vielleicht barg die Sache aber auch Gefahren, die er jetzt noch nicht kannte. Er würde ein Stipendium von der Firma BIODYNE erhalten – und noch ein Taschengeld. Es war verlockend. Der finanzielle Druck wäre ein für alle Mal weg. Er brauchte noch weitere Informationen.
„Was meinen Sie mit ärztlichen Voruntersuchungen? Ist die Sache gefährlich für mich? Gibt es bereits Versuchskaninchen wie ich eines wäre und wie geht es ihnen? Kann ich mich mit ihnen unterhalten?“ fragte er Dr. Berger. Dieser antwortete:
„Nein, bisher gibt es noch keine Humanversuchsreihe. Sie wären der Erste. Aber Sie brauchen sich da keine Gedanken machen, die Behandlungen sind nicht wirklich gefährlich für Sie. Die Voruntersuchungen sind nur notwendig, um die Gefahr einer allergischen Reaktion auszuschließen. Denn das wäre das einzige Argument gegen Ihre Behandlung, wenn Sie gegen diverse Substanzen allergisch reagieren würden. Doch das testen wir vorher aus. Wenn dann alles in Ordnung ist, kann es losgehen. Sie müssen allerdings mit einer Behandlungsdauer von bis zu zwei Jahren rechnen. Eine Woche müssten Sie dazu in unserer Firmen-Klinik bleiben. Die übrigen Behandlungen erfolgen dann ambulant. Ich will Sie jetzt auch nicht länger mit Details verwirren. Überschlafen Sie die Sache noch einmal in Ruhe und rufen mich dann morgen – sagen wir gegen zehn Uhr – an. Meine Karte haben Sie ja. Wenn Sie mein Angebot annehmen wollen, schicke ich Ihnen einen Wagen, der Sie abholt. Ich würde mich freuen, wenn wir uns morgen wiedersehen würden.“
„Sagen Sie, Dr. Berger, warum fehlt auf Ihrer Visitenkarte die Adresse?“ fragte Tobias, dem die ganze Sache doch noch immer etwas merkwürdig vorkam.