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Für mich war es ein absolutes Abenteuer. Vorher war ich nur selten über die Grenzen meiner Heimatstadt Lahti hinausgekommen. Nicht, dass ich durch Ängste belastet wäre, die mich daran gehindert hätten. Schließlich hatte ich ja auch mein Psychologiestudium in Helsinki absolviert und während der ersten Jahre meines Berufslebens hatte ich es genossen, genügend Geld zu besitzen, um mir die Welt anzuschauen. Aber am schönsten ist es halt in meiner geliebten Heimatstadt, wo meine Familie lebte, wo ich meine Freunde hatte.
Was trieb mich nur hierher? Was haben die Menschen überhaupt hier zu suchen – Lichtjahre vom Heimatplaneten Erde entfernt?
Ich griff nach der Hochglanz-Broschüre, die man mir schon auf der Erde gegeben hat, bevor ich meine erste Etappe zur Transportstation im Orbit angetreten habe.
Silas IX wäre ein etwa erdgroßer, trotz seiner geringen Größe, mit einer Methan-Ammoniak-Atmosphäre bedeckter Planet, stand dort geschrieben. Die durchschnittliche Temperatur betrug im Jahresmittel etwa -150 Grad Celsius. Na, Prost Mahlzeit.
Ein Geräusch ließ mich hochfahren. Das Schott, das die Ankunftshalle mit dem Rest der Transportstation verband, wurde geöffnet, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau in einer Piloten-Kombination kam herein. Mit einem höflich wirkenden Lächeln trat sie auf mich zu und reichte mir die Hand.
»Hallo Dr ...«, angestrengt blickte sie auf das Namensschild auf meiner Brust. Ratlosigkeit machte sich auf ihrem Gesicht breit.
»Riivo Tuoinonen«, vollendete ich für sie. »Aber Sie können mich Riivo nennen. Ich weiß, dass den Meisten finnische Namen nicht glatt über die Zunge gehen.«
Man konnte ihr die Erleichterung förmlich ansehen. Das nachfolgende Lächeln schien nun echt.
»Ich bin Lynn Bowers, Ihr reitender Götterbote«, sagte sie. »Ich nehme Sie mit hinunter zur Station. Wie fühlen Sie sich?«
»Wie man sich halt fühlt, wenn man in seine atomaren Bestandteile zerlegt wurde, um über acht Lichtjahre gefaxt zu werden.«
Lynn lachte. »Seien Sie froh, dass wir heute solche Möglichkeiten besitzen. Früher wären Sie eingefroren worden, um Jahre später hier wieder aufgetaut zu werden. Bei diesem Verfahren hatte es immer auch Ausfälle gegeben – Reisende, die nie wieder wach wurden.«
Ich schluckte hörbar und folgte ihr zu ihrem Shuttle-Flieger. Das Shuttle war ein Standardmodell, wie es von allen Stationen verwendet wurde, die auf Planeten mit einer Atmosphäre eingerichtet worden waren.
Lynn startete das Triebwerk und legte von der Transportstation ab. Die Transportstationen waren im Grunde riesige Sende- und Empfangsanlagen, die aus physikalischen Gründen außerhalb des direkten Schwerefeldes eines Planeten betrieben werden mussten.
Ich hatte mein Unwohlsein nach der Rematerialisierung im Empfänger fast überwunden, als Lynn den Flieger im Sturzflug auf die gelbe Kugel unter uns zusteuerte. Unwillkürlich hielt ich mich fest, was bei Lynn wiederum für Erheiterung sorgte.
»Mann kann ja dort unten überhaupt nichts erkennen«, sagte ich.
»Das ist bei dieser Atmosphäre und den Stürmen auch nicht zu erwarten. Wir können immer nur nach unseren Instrumenten fliegen.«
»Stürme?«, fragte ich. »Sind die für uns gefährlich?«
Lynn zuckte mit den Schultern.
»Wie man’s nimmt.«
»Weshalb hat man mich überhaupt angefordert?«, fragte ich. »Man war in Baikonur sehr sparsam mit Informationen.«
»Vermutlich wollten sie nicht, dass sich etwas herumspricht«, sagte Lynn. »Wir haben hier bisher keinen Psychologen und dafür ein ernstes Problem. Der Chief wird Ihnen sicher noch mehr dazu sagen können, aber ich denke nicht, dass es schadet, wenn ich Ihnen erzähle, dass wir seit einigen Monaten merkwürdige Todesfälle zu beklagen haben.«
»Todesfälle? Und dafür brauchen Sie hier einen Psychologen? Das müssen Sie mir erklären.«
Lynn ließ mich einen Moment lang schmoren, als sie durch das Eintauchen in die gelbe Brühe der Atmosphäre abgelenkt war. Jetzt kam es genau darauf an, die Instrumente zu beobachten.
»Ok, jetzt sind wir genau auf Kurs«, sagte sie. »Wir haben das ILS-Signal von der Station. Ab jetzt läuft es automatisch. Wo waren wir stehen geblieben?«
»Die Todesfälle«, sagte ich. »Wofür braucht man da einen Psychologen?«
»Weil es in allen Fällen Selbstmorde waren.«
»In allen Fällen?«
»Ja.«
Ich sah sie forschend an, doch sie starrte konzentriert auf ihre Instrumente. »Von wie vielen Todesfällen reden wir hier?«
Sie schien im Moment nicht auf mich zu achten, aber ihre Äußerung hat mich neugierig gemacht.
»Aber was kann ein Mann wie ich dagegen tun?«, fragte ich. »Gab es vorher Anzeichen, die einen Selbstmord befürchten ließen? Wäre eine Behandlung möglich gewesen?«
Lynn kaute an ihrer Unterlippe.
»In ein paar Fällen sicher«, sagte sie. »Die Leute wurden immer schweigsamer und sonderten sich ab. In anderen Fällen kam es für uns vollkommen überraschend.«
»Das klingt ja fast, als würden die Leute depressiv.«
Ich blickte durch die Frontscheibe in dieses gelbe Wallen – das Einzige, was man von dieser Welt sehen konnte.
»Was treiben Sie hier eigentlich?«, fragte ich. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, die Broschüren zu studieren.«
»Kupfer«, sagte Lynn. »Wir bauen Kupfer ab. Vor einigen Jahren stellte eine Forschungsexpedition fest, dass es hier auf diesem Planeten gigantische Vorkommen von fast elementarem Kupfer gibt. Ein Geschenk des Himmels, da der Bedarf an diesem Element auf der Erde ins Unermessliche gestiegen ist.«
»Hat es vorher eigentlich schon einmal solche Fälle von Depressionen gegeben?«, wollte ich wissen. »Denn, wenn ich mir das da draußen ansehe, kann ich es schon verstehen.«
»Machen Sie keine Scherze damit!«, sagte Lynn ernst. »Die Situation ist wirklich kritisch. Aber wenn es sie interessiert: Der erste Selbstmord geschah vor genau sechs Monaten.«
»Was hat sich denn vor sechs Monaten geändert? Es muss doch etwas geschehen sein, das anders ist, als vorher.«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte Lynn. »Sie sind der Psychologe.«
So kam ich nicht weiter. Wir verbrachten den Rest des Fluges schweigend. Erst im allerletzten Moment schälten sich Silhouetten von Türmen und Gebäuden aus den gelben Schwaden. Lynn flog das Shuttle direkt in eine große Halle hinein und eine halbe Stunde später, als die Luft durch eine Sauerstoff-Atmosphäre ersetzt worden war, konnten wir den Flieger verlassen. Eine beißende Kälte schlug uns entgegen und wir beeilten uns, in die schützende Wärme der Station zu kommen. Die Luft stank penetrant nach faulen Eiern, was mir den Atem stocken ließ. Vermutlich waren es Reste der Außenluft. Lynn schien es überhaupt nicht zu bemerken.
Mein erstes Zusammentreffen mit dem Chief war nicht besonders hilfreich für mich. Er begrüßte mich, brach sich an meinem Namen – wie für Nicht-Finnen üblich – die Zunge und verwies mich an Lynn, die – wie ich nun erfuhr – nicht nur Shuttle-Pilotin war, sondern auch Astronomin. Nur gab es für dieses Fachgebiet in dieser trüben Brühe wenig Einsatzmöglichkeiten. Es war jedoch angenehm, mit jemandem zusammenzuarbeiten, die einen ähnlichen Bildungsstand hatte wie ich. Nach einigen anfänglichen Missverständnissen kamen wir gut miteinander aus und verbrachten viel Zeit zusammen. Ich sprach mit vielen der Mitarbeiter der Station und isolierte einige, die tatsächlich Anzeichen von Depression zeigten. Ich konnte mir jedoch keinen Reim darauf machen, wie es dazu kam. Weitere Selbstmorde gab es allerdings nicht, vermutlich auch bedingt durch die Therapiestunden, die ich mit den, meiner Ansicht nach, gefährdeten Personen durchführte. Lynn war meist dabei und machte sich Notizen, die wir später gemeinsam analysierten. Sie war sehr interessiert an Psychologie, was mich überraschte. Schließlich lag ihr Fachbereich meilenweit von meinem entfernt. Aber sie fragte viel, und ich war mehr als bereit, ihre Fragen zu beantworten. Lynn war eine angenehme Kollegin und es machte mir Freude, sie in die Grundzüge der Psychologie einzuweihen.
Im Gegenzug erzählte sie mir häufig Wissenswertes über das Sonnensystem der Sonne Silas, mit ihren zwölf Planeten. Ich hörte ihr gern zu, da sie diese Informationen stets interessant verpackte und eine Art hatte, dass man ihr einfach zuhören musste.
Wochen später nahm Lynn mich beiseite und meinte: »Riivo, wir müssen miteinander reden. Du hast dich verändert und das gefällt mir gar nicht.«
»Was meinst du, Lynn?«
»Wir arbeiten nun schon seit vielen Wochen zusammen und ich habe viele Menschen gesehen, die leichte oder schwerere Depressionen entwickelt hatten. Ich habe das Gefühl, dass du auf dem besten Weg bist, es ihnen gleich zu tun.«
Diese Eröffnung fuhr mir in die Glieder. War ich selbst auch gefährdet? Noch nie hatte ich ein Problem damit gehabt. Ich war eigentlich immer ausgeglichen. Warum also sollte ich plötzlich depressiv werden? Ich fragte sie, wie sie darauf kam. Ich entdeckte an mir keine Anzeichen. Andererseits ist ein Psychologe auch nicht in der Lage, sich selbst zu therapieren. Ich habe Lynn in einige Grundzüge eingeweiht, aber dadurch wurde sie nicht zu einer Spezialistin. Trotzdem: Irgendetwas schien sie zumindest zu beunruhigen.
Ich musste dieses Rätsel einfach lösen, bevor noch mehr Menschen davon befallen waren. Warum – verdammt noch einmal – trat der erste Fall ein halbes irdisches Jahr vor meinem Eintreffen auf und warum wurden es dann sehr schnell so viele Erkrankte? Es musste einen Grund dafür geben – eine plausible Erklärung.
Lynn sah mich die ganze Zeit über prüfend an. Ich winkte ab.
»Keine Angst, ich denke nur nach! Ich muss etwas übersehen haben.«
Es sollte jedoch noch Tage dauern, bis ich dem Geheimnis auf die Spur kam, obwohl ich die Lösung im Grunde die ganze Zeit über vor mir gehabt hatte. Ich überlegte, wie es denn auf der Erde war. Meine Praxis in Lahti. Krankheiten ließen sich nicht planen, am allerwenigsten psychische Erkrankungen. Es gab Monate, in denen ich so wenige Patienten hatte, dass ich froh war, von Zeit zu Zeit Vorträge halten zu können, damit etwas Geld hereinkam, um die Rechnungen zu bezahlen. Dann wiederum gab es Monate, in denen ich kaum noch Termine für meine Patienten frei hatte. Der Winter in Lahti war lang und dunkel. Das konnte den Menschen schon aufs Gemüt schlagen.
Plötzlich hatte ich eine Idee.
»Lynn, du meine allerliebste Astronomin!«, rief ich aus.
Lynn sah mich mit hochgezogenen Brauen an und ließ ihr Buch sinken, in dem sie las.
»Was soll das jetzt werden?«, fragte sie.
»Du hast mir schon so viel über dieses Sonnensystem und seine Planeten erzählt. Ich glaube, wir haben die ganze Zeit über Etwas übersehen. Dieses ganze Dutzend Planeten, das die Sonne Silas umkreist … Wie umkreisen sie das Zentralgestirn? Irgendwie, oder gibt es eine Struktur?«
»Nun, sie bleiben weitgehend in einer Ebene – wie in unserem heimatlichen Sonnensystem auch. Wir nennen eine solche gedachte Ebene ‘Ekliptik’.«
»Ekliptik! Genau!« Ich schlug mir mit der Hand auf die Schenkel.
»Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt, Riivo?«, fragte Lynn beunruhigt.
»Nein, ganz und gar nicht! Ich glaube, ich habe die Lösung. Silas IX hat doch eine fest stehende Rotationsachse – wie jeder Planet. Wie steht sie?«
»Du meinst, ob sie gegen die Ebene der Ekliptik geneigt ist? Ja, das ist sie. Es dürften etwa 35 Grad sein.«
»Dann gibt es hier – in dieser gelben Suppe – auch Jahrezeiten, oder nicht?«
»Natürlich gibt es Jahreszeiten. Sie dürften sogar, wegen der starken Neigung, recht deutlich sein«, sagte Lynn. »Allerdings darfst du nicht erwarten, dass es irgendwann da draußen klarer wird, als jetzt.«
Ich ging zu ihr hinüber.
»Darum geht es auch nicht. Silas IX ist einer der äußeren Planeten. Er hat eine Umlaufbahn, die für eine komplette Umkreisung der Sonne viel länger braucht, als ein irdisches Jahr, richtig?«
»Es sind genau siebzehn Jahre«, bestätigte Lynn.
»Wann hat hier der Winter begonnen?«, fragte ich. »Du weißt, ich bin Finne. Mein Land ist im hohen Norden der Erde. Im Winter wird es dort an einigen Orten am Tage überhaupt nicht mehr hell. Während dieser Zeit platzt meine Praxis vor Patienten aus allen Nähten.«
Lynns Miene hellte sich auf einmal auf.
»Das ist es!«, rief sie aus und lief zu ihrem Computer hinüber.
Nach kurzer Zeit hatte sie eine Graphik aufgerufen und zeigte mit dem Finger auf eine Stelle am Bildschirm.
»Er hat etwa ein halbes Jahr vor deinem Eintreffen begonnen«, sagte sie. »Ich werd’ verrückt.«
»Das ist des Rätsels Lösung!«, rief ich aus. »Die Menschen sehen zwar nichts dort draußen, aber der Organismus reagiert auf die vorherrschende Jahreszeit. Sie haben eine ausgewachsene Winterdepression. Dagegen kann man etwas unternehmen. Die ganze Mannschaft hier muss einfach ein Präparat dagegen einnehmen, so lange der Winter auf diesem Planeten eben dauert.«
Ich war glücklich, dass ich die Lösung endlich gefunden hatte, und umarmte Lynn stürmisch. Sie ließ meinen Ausbruch über sich ergehen und lachte.
Bis zu meiner endgültigen Abreise vergingen noch Wochen, doch die Aussicht, bald wieder einen blauen Himmel zu sehen oder auch nur eine irdische Stadt wie Lahti, hielt mich aufrecht. Schließlich flog mich Lynn wieder zur Transportstation hinauf, die um Silas IX kreiste. Der Abschied von Lynn fiel mir schwerer als gedacht. Vielleicht war es doch nicht nur Gewöhnung und die Arbeit gewesen, die uns verbunden hatte. Auch Lynn machte ein betretenes, trauriges Gesicht.
»Na dann, es wird Zeit für mich«, druckste ich herum, »der Transport muss innerhalb der nächsten zehn Minuten erfolgen. Sie haben mir nur ein kleines Zeitfenster zugebilligt.«
»Ich weiß«, sagte sie, »geh nur.«
Ich gab ihr etwas verlegen die Hand und stellte mich in die Sendekammer. Bevor sich das Schott schloss, rief Lynn plötzlich:
»Riivo! Mein Vertrag läuft noch ein Jahr. Dann komme ich nach Hause. Darf ich dich dann in Lahti besuchen kommen?«
Ich musste lächeln. Mein Herz machte einen Satz.
»Ich wäre dir böse, wenn du nicht kämst!«, rief ich zurück und warf ihr eine Kusshand zu. »Ich werde warten. Es würde mich sehr glücklich machen.«
Mehr konnten wir nicht sprechen, da das Schott sich endgültig schloss. Ich konnte Lynn noch durch das kleine Fenster, welches man in das Metall eingelassen hatte, winken sehen. Plötzlich ärgerte es mich, dass ich mich nicht mit einem richtigen Kuss von ihr verabschiedet hatte.
Ich war mir nicht sicher, aber für einen Moment glaubte ich, Tränen auf ihren Wangen zu sehen, doch dann löste der Transporter aus und ich befand mich auf dem Heimweg.